"Die Präsenzdominanz ist ein großes Problem in Deutschland"
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Das Bundesbildungsministerium hat Leitlinien für den Schulbetrieb unter Corona-Bedingungen vorgestellt. Schulgründerin Ulrike Kegler findet das gut. Sie fordert aber, Schule anders als in Klassenraum und Kohorte zu denken - auch über die Pandemie hinaus.
Seit sechs Wochen sind die Schulen weitgehend geschlossen. Über acht Millionen Schülerinnen und Schüler sollen wie schon im Frühjahr letztes Jahr wieder daheim lernen. Das ist eine riesige Herausforderung für die Kinder- und Jugendlichen, aber auch für die Eltern. Nun hat Bundesbildungsminsterin Anja Karliczek (CDU) Leitlinien auf wissenschaftlicher Grundlage präsentiert, für die auch Vertreter der Betroffenen gefragt wurden, von der Schülervertretung über die Elternvertretung bis zum Schulleiterverband.
Abgestufte Reaktion auf das Infektionsgeschehen
Der Leitlinie zufolge gilt, dass Schulen auch in Pandemiezeiten offenbleiben können, sofern alle Hygienevorkehrungen streng eingehalten werden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterscheiden zudem Lagen mit einem mäßigen, einem hohen und einem sehr hohen Infektionsgeschehen und schlagen entsprechend abgestufte Reaktionen vor.
Die Kinder sollen nach der Wiederöffnung von Schulen Alltagsmasken tragen, Sportunterricht soll ebenso wieder stattfinden wie Musikunterricht, bei dem aber auf Singen und das Spielen von Blasinstrumenten verzichtet werden soll. Bei hohem Infektionsgeschehen soll es weiterhin Einschränkungen geben, etwa Unterricht nur für bestimmte Jahrgänge und halbierte Klassen.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, in der "Länderangelenheit Schule" nicht zuständig, betont, die Leitlinie sei keine Entscheidungsgrundlage dafür, ob Schulen wieder geöffnet werden sollen: "Aber wenn, dann gibt die Leitlinie vor, wie wir den Schulbetrieb wieder öffnen können."
Leitfaden gibt den Schulen etwas an die Hand
Ulrike Kegler hat in Potsdam eine Montessori-Schule aufgebaut, sie war Schuldirektorin und sie spricht und schreibt über das Thema Schule. Kegler findet gut, dass es einen evidenzbasierten Leitfaden gibt, schon allein, weil damit eingedämmt werde, was man unter Floskel "Ich finde aber, das müssten wir so und so machen" zusammenfassen könne.
Auch der Gast in der Mittagssendung Studio 9 - der Tag mit...", Albrecht von Lucke, hebt das hervor: Eine Leitlinie habe "mehr als bloß beratenden Charakter von der einen Seite", das sei wichtig, "um Schulen etwas an die Hand zu geben". Das sei auch wichtig, weil alle Interessengruppen ihre Interessen geltend machten und alle so etwas wie eine Planbarkeit wollten.
Ulrike Kegler bemängelt allerdings, dass weiter in der Kohorte und in der Klassengröße gedacht werde und nicht individueller: "Das ist eines der großen Probleme im deutschen Schulsystem – die Präsenzdominanz, die war ja auch vorher schon da. Alle müssen immer zur selben Zeit das Gleiche machen. Und das ist ein Konzept aus dem letzten Jahrhundert."
Online und Outside
Sie verstehe, das Kinder und Jugendliche ihre Freunde vermissten: "Was ihnen am meisten fehlt, das sind ihre Freunde. Stellen Sie sich mal vor, Sie sind jetzt 13 oder 14, wo der Trend weg von Zuhause geht, und sie können niemanden sehen." Das sei für die Schüler ebenso ein Desaster wie für die Eltern. Kegler nennt Alternativen dazu: "Es müssen nicht alle zur gleichen Zeit in die Schule, sondern man könnte eben kleinere Gruppen in die Schule holen, was es im Wechsel Unterricht auch passiert."
Und neben Online-Unterricht – "da hat es einen wahnsinnigen Schub gegeben, obwohl das immer noch schwierig ist" – könne es auch draußen Unterricht geben: Online und Outside, bringt es Kegler auf den Punkt. "Wieso nicht auf dem Schulhof, mit ein paar Kindern? Wieso nicht an anderen Orten in der Stadt, die leer stehen?"
Auf diese Weise hätte man einen stabilen sozialen Kontakt erhalten können, meint sie. "Das war nicht kreativ genug in der ersten Phase", und im Sommer sei auch nicht sehr viel getan worden, als ob es vorbei wäre, resümiert Kegler. "Und dann findet jetzt dieser zweite Lockdown eigentlich genauso statt wie der erste – da hat sich nichts verändert."
Tiefeingebranntes Bild von Schule
Sie sieht die Ursache in der Schwerfälligkeit des deutschen Bildungssystems. "Es tut sich einfach zu wenig und viel zu langsam. "Schule kann immer nur der Klassenraum sein. Im Fernsehen sehen sie immer das gleiche Bild. Die Kirchenordnung auf die Tafel und die hochgestellten Stühle."
Das Bild von Schule im geschlossenen Raum sei tief eingebrannt, aber Schule könne nicht mehr nur im geschlossenen Raum stattfinden, meint die Pädagogin. Schule sei auch "unterm Tisch" und in den Handys der Kinder. "Schule muss sich öffnen und muss in die in die Gesellschaft rausgehen." Das gehe virtuell und in Präsenz an anderen Orten – es finde allerdings sehr wenig statt und werde auch in den Planungen zu wenig bedacht: "Man geht nur daraufhin zu sagen: Wann können die Kinder wieder alle in die Schule am Tisch sitzen und das gleiche zur gleichen Zeit lernen"
(mfu)