Mit Kreativität gegen den Frust
In Kasserine im Westen Tunesiens herrschen Armut und Arbeitslosigkeit: Trotzdem ist der Schauspieler Ghawth Zorgui nach seiner Ausbildung in Tunis hierher zurückgekehrt und unterrichtet Theaterkunde - seit einigen Jahren ein Pflichtfach in den Schulen des Landes.
Die Gerichtsverhandlung zum Fall 440 ist eröffnet. Streng schaut die Richterin auf die Angeklagten, die Zeugin und die Anwältin. Nacheinander ruft sie sie auf und lässt sich die verschiedenen Versionen des Mordfalls schildern.
Durch geschickte Befragung bringt die Anwältin der Angeklagten eine Zeugin zum Geständnis – sie hat den Mord begangen, nicht die beiden angeklagten Männer. Danach wendet sich die Anwältin ans Publikum:
"Ich heiße Tasnim Banani, ich bin 15 Jahre alt und gehe in die 9. Klasse der Mittelschule des Viertels Ennour. Ich möchte Anwältin werden."
Theater-AG zusätzlich zum Pflichtfach
Die Gerichtsszene ist Teil eines Theaterstücks, das Schüler einer Mittelschule in Kasserine im Westen Tunesiens gerade proben. Die fünf Mädchen und zwei Jungen sind Mitglieder der Theater-AG von Ghawth Zorgui. Der 28-Jährige unterrichtet Theaterkunde an der Schule – seit einigen Jahren ist das in Tunesien für Schüler der 7. und 8. Klassen Pflichtfach, sofern sich ein dafür ausgebildeter Lehrer findet. Einmal in der Woche bietet Zorgui zusätzlich diese Theater-AG an. Heute lässt er die Schüler erst einmal die Szene spielen und bespricht sie danach mit ihnen:
"Jeder von Euch verkörpert eine Rolle. Da seid ihr nicht mehr Iman, Tasnim, Hosni oder Saber. Eine Persönlichkeit hat welche Dimensionen? Richtig: Körperlich, psychisch und sozial. Das müsst ihr alles herausarbeiten. Die Persönlichkeit der Anwältin ist anders als die des Angeklagten, das ist nicht das gleiche."
Gerade für die beiden Jungen Hosni und Saber ist es keine Selbstverständlichkeit, hier mitzumachen – ihre Freunde jedenfalls halten nichts davon, berichtet Saber:
"Die Jungs fangen mit Theater nichts an. Sie wollen lieber spielen, interessieren sich nicht für Kultur und wollen nichts Neues ausprobieren. Aber wenn sie einmal das Theaterspielen probierten, würden sie bereuen, dass sie so lange gewartet und andere Dinge vorgezogen haben."
Nicht nur unter pubertierenden Jungs hat das Theaterspiel in Kasserine keinen guten Stand, wie Lehrer Ghawth Zorgui erklärt:
"Im Kulturbereich gibt es hier in Kasserine nur wenige Versuche. Die paar Leute, die das machen, haben nicht viel Erfolg, denn der Staat kümmert sich nicht darum. Wir haben hier kein Theater, nicht einmal ein Kino. Wir bringen diesen Kindern Theaterspielen bei - da sollten wir ihnen doch wenigstens einen Theatersaal zeigen können!"
Ein neues Kultur- und Theaterzentrum
Deswegen setzt Ghawth Zorgui große Hoffnungen in ein neues Kultur- und Theaterzentrum, das demnächst in der Stadt eröffnen soll. Er selbst stammt aus Kasserine, ist aber zum Schauspielstudium nach Tunis gezogen. Die Hauptstadt bietet ein reiches Kulturangebot, aber besonders die Regionen im Landesinnern kommen schon seit Jahrzehnten zu kurz. Genau deshalb ist Zorgui ganz bewusst als Theaterlehrer zurück in seine Heimatstadt gekommen.
"Wir brauchen die Künste, sie müssen ihren Platz als Fächer an den Schulen haben. Damit sie zur Entwicklung der Schüler, der Bürger, der Menschen beitragen. Wenn man kreativ ist, lernt man indirekt seine Rechte und Pflichten als Bürger kennen. Wenn man kreativ ist, geht man vom Menschsein aus. Da erfährt man das Universelle – wir beginnen beim Lokalen und kommen zum Universellen."
Außerdem würden die Mitglieder seiner Theater-AG lernen, sich als Gruppe zu verstehen, verschiedene Meinungen auszudiskutieren und die anderen zu akzeptieren, erklärt Zorgui in einer kurzen Pause auf dem Schulhof, bevor die Theaterprobe weitergeht.
In der zweiten Szene ist ein Mädchen Schauspielerin geworden und spielt Julia, die sich nach Romeo sehnt und ihn schließlich unter ihrem Balkon entdeckt. Ein Liebesdialog entspinnt sich. Ghawth Zorgui hat zuvor noch die beiden Turteltauben ermutigt, ihre Gefühle zu zeigen und die Dialoge entsprechend zu improvisieren.
Als Iman allerdings ihrem Verehrer ein Kompliment zu seinem schönen Vollbart macht, prusten alle los – schließlich ist auf Sabers Wangen ist nicht einmal ein Bartschatten zu entdecken.
Die Jugendlichen haben Spaß bei der Sache – aber Saber, der junge Romeo, weiß genau, dass es hier um Grundsätzliches geht:
"Madame, an dieser Szene sieht man, dass die Liebe nichts Verbotenes ist. Es gibt viele Leute, die sagen, Liebe sei etwas Falsches und Mädchen sollten sich nicht verlieben. Madame, man kann sich ganz schnell verlieben, wie Romeo und Julia. Wir wollen zeigen, dass Liebe keine Schande ist."
Neue Pläne für die Zukunft
Die Idee zum Stück kam von Theaterlehrer Zorgui, aber die Schülerinnen und Schüler haben sie selbst weiterentwickelt. Demnächst werden sie ihr Werk bei einem Schultheaterwettbewerb aufführen.
Rehab: "Unser Theaterstück erzählt, was jeder von uns in Zukunft werden will."
Iman: "Die Idee ist, dass wir unseren Eltern und den Jüngeren klarmachen, dass unser Ehrgeiz größer ist als der von 30-Jährigen. Deswegen wollen wir in die Zukunft reisen, um zu zeigen, dass wir unsere Pläne verwirklichen können. So können uns die Leute nicht mehr verachten."
Tasnim: "Unser Stück handelt von unserer benachteiligten Gegend. Die Leute denken, aus unserer Generation könne gar nichts werden. Sie schauen nur darauf, wie viele sitzen bleiben. Wir wollen ihnen zeigen, dass wir gute Sachen machen können und dass wir Dinge, die wir gerne tun, auch hinbekommen – auch in diesem Land."