Nationale Heldenverehrung im Klassenzimmer
Die Ministerpräsidentin spricht vom "Ethos der polnischen Helden", von dem die Schüler nun lernen sollen - und das ist nicht die einzige Neuerung bei der Schulreform in Polen, die für Unmut bei einigen Eltern und Lehrern sorgt.
Zwei Dutzend Männer und Frauen, die meisten über 40, sind zum Kopernikusdenkmal in der Warschauer Innenstadt gekommen. Sie machen einen Höllenlärm, denn sie wollen sich beschweren: über die Schulreform, die vor sechs Wochen in Polen in Kraft getreten ist. Die meisten von ihnen haben Kinder und sind direkt betroffen, so Anna, die ihre 12-jährige Tochter schon wegen den Problemen durch die Reform auf eine andere Schule gebracht hat:
"An der alten Schule gab es keine Lehrbücher, der Sportunterricht fand auf dem Gang statt. Es gab dort einfach zu viele Kinder."
Die rechtskonservative Regierungspartei PiS, seit knapp zwei Jahren im Amt, hat die Reform mit ihrer absoluten Mehrheit im Eiltempo durch das Parlament gebracht. Sie schafft, nach und nach, einen ganzen Schulzweig ab - das bisher dreijährige Gymnasium, das die Schüler zwischen 12 und 15 Jahren besuchten.
Es wird eine Übergangsphase geben, aber danach wird das polnische Schulsystem nur noch zweigliedrig sein. Erst die achtjährige Grundschule, dann können die Kinder auf das vierjährige Lyzeum gehen, fünf Jahre auf das Technikum oder drei Jahre auf eine Berufsschule.
Die größten Auswirkungen hat die Reform zunächst jedoch auf die Grundschulen. Sie werden stärker belastet. Denn sie hatten bisher nur sechs Jahrgänge, jetzt acht – so müssen sie plötzlich viel mehr Kinder aufnehmen. Dabei sind viele von ihnen heillos überfordert.
Schichtsystem um alle Schüler zu unterrichten
Die Anführerin des Protests in Warschau gibt durch ihr Megaphon ein Beispiel:
"In der Grundschule Nummer sieben in Stettin: Da fahren die Schüler der siebten Klasse mit dem Bus zwei Kilometer weit zum Gebäude eines aufgelösten Gymnasiums. So soll also die polnische Schule aussehen? Frau Ministerpräsidentin, hören Sie uns?"
Auch Beata Ciskowska hat ihre 12-jährige Tochter von ihrer alten Schule genommen:
"Die Siebtklässler beginnen den Unterricht dort jetzt schon um 7.10 Uhr. Das ist doch viel zu früh, zumal um diese Uhrzeit auch schon Mathematik und Physik unterrichtet werden. Die Schulküche ist auch völlig überlaufen, die Kinder haben nur fünf bis sieben Minuten für das Mittagessen, dann sind die nächsten dran. Die Schule ist für 800 Kinder gebaut, und dort werden jetzt 1.300 Kinder unterrichtet."
An anderen Grundschulen haben die Direktoren ein Schichtsystem eingeführt, um den Andrang zu bewältigen. Ein Teil der Schüler geht vormittags, der andere nachmittags in den Unterricht.
Nur die Kinder der Eltern, die Geld für private Schulen haben oder für sie nach einer Grundschule mit weniger Andrang suchen, bleiben vor den ärgsten Folgen der Reform verschont. Die anderen lernen seit August unter erschwerten Bedingungen.
Aber auch die Kinder an weniger überlaufenen Schulen trifft die Reform empfindlich, sagt Mutter Anna:
"Die Kinder haben sehr viel Hausaufgaben. Denn der Stoff, den sie früher in drei Jahren Gymnasium durchgenommen haben, sollen sie nun in den zwei zusätzlichen Jahren Grundschule bewältigen. Sie haben jetzt zwei Einheiten Chemie, Geographie und Biologie pro Woche. Sie haben insgesamt mehr Schulstunden."
"Schule wälzt ihre Pflichten auf Eltern ab"
Für Wahlfächer, wie sie früher genutzt wurden, bleibe jetzt kaum mehr Zeit, klagen die Eltern.
Auch Joanna Keszka hat ihren Sohn an einer anderen Schule untergebracht - einer Gemeinschaftsschule, die von den Eltern selbst organisiert wird. Dort zahlt die Schriftstellerin umgerechnet 300 Euro monatlich - ein Betrag, den sich viele Polen nicht leisten können.
Aber in der alten Schule hätte ihre Tochter an einem Tag den Unterricht um acht morgens begonnen, am anderen Tag um 13 Uhr nachmittags. Für Joanna Keszka ein nicht hinnehmbarer Zustand. Die Reform bringe schon genug Probleme:
"Der neue Lehrplan ist so wenig durchdacht und so überladen, dass die Eltern mit ihren Kindern lernen müssen. Sonst kommt das Kind einfach nicht mit. Die Schule wälzt ihre Pflichten auf die Eltern ab."
Hinzu kommt, dass die öffentliche Schule für Joanna Keszka um die Ecke war. Nun ist der Weg viel weiter und die Familie muss die 12-jährige Tochter morgens in die Schule bringen und am Nachmittag abholen.
"Ich bin eigentlich der Ansicht, dass alle Kinder auf die gleiche Schule gehen sollten. So lernen sie verschiedene Milieus, verschiedene Schichten kennen. Durch private Schule werden die Kinder gleich separiert."
Ministerpräsidentin: "Alles ist in Ordnung"
Die rechtskonservative Regierungspartei PiS ficht die Kritik der Eltern nicht an. Die Reform sei dringend nötig gewesen, argumentiert sie. Von Anfang an stellte sie sich gegen die Veränderungen am Schulsystem in Polen, die vor 18 Jahren begannen. Damals wurden die Gymnasien eingeführt - als Zwischenschritt zwischen Grundschule und Lyzeum. Das habe nur dazu geführt, dass die Kinder viel zu oft getestet worden seien, so die PiS.
Vor wenigen Jahren kam hinzu, dass die Kinder mit sechs Jahren eingeschult werden. Das soll nun wieder, im Regelfall, mit sieben Jahren passieren.
Ministerpräsidentin Beata Szydlo zog ein positives Fazit nach den ersten Wochen des neuen Schuljahres:
"Wie die Reform umgesetzt wird und wie die Schulen unter den neuen Bedingungen funktionieren, schätze ich sehr gut ein. Alles ist in Ordnung. Ich höre keine Stimmen, die das kritisieren würden oder über Probleme sprechen. Ganz im Gegenteil. Und ich habe in der Familie und unter meinen Freunden viele Lehrer."
Für die PiS hat Bildungspolitik schon lange eine wichtige Bedeutung. Der Protest vieler Eltern gegen die Schulpflicht mit sechs Jahren gab ihr, damals in der Opposition, großen Auftrieb. Rund eine Million Bürger unterschrieben damals die Forderung, in der Sache eine Volksabstimmung abzuhalten. Die damalige Regierung der rechtsliberalen "Bürgerplattform" ließ sich darauf nicht ein. Die PiS konnte ihr vorwerfen, den Bürgerwillen nicht zu ernst zu nehmen.
"Ethos der polnischen Helden aufbauen"
Auch in ihrer Regierungserklärung vor zwei Jahren äußerte sich Beata Szydlo sehr entschlossen zur Bildungspolitik. Die Schule solle nicht nur Wissen, sondern auch Haltung vermitteln sagte sie, und zwar eine "starke nationale und patriotische Identität". Die Schulreform ist für sie Teil eines großen Projekts:
"Der Staat ist nicht nur eine Organisation, er hat auch eine moralische Qualität. Das müssen wir in der Bildungspolitik und in der Kulturpolitik beachten. Diese Politik muss patriotische Einstellungen fördern. Mit staatlicher Unterstützung sollten Werke entstehen, die Polen und der Welt von unseren großen Landsleuten, unseren Helden erzählen. Schämen wir uns nicht, ein Ethos der polnischen Helden aufzubauen. Ihrer sollten wir immer gedenken."
Diese sei also der eigentliche Sinn der Neu-Organisation des Schulwesens, sagen Kritiker: Die Reform erlaubt es der Regierung, die Bildung ideologisch neu auszurichten. Das gilt für das Personal: Lehrerstellen werden neu besetzt, bis hinauf zu Direktorenposten. Noch wichtiger ist es jedoch, dass durch die Reform auch die Lehrpläne inhaltlich komplett neu geschrieben wurden.
Wie zu erwarten, unterscheiden sie sich vor allem im Fach Geschichte deutlich von den bisherigen Lehrplänen. Der Vorsitzende der liberalen Oppositionspartei "Die Moderne" Ryszard Petru:
"Die Schulen sollen nach der Reform Menschen erziehen, die immer für nationale Parteien stimmen werden. Normalerweise sind Erstwähler kritisch gegenüber der Regierung, sie wollen protestieren. Die Regierungspartei PiS jedoch will sie nach ihren Vorstellungen formen. Ich sage nicht, dass das gelingt, aber das ist die Absicht."
Petru stützt sein Urteil auf Aussagen wie diese: Laut den neuen Lehrplänen solle der Geschichtsunterricht den "Nationalstolz" der Schüler festigen und deren "Liebe zum Vaterland" entwickeln. In der vierten Klasse, in der das Fach Geschichte zum ersten Mal gelehrt wird, bekommen die Kinder zunächst einmal jene Helden präsentiert, die Ministerpräsidentin Szydlo in ihrer Regierungserklärung erwähnte. Sie lernen die Biographien wichtiger Persönlichkeiten aus verschiedenen Abschnitten der polnischen Geschichte kennen.
"Das ist geschönte Geschichte"
Artur Sierawski, Geschichtslehrer in Warschau, hält davon gar nichts:
"Das wird eine reine Auswendig-Lernerei. Wann hat die Person gelebt, was hat sie geleistet, danke, dann kommen wir zur nächsten Person. Wie soll das Kind da etwas über Ursache und Wirkung lernen, wie das logische Denken? Ein zehnjähriges Kind wird Mieszko I., der sich als erster polnischer Herrscher taufen ließ, kaum historisch verorten können. Und so wird es gleich zu Beginn eine Abneigung gegen Geschichte entwickeln."
Das ist der pädagogische-didaktische Aspekt. Aber auch inhaltlich hat der Geschichtslehrer Sierawski viel auszusetzen.
"Wenn man den Lehrplan insgesamt ansieht, dann entsteht dabei das Bild eines edlen Polens, das rein und unbefleckt geblieben ist. Juden-Pogrome gibt es nicht, weder das in Jedwabne noch das in Kielce nach dem Krieg. Das ist eine geschönte Geschichte."
Weniger umstritten sind indes die Lehrpläne für das Fach polnische Literatur. Erste Gerüchte, dass die Auswahl der Texte stark ideologisch gefärbt sei, erwiesen sich als voreilig. Auch Kritiker der Regierungspartei PiS gehören zum Pflichtkanon, wie Schriftstellerin Olga Tokarczuk. Das gilt auch für die in PiS-Kreisen ungeliebte Dichterin und Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska.
"Kinder lernen: Sex nur in der Ehe"
Auf heftigen Widerstand stößt dagegen der Lehrplan im Fach "Erziehung zum Leben in der Familie". Den konservativ klingenden Namen hatte das Fach schon früher, nun seien auch die Inhalte weit nach rechts gerückt, so die Sexualtherapeutin Izabela Jaderek:
"Dort steht klar geschrieben, dass die Schüler mit traditionellen, christlichen Werten ausgestattet werden sollen. Damit ist die Schule weltanschaulich nicht mehr neutral. Der Unterricht wird so tun, als gebe es keine verschiedenen sexuellen Orientierungen, keine Transsexualität. Verhütungsmittel werden verteufelt. Die Kinder lernen, dass sie Enthaltsamkeit üben sollen und dass Sex nur in der Ehe stattfinden sollte - und auch nur mit dem Ziel, Kinder zu zeugen."
Gegen solche streng-katholischen Ideologien und für ein freies Denken steht die Schule von Krystyna Starczewska. Dutzende Trophäen von Sportveranstaltungen sind im Flur zu sehen – dazu Urkunden von landesweiten Wettbewerben, zum Beispiel in Philosophie. Starczewska ist eine der Gründerinnen des autonomen Gymnasiums in der Raszynska-Straße in Warschau. Jene Schulform, die jetzt abgeschafft werden soll.
"Als die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc 1989 mit den Kommunisten verhandelte, bei den Gesprächen am Runden Tisch, da haben wir die Gründung von autonomen Schulen erstritten. Wir sind seitdem eine der ersten Gemeinschaftsschulen, gegründet von Eltern und Lehrern. Unsere Schule lehrt selbständiges Denken, sie weckt Interesse, statt Schüler zu bestrafen. Wir haben schon damals ein demokratisches System eingeführt, an dem Schüler, Eltern und Lehrer beteiligt sind."
Gymnasien werden abgeschafft - Lehrer verlieren Arbeit
Krystyna Starczewska fürchtet, dass ihre Schule mit der Reform viele ihrer traditionellen Zusatzangebote nicht mehr umsetzen kann, wegen der höheren Belastung. Dazu gehören etwa Philosophie und Kunstgeschichte.
Organisatorisch hat sich an der Schule noch nicht so viel geändert. Die erste Klasse Gymnasium gibt es nicht mehr, stattdessen hat die Schule eine siebte Klasse Grundschule geschaffen. Den größten Umbruch wird es in zwei Jahren geben: Dann verschwindet auch der dritte und letzte Jahrgang des Gymnasiums. Das Ergebnis: Aus drei Jahrgängen auf dem Gymnasium werden zwei Jahrgänge der Grundschule. Somit wird die Schule von Krystyna Starczewska wohl weniger Lehrer benötigen:
"Viele Lehrer werden keine Vollzeitstellen mehr an ihrer Schule haben. Sie werden auch Lehraufträge anderswo annehmen müssen. Einige werden sogar gleichzeitig an vier Schulen tätig sein und sich gar nicht mehr so richtig auf die einzelnen Schüler einlassen können. Die Reform hat viele unangenehme Nebeneffekte - ganz abgesehen von den Kosten, die sie verursacht. Das zeigt doch, dass diese Reform nicht gut ist."
Der Lehrerverband rechnet damit, dass 10.000 Lehrer mit der Abschaffung der Gymnasien ihre Arbeit verlieren werden. Die Regierung widerspricht dieser Zahl und sagt, es würden genügend neue Stellen an anderen Schulen geschaffen.
Polen lag auf Platz vier beim Pisa-Test
Schon jetzt ist klar: Der politische Streit um das Bildungssystem wird weitergehen. Die Kritiker der Regierung werden sehr genau beobachten, wie leistungsfähig die neu konzipierten Schulen sein werden. Eins steht fest: Die Latte liege hoch, sagt Krystyna Starczewska:
"Es war gut, dass die Gymnasien die 12- bis 13-Jährigen von den kleineren Kindern getrennt haben. Sie konnten sich dadurch reifer fühlen, und der Unterricht konnte an dieses schwierige Alter angepasst werden. In den Gymnasien waren die Schüler deshalb weniger aggressiv als an den Grundschulen. Und die Absolventen der Gymnasien haben im Pisa-Test sehr gut abgeschnitten, auf dem vierten Platz und damit deutlich besser als die 15-Jährigen vor der Einführung der Gymnasien."
Auch über die Kosten der Reform wird weiter gestritten werden. Im kommenden Jahr stehen in Polen landesweite Kommunalwahlen an. Wenn dann in einer Gemeinde weiterhin Chaos an den Schulen herrscht, dann wird die Opposition die Reform dafür verantwortlich machen. Die Regierung dagegen wird die Schuld in der vermeintlich unfähigen Stadtverwaltung suchen.
Anfang des Jahres haben fast eine Million Polen gegen die Reform unterschrieben. Doch inzwischen scheinen sich die meisten mit ihr abgefunden zu haben, wie der kleine Protest vor dem Kopernikusdenkmal in Warschau zeigt.
Beata Ciskowska, die Mutter einer 12-Jährigen, hat dennoch nicht aufgegeben:
"Der zweite Bürgermeister von Warschau hat gesagt: Solange noch nicht alle Jahrgänge die Gymnasien verlassen haben, ist es einfach, die Reform rückgängig zu machen. Ich denke, wenn das in Warschau geht, dann wäre das auch in kleineren Städten möglich."