Soziale Selektion "ist stärker geworden, nicht schwächer"
Die Reform der deutschen Schulen hat zwar längst begonnen, doch neue und andere Schulformen allein, lösen die pädagogischen Aufgaben nicht. Eine Vision droht in den Sand gesetzt zu werden, fürchtet Publizist Stephan Hilsberg.
Die deutsche Schullandschaft befindet sich in einer Phase großer Umwälzungen. Schulformen verschwinden wie Haupt-, Real- oder Ganztagsschulen, die noch vor wenigen Jahren eine Quelle erbitterter, teilweise ideologischer Grabenkämpfe waren.
Neue Namen tauchen auf wie Gemeinschaftsschule, Oberschule oder Sekundarschule, in Berlin mit dem Adjektiv integriert versehen. Kein Zweifel, die Schullandschaft wird einheitlicher und schlanker, und man hofft auch transparenter.
Eltern haben dort nicht mehr die Qual der Wahl, zwischen fünf weiterführenden Schulen nach der Grundschule entscheiden zu müssen. Deren Unterschiede waren eh nur selten verständlich zu machen. Vor- und Nachteile wurden übertrieben, Schüler sozial selektiert und mit einem Stigma versehen. Wer zum Beispiel in Norddeutschland eine Hauptschule besuchte, war geschlagen fürs Leben.
Die Schulpolitik ist sachlicher geworden, pragmatischer - irgendwie bürgernäher, zumindest näher bei den Schülern und ihren Eltern. Doch nun scheint der Elan auszugehen. Neue und andere Schulformen allein, das ist ja der friedensstiftende Konsens geworden, lösen die pädagogischen Aufgaben nicht. Durch sie geht die Arbeit erst richtig los.
Unterschiedlich sind nach wie vor die intellektuellen Potentiale der Schüler, unterschiedlich ihre soziale Herkunft, unterschiedlich ihre Muttersprache. Auffälliges Verhalten nimmt eher zu statt ab, wie das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ADHS genannt.
Inklusion heißt die pädagogische Methode, welche vorgibt, diese divergierenden, individuellen und sozialen Probleme unter einem gemeinsamen Dach, eben der neuen Sekundarschule besser bewältigen zu können, als früher mit den unterschiedlichen fünf Schulformen. Das ist viel mehr, als nur ein paar überkommene Schulformen zu beerdigen. Selten haben die Lehrer an diesen neuen Sekundarschulen, die in Berlin zum Beispiel alle auch als Ganztagsschulen konzipiert sind, vor so großen Aufgaben gestanden, wie heute.
Soziale Brennpunkte haben sich nur verschoben
Diese neuen Schulen sind eine Vision in ihrer Realisierungsphase. Leider müssen wir erleben, dass sie gerade in den Sand gesetzt wird.
Ein Blick in den Schulalltag zeigt, dass sich die sozialen Brennpunkte nicht etwa aufgelöst, sondern nur verschoben haben. Problemkinder können nicht mehr in der Hauptschule entsorgt werden. Früher sorgten Förderschulen für behinderte Schüler. Das geht heute nicht mehr.
Nicht zuletzt deshalb hat die Schulreform einen Run auf die Gymnasien ausgelöst. Diese müssen mittlerweile jeden Schüler akzeptieren, der sich bewirbt, solange der Platz reicht. Was dazu führt, dass deren Lehrer all jene, die sie nicht für gymnasialfähig halten, eben ein Jahr später wieder entlassen. So füllen sich dann Rückläuferklassen in den Sekundarschulen, manchmal auf bis zu 50 Prozent eines Jahrgangs.
Kurz, die soziale Selektion zwischen Gymnasium und Sekundarschule ist stärker geworden, nicht schwächer. Wenn dann noch zugesagte Mittel gestrichen, Sozialpädagogen ausbleiben, kein Personal für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung gestellt wird, stehen die neuen Sekundarschulen vor unlösbaren Problemen. So werden sie zu Problementsorgungsanstalten, einer Art "Bad Bank" einer Schulverwaltung, für die diese Schulreform nur ein neuer Ansatz der Mittelkürzung war.
Auf der Strecke bleiben die Schüler, bleibt die Integration von Migrantenkindern, bleibt eine an und für sich verheißungsvolle Schulreform, der Erfolg zu wünschen gewesen wäre.
Doch noch ist nicht so weit. Dafür bedarf es einer beherzten gemeinsamen Kraftanstrengung von Schulverwaltung und Schulpolitik. Sonst, und das zeigen die ersten Wahrnehmungen, werden die Chancen, die in dieser Schulreform liegen, sehenden Auges verspielt.
Stephan Hilsberg, 1956 im brandenburgischen Müncheberg geboren, arbeitete in der DDR als Informatiker. Ende der 80er-Jahre engagierte er sich in der Friedensbewegung der Evangelischen Kirche. Am Beginn der friedlichen Revolution 1989 zählte er zu den Gründungsmitgliedern der ostdeutschen SPD, war ihr erster Sprecher und später Geschäftsführer.