Schulpsychologe: Vom skandinavischen System "weit entfernt"
Der Schulpsychologe Jörg Lorenzen-Lemke würde sich freuen, wenn ein 40 Jahre alter Vorschlag endlich eingelöst werde: Damit dann ein Psychologe auf 5000 Schüler käme, müsste die aktuelle Stellenzahl vervierfacht werden. In Dänemark betreue bereits heute ein Kollege nur 800 Schüler, gab er zu bedenken.
Susanne Burg: Schulangst, Cyber-Mobbing, Lese- und Rechtschreibschwächen, Aggressionen – 20 Prozent aller Schüler sind laut einer Studie des Robert Koch-Instituts psychisch auffällig und bräuchten psychologische Betreuung. Die allerdings lässt häufig auf sich warten, denn in Deutschland muss ein Schulpsychologe 30 bis 50 Schulen betreuen. In Schweden gibt es im Vergleich dazu an jeder Schule einen Psychologen.
Warum Deutschland so hinterherhinkt und was die Folgen darüber sind, darüber will ich jetzt mit Jörg Lorenzen-Lemke sprechen. Er ist selber langjähriger Schulpsychologe und er ist Vorsitzender des Verbandes Schleswig-Holsteinischer Schulpsychologen. In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen gibt es besonders wenige Stellen für Schulpsychologen. Guten Tag!
Jörg Lorenzen-Lemke: Ja, guten Tag, Frau Burg!
Burg: Ja, Herr Lorenzen-Lemke, in Schleswig-Holstein kommt ein Psychologe auf 50 Schulen. Was kann er da überhaupt an jeder einzelnen Schule bewirken?
Lorenzen-Lemke: Ja, das ist natürlich schwierig, die Kräfte müssen hier sehr stark gebündelt werden. In meinem Kreis, Nordfriesland, für den ich zuständig bin, habe ich circa 80 Schulen zu betreuen und 1400 Lehrkräfte, circa 20.000 Schüler. Und eine Kompromisslinie, die wir hier in Schleswig-Holstein versuchen zu fahren, ist, dass wir uns sehr auf Lehrerberatung konzentrieren, weil die Multiplikatoren in den Schulen sind, und dass wir dort eine Prioritätensetzung machen.
Burg: Das heißt, Sie leiten Lehrer an, um quasi Ihren Job zu übernehmen?
Lorenzen-Lemke: Nein, so kann man das nicht missverstehen. Lehrer haben ja qua ihrer Ausbildung eher eine pädagogische Sichtweise auf Probleme in der Schule, und an den Unis wird wenig bis kaum auch psychologische Sichtweisen gelehrt. Das ändert sich in der letzten Zeit ein wenig, auch in Tübingen, Baden-Württemberg, gibt es jetzt ein Modell, wo man mehr Schulpsychologie an Universitäten präsent zu machen versucht. Aber es ist nach wie vor so, dass natürlich Lehrer darin geschult werden müssen, zu gucken, wie psychologische Sichtweisen auf Kinder, auf Schüler aussehen können.
Sie haben gerade auch in der Anmoderation von 20 Prozent psychisch auffälliger Schüler, Schülerinnen an unseren Schulen gesprochen. Das muss man ein bisschen reflektieren oder revidieren, weil ich denke, zehn Prozent, die Hälfte, knapp zehn Prozent haben persistente Störungen nach den Untersuchungen, die in verschiedenen Quellen immer wieder zu den gleichen Zahlen kommen; die anderen zehn Prozent, da würde man von passageren Problemen reden, die innerhalb von einigen Wochen oder Monaten auch zu lösen sind ...
Burg: ... das müssen Sie, ich glaube, erläutern.
Lorenzen-Lemke: Ja, das wären kurzfristige Ängste in Bezug auf Schule, die bei rechtzeitiger Hilfe sich nicht weiter chronifizieren und die dann überstanden sind und dann nicht weiter Folgeschäden haben werden. Allerdings ist es auch so, wenn man dort nicht interveniert, dann können natürlich größere Probleme daraus erwachsen, und deswegen ist ein niederschwelliges Angebot von Begleitung und von Hilfe sehr, sehr wichtig.
Burg: Wenn man jetzt von diesen Schülern redet, bei denen durchaus Hilfe eine Lösung herbeiführen kann, fragt man sich trotzdem: Warum sind so viele Kinder und Jugendliche psychisch auffällig?
Lorenzen-Lemke: Ja, das ist die große Preisfrage, warum das so ist. Vielleicht ist man heute etwas sensibler dafür, auch Dinge zu beobachten, zu erforschen, zu hinterfragen auch. Es ist natürlich auch ein gesellschaftliches Problem, es hängt viel mit Leistungsdruckproblematik zusammen, es hängt viel mit Veränderung von Gesellschaft, von Familienstrukturen zusammen, die dahinterstehen. Viele andere Dinge, die es früher auch schon gegeben hat, werden heute unter einem anderen Blickwinkel betrachtet. Das ist eine sehr schwierige Frage, sehr schwer zu beantworten auf jeden Fall.
Burg: Ist vielleicht auch eine Sache: Früher hat man gesagt, Kinder balgen sich in der Pause, heute gibt es dann bei einer Rauferei gleich ein Gewaltproblem. Neigen wir heute vielleicht auch ein bisschen zu sehr dazu, das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu schnell zu pathologisieren?
Lorenzen-Lemke: Ich glaube, eher nicht. Ich glaube eher, dass es darum geht, das gut zu beobachten und natürlich nicht überzureagieren. Das tun meiner Erfahrung nach Lehrkräfte aber auch selten. Es ist eher so, dass ich denke, da ist ein manifestes Problem dahinter. Mobbing hört heutzutage nicht in der Schule auf, sondern geht über die Medien – Sie haben gerade Cyber-Mobbing erwähnt –, über die Medien am Nachmittag, abends, quasi 24 Stunden weiter und setzen sich dann wieder am nächsten Vormittag um acht oder spätestens auf der Busfahrt zur Schule schon wieder fort, sodass ein Schüler, eine Schülerin heute gar nicht mehr oder sehr schwer aus dieser Geschichte rauskommt. Und das hat sich natürlich verändert, so was gab es früher nicht. Und da sind wirklich andere Formen entstanden, die früher so nicht zu beobachten waren.
Burg: Über den Mangel an Schulpsychologen an deutschen Schulen spreche ich hier im Deutschlandradio Kultur mit Jörg Lorenzen-Lemke, er ist Vorsitzender des Verbandes Schleswig-Holsteinischer Schulpsychologen. In Deutschland gibt es, wenn wir noch mal von der aktuellen Situation sprechen, so wenige Schulpsychologen wie in keinem anderen Industrieland, dabei werden auch hier dann die Rufe nach Psychologen immer sehr laut, wenn es einen Amoklauf gab. Nun haben wieder mal den aktuellen Fall an einem College im kalifornischen Oakland, aber auch in Deutschland gab es ja zwei Amokläufe in der Vergangenheit, Erfurt und Winnenden. Warum ist Deutschland eigentlich noch immer ein solch schulpsychologisches Entwicklungsland?
Lorenzen-Lemke: Ja, vordergründig wird natürlich immer der Geldmangel betont. Das ist – ich sage es ausdrücklich – eher ein vordergründiges Scheinargument. Ich glaube, Geld für Bildung ist da und muss da sein, weil das auch eine – abgesehen von vielen Einzelfällen, über die ich eigentlich eher reden möchte als über den ökonomischen Gewinn –, wirft Bildungsinvestition natürlich eine hohe Rendite ab. Und das ist aber ein langfristiger Prozess, der wird kurzfristig nicht gesehen. Politiker entscheiden sich oft nach dem, was kurzfristig relevant ist, und überblicken vielleicht nicht unbedingt zehn oder 20 Jahre. Und das wäre mal entscheidend, hier umzudenken.
Das wird auf jeden Fall immer wieder vorgeschoben in der Diskussion, ich glaube aber, dass das möglich sein sollte. Wir haben hier im Moment in Deutschland, in Schleswig-Holstein auch einen Rückgang von Schülerzahlen. Es wurde versprochen, diese Finanzen, die dort frei werden, wieder in den Bildungsbereich zurückzugeben, das passiert nicht. Da wäre es eine große Chance, die im Moment verpasst wird, weil das Geld dann wieder reingespart wird.
Burg: Baden-Württemberg hat nach dem Amoklauf von Winnenden ein Präventionskonzept an Schulen eingeführt und ein Kompetenzzentrum für Schulpsychologie gegründet. Ist das für Sie ein Schritt in die richtige Richtung?
Lorenzen-Lemke: Ja, natürlich. Weil, ich denke, Schulpsychologie hat ja auch eine wissenschaftliche Anforderung oder Seite. Wir versuchen möglichst auch, wissenschaftlich begründete, evaluierte Intervention an Schulen einzubringen und diese Erfahrung auch zu nutzen, die Wissenschaft auch macht. Und das ist sicherlich ein sehr hilfreiches Instrument, da in Deutschland auch auf eigene Wertedaten zurückgreifen zu können.
Burg: Aber offensichtlich ein Einzelfall?
Lorenzen-Lemke: Ja, natürlich ein Einzelfall in Baden-Württemberg. Man muss sehen, wie sich das entwickelt, wie sich das bewährt, aber ich sehe das sehr positiv. Und Sie sprachen gerade so Amokläufe an, die in Deutschland auch passiert sind. Natürlich hoffen alle, dass solche Amokläufe nicht geschehen, und arbeiten auch daran, das zu verhindern. Da konnte Schulpsychologie auch eine Menge dazu beitragen. Das ist natürlich aber auch so, dass wir ein Jahr nach Winnenden zum Beispiel in Schleswig-Holstein über 100 Bedrohungslagen hatten, wo mit Amokläufen gedroht wurde und da natürlich auch eine Menge Verunsicherung an Schulen passiert bei Lehrkräften, bei Schülern, bei Eltern, die ja auch psychische Folgen hinterlässt, die auch wieder aufzuarbeiten sind.
Das ist nicht nur so, dass wir in Bedrohungslagen dann arbeiten, wenn tatsächlich ein Amok passiert ist. Dafür haben wir in Schleswig-Holstein zum Beispiel überhaupt keine Ressourcen. Hier in Baden-Württemberg wurden sehr viele Kräfte zusammengebündelt, die dann dort gearbeitet haben, in Winnenden. Das könnte, hier in Schleswig-Holstein haben wir gar keine Vereinbarung darüber. Das ist ein großes Manko. Und wir haben natürlich auch viele andere Kriseneinsätze, die vielleicht gar nicht so publik werden: Wenn es Lehrer- oder einen Schülersuizid an einer Schule gegeben hat zum Beispiel, oder Umgang mit Tod und Trauer an der Schule, das sind alles Bereiche, in denen Schule nachhaltig, langfristig auch beeinträchtigt ist. Und hier ist eine schulpsychologische Arbeit sehr vonnöten, um weitergehende Schäden und Beeinträchtigung von Schülern und Lehrkräften und Eltern zu verhindern.
Burg: In Schweden gibt es an jeder Schule einen Schulpsychologen. Ist denn dort die Situation wirklich besser?
Lorenzen-Lemke: Ja ... Also, das skandinavische System insgesamt, also, in Dänemark haben wir zum Beispiel die Situation, dass wir auf einen Schulpsychologen 800 Schüler haben, das ist ungefähr das skandinavische Modell. Davon sind wir hier in Schleswig-Holstein mit 1:18.000 weit entfernt. Die KMK hat ja schon vor 40 Jahren vorgeschlagen, auf einen Schulpsychologen 5000 Schüler, dass dieses eine Richtlinie wäre, das ist ein Beschluss, der vor 40 Jahren getroffen worden ist, der ist nie umgesetzt worden. Da wären wir hier in Schleswig-Holstein schon sehr froh, das bedeutet eine Vervierfachung der Stellensituation, wenn wir diesen 40 Jahre alten Vorschlag aufgreifen würden. Ich glaube schon, dass die Schulen in Schweden, in Dänemark doch besser gestellt sind. Auch ist das die Multiprofessionalität des Teams viel ausgeprägter. Es gibt ja nicht nur Schulpsychologen, auch Schulsozialarbeit, es gibt Schulärzte, die dort mitarbeiten, es gibt alle möglichen Kräfte, um einen Schüler, um die Klasse, um ein Lehrerteam herum, die dort mit ihrer Professionalität Unterstützung und Hilfe gewähren. Und davon sind wir hier weit entfernt.
Burg: Deutschland ist das Schlusslicht aller Industrieländer, was die Zahl an Schulpsychologen angeht. Hier hat ein Psychologe 30 bis 50 Schulen zu betreuen. Wie das überhaupt möglich ist, darüber habe ich mit Jörg Lorenzen-Lemke gesprochen, er ist Vorsitzender des Verbandes Schleswig-Holsteinischer Schulpsychologen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lorenzen-Lemke!
Lorenzen-Lemke: Ja, ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Warum Deutschland so hinterherhinkt und was die Folgen darüber sind, darüber will ich jetzt mit Jörg Lorenzen-Lemke sprechen. Er ist selber langjähriger Schulpsychologe und er ist Vorsitzender des Verbandes Schleswig-Holsteinischer Schulpsychologen. In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen gibt es besonders wenige Stellen für Schulpsychologen. Guten Tag!
Jörg Lorenzen-Lemke: Ja, guten Tag, Frau Burg!
Burg: Ja, Herr Lorenzen-Lemke, in Schleswig-Holstein kommt ein Psychologe auf 50 Schulen. Was kann er da überhaupt an jeder einzelnen Schule bewirken?
Lorenzen-Lemke: Ja, das ist natürlich schwierig, die Kräfte müssen hier sehr stark gebündelt werden. In meinem Kreis, Nordfriesland, für den ich zuständig bin, habe ich circa 80 Schulen zu betreuen und 1400 Lehrkräfte, circa 20.000 Schüler. Und eine Kompromisslinie, die wir hier in Schleswig-Holstein versuchen zu fahren, ist, dass wir uns sehr auf Lehrerberatung konzentrieren, weil die Multiplikatoren in den Schulen sind, und dass wir dort eine Prioritätensetzung machen.
Burg: Das heißt, Sie leiten Lehrer an, um quasi Ihren Job zu übernehmen?
Lorenzen-Lemke: Nein, so kann man das nicht missverstehen. Lehrer haben ja qua ihrer Ausbildung eher eine pädagogische Sichtweise auf Probleme in der Schule, und an den Unis wird wenig bis kaum auch psychologische Sichtweisen gelehrt. Das ändert sich in der letzten Zeit ein wenig, auch in Tübingen, Baden-Württemberg, gibt es jetzt ein Modell, wo man mehr Schulpsychologie an Universitäten präsent zu machen versucht. Aber es ist nach wie vor so, dass natürlich Lehrer darin geschult werden müssen, zu gucken, wie psychologische Sichtweisen auf Kinder, auf Schüler aussehen können.
Sie haben gerade auch in der Anmoderation von 20 Prozent psychisch auffälliger Schüler, Schülerinnen an unseren Schulen gesprochen. Das muss man ein bisschen reflektieren oder revidieren, weil ich denke, zehn Prozent, die Hälfte, knapp zehn Prozent haben persistente Störungen nach den Untersuchungen, die in verschiedenen Quellen immer wieder zu den gleichen Zahlen kommen; die anderen zehn Prozent, da würde man von passageren Problemen reden, die innerhalb von einigen Wochen oder Monaten auch zu lösen sind ...
Burg: ... das müssen Sie, ich glaube, erläutern.
Lorenzen-Lemke: Ja, das wären kurzfristige Ängste in Bezug auf Schule, die bei rechtzeitiger Hilfe sich nicht weiter chronifizieren und die dann überstanden sind und dann nicht weiter Folgeschäden haben werden. Allerdings ist es auch so, wenn man dort nicht interveniert, dann können natürlich größere Probleme daraus erwachsen, und deswegen ist ein niederschwelliges Angebot von Begleitung und von Hilfe sehr, sehr wichtig.
Burg: Wenn man jetzt von diesen Schülern redet, bei denen durchaus Hilfe eine Lösung herbeiführen kann, fragt man sich trotzdem: Warum sind so viele Kinder und Jugendliche psychisch auffällig?
Lorenzen-Lemke: Ja, das ist die große Preisfrage, warum das so ist. Vielleicht ist man heute etwas sensibler dafür, auch Dinge zu beobachten, zu erforschen, zu hinterfragen auch. Es ist natürlich auch ein gesellschaftliches Problem, es hängt viel mit Leistungsdruckproblematik zusammen, es hängt viel mit Veränderung von Gesellschaft, von Familienstrukturen zusammen, die dahinterstehen. Viele andere Dinge, die es früher auch schon gegeben hat, werden heute unter einem anderen Blickwinkel betrachtet. Das ist eine sehr schwierige Frage, sehr schwer zu beantworten auf jeden Fall.
Burg: Ist vielleicht auch eine Sache: Früher hat man gesagt, Kinder balgen sich in der Pause, heute gibt es dann bei einer Rauferei gleich ein Gewaltproblem. Neigen wir heute vielleicht auch ein bisschen zu sehr dazu, das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu schnell zu pathologisieren?
Lorenzen-Lemke: Ich glaube, eher nicht. Ich glaube eher, dass es darum geht, das gut zu beobachten und natürlich nicht überzureagieren. Das tun meiner Erfahrung nach Lehrkräfte aber auch selten. Es ist eher so, dass ich denke, da ist ein manifestes Problem dahinter. Mobbing hört heutzutage nicht in der Schule auf, sondern geht über die Medien – Sie haben gerade Cyber-Mobbing erwähnt –, über die Medien am Nachmittag, abends, quasi 24 Stunden weiter und setzen sich dann wieder am nächsten Vormittag um acht oder spätestens auf der Busfahrt zur Schule schon wieder fort, sodass ein Schüler, eine Schülerin heute gar nicht mehr oder sehr schwer aus dieser Geschichte rauskommt. Und das hat sich natürlich verändert, so was gab es früher nicht. Und da sind wirklich andere Formen entstanden, die früher so nicht zu beobachten waren.
Burg: Über den Mangel an Schulpsychologen an deutschen Schulen spreche ich hier im Deutschlandradio Kultur mit Jörg Lorenzen-Lemke, er ist Vorsitzender des Verbandes Schleswig-Holsteinischer Schulpsychologen. In Deutschland gibt es, wenn wir noch mal von der aktuellen Situation sprechen, so wenige Schulpsychologen wie in keinem anderen Industrieland, dabei werden auch hier dann die Rufe nach Psychologen immer sehr laut, wenn es einen Amoklauf gab. Nun haben wieder mal den aktuellen Fall an einem College im kalifornischen Oakland, aber auch in Deutschland gab es ja zwei Amokläufe in der Vergangenheit, Erfurt und Winnenden. Warum ist Deutschland eigentlich noch immer ein solch schulpsychologisches Entwicklungsland?
Lorenzen-Lemke: Ja, vordergründig wird natürlich immer der Geldmangel betont. Das ist – ich sage es ausdrücklich – eher ein vordergründiges Scheinargument. Ich glaube, Geld für Bildung ist da und muss da sein, weil das auch eine – abgesehen von vielen Einzelfällen, über die ich eigentlich eher reden möchte als über den ökonomischen Gewinn –, wirft Bildungsinvestition natürlich eine hohe Rendite ab. Und das ist aber ein langfristiger Prozess, der wird kurzfristig nicht gesehen. Politiker entscheiden sich oft nach dem, was kurzfristig relevant ist, und überblicken vielleicht nicht unbedingt zehn oder 20 Jahre. Und das wäre mal entscheidend, hier umzudenken.
Das wird auf jeden Fall immer wieder vorgeschoben in der Diskussion, ich glaube aber, dass das möglich sein sollte. Wir haben hier im Moment in Deutschland, in Schleswig-Holstein auch einen Rückgang von Schülerzahlen. Es wurde versprochen, diese Finanzen, die dort frei werden, wieder in den Bildungsbereich zurückzugeben, das passiert nicht. Da wäre es eine große Chance, die im Moment verpasst wird, weil das Geld dann wieder reingespart wird.
Burg: Baden-Württemberg hat nach dem Amoklauf von Winnenden ein Präventionskonzept an Schulen eingeführt und ein Kompetenzzentrum für Schulpsychologie gegründet. Ist das für Sie ein Schritt in die richtige Richtung?
Lorenzen-Lemke: Ja, natürlich. Weil, ich denke, Schulpsychologie hat ja auch eine wissenschaftliche Anforderung oder Seite. Wir versuchen möglichst auch, wissenschaftlich begründete, evaluierte Intervention an Schulen einzubringen und diese Erfahrung auch zu nutzen, die Wissenschaft auch macht. Und das ist sicherlich ein sehr hilfreiches Instrument, da in Deutschland auch auf eigene Wertedaten zurückgreifen zu können.
Burg: Aber offensichtlich ein Einzelfall?
Lorenzen-Lemke: Ja, natürlich ein Einzelfall in Baden-Württemberg. Man muss sehen, wie sich das entwickelt, wie sich das bewährt, aber ich sehe das sehr positiv. Und Sie sprachen gerade so Amokläufe an, die in Deutschland auch passiert sind. Natürlich hoffen alle, dass solche Amokläufe nicht geschehen, und arbeiten auch daran, das zu verhindern. Da konnte Schulpsychologie auch eine Menge dazu beitragen. Das ist natürlich aber auch so, dass wir ein Jahr nach Winnenden zum Beispiel in Schleswig-Holstein über 100 Bedrohungslagen hatten, wo mit Amokläufen gedroht wurde und da natürlich auch eine Menge Verunsicherung an Schulen passiert bei Lehrkräften, bei Schülern, bei Eltern, die ja auch psychische Folgen hinterlässt, die auch wieder aufzuarbeiten sind.
Das ist nicht nur so, dass wir in Bedrohungslagen dann arbeiten, wenn tatsächlich ein Amok passiert ist. Dafür haben wir in Schleswig-Holstein zum Beispiel überhaupt keine Ressourcen. Hier in Baden-Württemberg wurden sehr viele Kräfte zusammengebündelt, die dann dort gearbeitet haben, in Winnenden. Das könnte, hier in Schleswig-Holstein haben wir gar keine Vereinbarung darüber. Das ist ein großes Manko. Und wir haben natürlich auch viele andere Kriseneinsätze, die vielleicht gar nicht so publik werden: Wenn es Lehrer- oder einen Schülersuizid an einer Schule gegeben hat zum Beispiel, oder Umgang mit Tod und Trauer an der Schule, das sind alles Bereiche, in denen Schule nachhaltig, langfristig auch beeinträchtigt ist. Und hier ist eine schulpsychologische Arbeit sehr vonnöten, um weitergehende Schäden und Beeinträchtigung von Schülern und Lehrkräften und Eltern zu verhindern.
Burg: In Schweden gibt es an jeder Schule einen Schulpsychologen. Ist denn dort die Situation wirklich besser?
Lorenzen-Lemke: Ja ... Also, das skandinavische System insgesamt, also, in Dänemark haben wir zum Beispiel die Situation, dass wir auf einen Schulpsychologen 800 Schüler haben, das ist ungefähr das skandinavische Modell. Davon sind wir hier in Schleswig-Holstein mit 1:18.000 weit entfernt. Die KMK hat ja schon vor 40 Jahren vorgeschlagen, auf einen Schulpsychologen 5000 Schüler, dass dieses eine Richtlinie wäre, das ist ein Beschluss, der vor 40 Jahren getroffen worden ist, der ist nie umgesetzt worden. Da wären wir hier in Schleswig-Holstein schon sehr froh, das bedeutet eine Vervierfachung der Stellensituation, wenn wir diesen 40 Jahre alten Vorschlag aufgreifen würden. Ich glaube schon, dass die Schulen in Schweden, in Dänemark doch besser gestellt sind. Auch ist das die Multiprofessionalität des Teams viel ausgeprägter. Es gibt ja nicht nur Schulpsychologen, auch Schulsozialarbeit, es gibt Schulärzte, die dort mitarbeiten, es gibt alle möglichen Kräfte, um einen Schüler, um die Klasse, um ein Lehrerteam herum, die dort mit ihrer Professionalität Unterstützung und Hilfe gewähren. Und davon sind wir hier weit entfernt.
Burg: Deutschland ist das Schlusslicht aller Industrieländer, was die Zahl an Schulpsychologen angeht. Hier hat ein Psychologe 30 bis 50 Schulen zu betreuen. Wie das überhaupt möglich ist, darüber habe ich mit Jörg Lorenzen-Lemke gesprochen, er ist Vorsitzender des Verbandes Schleswig-Holsteinischer Schulpsychologen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lorenzen-Lemke!
Lorenzen-Lemke: Ja, ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.