Geläuterte Abbrecher
Viele Jugendliche schwänzen regelmäßig den Unterricht. In der Lernwerkstatt "Multimedia" in Dortmund werden sie aufgefangen - und auf ein schulisches Comeback vorbereitet. Wir haben zwei Jugendliche dabei begleitet.
Donnerstagvormittag: Anstatt in der Schule zu sein, verbringen sieben 14- bis 16-jährige ihre Zeit in der Lernwerkstatt "Multimedia" in Dortmund. Ein Projekt für Schulschwänzer. Hier lernen sie den verantwortungsbewussten Umgang mit Medien und sozialen Netzwerken. Vivien und Alexandra sind zwei von ihnen. Die höflichen Mädchen erzählen, wie sie die letzten Monate verbracht haben.
Vivien: "Ich habe viel gechillt, war mit Freunden draußen, am Dortmunder Hauptbahnhof und halt auch mit Alkohol und so und ja, bin auch in falsche Kreise gerutscht. Und ja, so was halt."
Alexandra: "Ich war zu Hause ab und zu mal, wenn meine Mama und mein Papa nicht da waren. Dann war ich auch mal draußen mit der Clique sozusagen. Ja und wie das dann so gekommen ist, bin ich dann geflogen."
Alltagsbeschreibungen, die typisch sind für Schulverweigerer. Aber: jeder von ihnen hat seine ganz persönlichen Gründe für’s Schwänzen.
Alexandra: "Weil ich mit meinen Lehrern nicht klargekommen bin, weil ich familiäre Probleme hatte. Dann bin ich halt einfach nicht mehr klar gekommen, dann bin ich auch nicht mehr hingegangen. War jetzt nicht eine lange Zeit, aber ab und zu mal."
Vivien: "Ich habe ganz lange schlechte Erfahrungen in der Schule gemacht, ich bin extremst gemobbt worden, bin fertig gemacht worden in der Schule und habe dann die Kraft dazu nicht mehr gehabt, zur Schule zu gehen."
So unterschiedlich wie die Gründe fürs Schwänzen sind auch die Lebenswege der Jugendlichen hier in der Lernwerkstatt. Vom Aufwachsen im Problemviertel bis hin zum gutbürgerlichen Vorort. Vom Gymnasium bis zu Förderschulen. Der tägliche Unterricht hier bei dem Projekt soll alle gleichermaßen darauf vorbereiten, demnächst wieder regelmäßig zur Schule zu gehen. Und das wollen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sagt Katrin Vinogradov, die Betreuerin der Lernwerkstatt.
Erst eine Tagesstruktur finden
Katrin Vinogradov: "Also das passiert natürlich nicht von heute auf morgen. Erst mal ist wichtig, dass die überhaupt wieder ankommen, eine Tagesstruktur erfahren und auch erst mal wieder zur Ruhe kommen und sehen so: Es gibt noch andere Jugendliche, denen ist das gleiche widerfahren und jetzt kann ich daran arbeiten, was ist denn passiert? Warum bin ich nicht mehr in die Schule gegangen? Und auch wieder Lust und Spaß haben am Lernen."
Mit diesem Ansatz hat die Dortmunder Lernwerkstatt in den meisten Fällen Erfolg. Aber natürlich nur bei den Jugendlichen, die auch tatsächlich kommen. Solche Projekte erreichen aber längst nicht alle Schulschwänzer. Zumal niemand deren genaue Anzahl kennt. Schätzungen zufolge gehen zwischen 100 und 500 Tausend Schüler bundesweit fast gar nicht mehr zum Unterricht. Und das, obwohl in Deutschland eine strenge Schulpflicht besteht. Wer schwänzt, wird in vielen Gemeinden vom Ordnungsamt abgeholt oder muss Bußgeld bezahlen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) können diese Bußgelder bis zu 5000 Euro betragen. Wer nicht zahlen will oder kann, muss stattdessen Sozialstunden ableisten. Katrin Vinogradov findet diese strengen Maßnahmen sinnvoll.
Katrin Vinogradov: "Also wenn die Schulen schnell handeln und auch gucken: Wie gehen wir mit unseren schulverweigernden Jugendlichen um und welches Regelwerk haben wir, wird das Bußgeld sehr frühzeitig angesetzt und an entweder die Eltern alleine oder die Jugendlichen geschickt. Und das ist auch ein Instrument, was wirken kann, um Jugendliche wieder in die Schule zu bekommen."
Einige Kilometer weiter sitzt Sylvia Löhrmann in einer anderen Welt: Ein verglaster Neubau in Düsseldorf, auf den Tisch des Besprechungszimmers hat eine Mitarbeiterin frische Blumen gestellt. Sylvia Löhrmann ist Grünen-Politikerin und Schulministerin in NRW. Den Umgang mit Schulschwänzern kennt sich noch aus ihrer Zeit als Lehrerin an einer Gesamtschule in Solingen.
Sylvia Löhrmann: "Das Beste ist ja, wenn möglicherweise Sanktionen drohen, und sie kommen aber gar nicht zum Zuge. Bestimmte Mechanismen und Spielregeln brauche ich, um das gute Agieren der Gemeinschaft zu sichern. Und manchmal helfen dann nur Sanktionen."
Strenge Schulpflicht
Die Schulpflicht ist laut Sylvia Löhrmann aus zwei Gründen so streng: Erstens, um den einzelnen Schülern ihr Recht auf Bildung zu sichern – unabhängig davon, ob die Eltern sich darum kümmern oder nicht. Und zweitens, um die Gemeinschaft zu stärken.
Sylvia Löhrmann: "Schule hat ja auch eine ganz starke soziale Funktion. Und man lernt Dinge, die man vorher vielleicht so nie gelernt hätte, wenn man die nicht in der sozialen Gemeinschaft einer Klasse oder einer Lerngruppe erfahren hätte. Und das davon abhängig zu machen, dass Menschen denken: Ach, das mache ich sowieso alles automatisch und das hole ich mir schon selbst! Da nehmen Menschen sich ein Recht heraus, sich außerhalb der Gemeinschaft zu stellen. Und ich glaube, das müssen wir auch mit berücksichtigen."
Die Jugendlichen in der Dortmunder Lernwerkstatt wollen das jedenfalls nicht. Vivien und Alexandra zum Beispiel sind froh, dass sie bald wieder zur Schule gehen werden. Schließlich haben sie noch große Pläne für die Zukunft.
Alexandra: "Ich möchte meinen Abschluss machen, meinen Realschulabschluss. Und dann möchte ich in die Firma von meinem Papa: Gastronomie, Café, Bar."
Vivien: "Im Januar fange ich an, mich zu bewerben fürs Berufskolleg im sozialpädagogischen Bereich. Und dann möchte ich Kindern wie mir dann halt auch helfen, Streetworking machen und so. Und dann Berufskolleg, Ausbildung und dann arbeiten."