Schwabinger Kunstfund

Greift das Völkerrecht?

Ex-Staatminister Michael Naumann im Gespräch mit Joachim Scholl |
Der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann hat die Bundesregierung aufgefordert zu klären, welche der Bilder aus der beschlagnahmten Sammlung Gurlitt aus dem Ausland stammen. In diesem Fall gehe es nicht nur um Raubkunst, sondern auch um völkerrechtlich relevante Fragen des Diebstahls in den ehemals besetzten Staaten.
Joachim Scholl: Immer mehr wird der Fall Gurlitt zum grundsätzlichen Kasus über die deutsche Rechts- und Gesetzeslage. Wie sich diese genau darstellt, ist auch umstritten. "Wir prüfen erst den Sachverhalt und schauen dann mit der passenden rechtlichen Brille drüber" – diese irritierende Aussage war etwa vom Oberstaatsanwalt Matthias Nickolai von der Staatsanwaltschaft Augsburg zu hören. Am Telefon begrüße ich jetzt Michael Naumann, Kulturstaatsminister in der Regierung Schröder von 1998 bis 2001. Guten Tag, Herr Naumann!
Michael Naumann: Guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Sie waren in Ihrer Zeit als Staatsminister, Kulturstaatsminister mehrfach befasst mit dem Thema Raubkunst. Helfen Sie uns mal an dieser Stelle – welche rechtliche Brille, um im Augsburger Bild zu bleiben, passt denn Ihrer Meinung nach in diesem Fall?
Naumann: Also erst einmal muss der Tatbestand aufgeklärt werden, und offenkundig hat die Staatsanwaltschaft in Augsburg etwas Schwierigkeiten gehabt. Immerhin sind sie fast schon seit zwei Jahren oder – in jedem Falle für weit über ein Jahr im Besitz dieser Bilder und haben immer noch nicht geklärt, wem eigentlich was gehört und wie es eigentlich in den Besitz von Herrn Gurlitt gekommen ist. "Der Spiegel" schildert ihn ja als einen alten, zerbrechlichen Mann, aber der ist bekanntlich nicht als 80-Jähriger auf die Welt gekommen, sondern hatte diese Bilder aus offenkundig gutem Grund versteckt. Und dass er in diesen ganzen Jahren von nichts anderem gelebt hat als von Konserven, glaube ich auch nicht, sondern er wird eben auch andere Bilder verkauft haben über den deutschen, Schweizer und vielleicht auch anderen Kunsthandel. Das ist also der Sachverhalt.
Die Staatsanwaltschaft sagt, das sind über 500 Bilder, die gewissermaßen den jüdischen Besitzern abgepresst worden sind respektive als entartete Kunst auch den Museen, gewissermaßen von Staat zu Staat enteignet worden sind und dann irgendwie in die Hände des damaligen Hildebrand Gurlitt, also des Kunsthändlers, der auch für Hitler unterwegs war und für Göring, geraten, und möglicherweise sind sie von ihm auch unterschlagen worden. Das ist alles schwer festzustellen, vor allem, nach deutschem Recht sind alle diese Delikte mehr oder weniger verjährt. Er hat sich das also, guten Glaubens diese Kunstwerke ersessen, obwohl er in Wirklichkeit nicht guten Glaubens gewesen sein kann. Das ist ganz unmöglich. Dumm ist er nicht.
Also, Herr Scholl, in wenigen Worten: Was ist denn die eigentliche rechtliche Handhabe, die übrig bleibt? Und da schreibt nun Götz Aly, ein großer Experte auf diesem Feld heute in der "Zeit" einen faszinierenden Artikel, aus dem Folgendes hervorgeht: Die deutschen Kunsthändler, die im Ausland, im besetzten Ausland auf Einkaufstour fürs Dritte Reich gingen, haben entweder – es wurden natürlich auch Bilder einfach krass gestohlen, das war zum Beispiel der berühmte Matisse im Besitz von Herrn Gurlitt. Der gehörte dem Paul Rosenberg, einem der ganz großen Kunstgalerieauktionatoren und -händler. Ohne ihn kein Picasso, kein Matisse, kein Braques. Die wurden dem einfach gestohlen und gehören eigentlich Anne-Marie Sinclair, das ist eine bekannte Journalistin, die auch bekannt geworden ist dadurch, sie ist die Erbin von Rosenberg, oder eine der Erben von Rosenberg, die nach diesem Bild lange gefahndet hat. Dann liegt es die ganze Zeit bei der deutschen Staatsanwaltschaft.
Das ist schon verblüffend. Aber: Götz Aly hat festgestellt, dass diese Kunsthändler mit Krediten der Deutschen Reichsbank unterwegs waren. Diese Kredite wurden im besetzten Paris eingelöst von einer Außenstelle der Deutschen Reichsbank, und die gaben denen Francs. Aber diese Francs entnahmen sie, damit die dann ihre Bilder kaufen konnten, entnahmen sie nicht etwa ihrer eigenen Kasse, sondern der Staatskasse der Franzosen. Das heißt mit anderen Worten, der französische Staat, der besetzte Staat wurde, um es klar zu sagen, bestohlen, damit Kunsthändler natürlich auch unter Druck von jüdischen Besitzern oder auch von anderen Besitzern diese Bilder abkaufen konnten. Bezahlt hat also nicht etwa der deutsche Staat, sondern bezahlt haben die Franzosen.
Kunsthändler waren mit Krediten der Reichsbank unterwegs
Scholl: Gut. Gestohlene Bilder wurden also mit gestohlenem Geld verkauft, und die Pointe ist jetzt, Herr Naumann, dass sozusagen dieser Diebstahl …
Naumann: Der ist dann völkerrechtlich relevant, und da gibt es keine Verjährung.
Scholl: Und wir sind jetzt mal genau bei dieser Verjährungsfrist. Das ist ja sozusagen jetzt irgendwie das Passe-Partout, weil man sagt, wir können eigentlich gar nichts machen. Diese Verjährungsfrist, wissen Sie, da fragt sich jeder Laie auch: Warum ist die überhaupt für diese Art von Verbrechen, für diese Art von Delikt überhaupt auf 30 Jahre festgesetzt worden – ist ja eigentlich ein Witz, wenn man es sich anschaut. Es ist in den 30er-, 40er-Jahren passiert, nur 30 Jahre. Warum ist diese Verjährungsfrist nie aufgehoben worden?
Naumann: Da gibt es einen sehr peinlichen Grund. Das Dritte Reich war eine höchst räuberische Organisation und ist über ganz Europa hergezogen und hat gestohlen, was sie nur konnte. Tonnenweise Gold aus den Schatzkästen, aus den Banken der besetzten Gebiete, oder um es noch mal anders zu sagen: Das Dritte Reich hatte bis zum letzten Tag seiner Existenz einen ausgeglichenen Haushalt. Da gab es keine Defizite, trotz Krieg.
Scholl: Weil alles geklaut wurde, was nicht niet- und nagelfest war.
Michael Naumann
Michael Naumann© picture alliance / dpa - Robert Schlesinger
Naumann: Es wurde gestohlen und geraubt ganz im Stil dieses Systems. Alles natürlich mit Verwaltungsvorschriften untermauert. Diese Frage der Restitution des geraubten Guts, von Bildern mal ganz abgesehen, sondern auch von den großen Staatsschätzen, also den Devisen, dem Gold. Dieses zu restituieren, in den 50er-, 60er-Jahren, hätte zu einer totalen und ewigen Pleite der Bundesrepublik geführt. Es war also buchstäblich im Interesse der Bundesrepublik, hier so zu tun, als ob nichts geschehen wäre, und so hat man denn auch in den 50er-Jahren alle diesbezüglichen Akten der Reichsbank in der Banknotenverbrennungsanstalt der Deutschen Bundesbank, die sich nicht als Nachfolgerin der Reichsbank empfand, verbrannt. Das heißt, die Spuren verwischt.
Nun muss man wissen, die Leute, die das mit angeordnet haben, waren zum Teil selber noch Mitglieder eben jener Reichsbank gewesen, die diese Raubzüge abgewickelt hat. Also, gelinde gesagt, gab es zum einen, was Kunst betrifft, überhaupt kein Unrechtsbewusstsein in deutschen Museen, die diese Sachen oft genug in den Depots, die sie auf irgendeine Weise erlangt hatten, versteckten. Und Fahnder aus den seinerzeit nicht mehr besetzten Gebieten, ob die aus Italien kamen oder aus Frankreich, wurde zum Beispiel der Zugang zum Depot der Münchener Pinakothek verweigert. Also da kommen sehr, sehr viele verschiedene Motive zusammen, aber eben unter anderem auch, das darf man nicht vergessen, der Sachverhalt, dass eine Totalrestitution, also Wiedergutmachung im weitesten Sinne, abhängig gemacht worden wäre von einem Friedensvertrag à la Versaille, und diesen Friedensvertrag hat es aufgrund auch des Kalten Krieges mit Deutschland nie gegeben.
Scholl: Die Rechtslage im Fall Gurlitt. Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem ehemaligen Staatsminister für Kultur, Michael Naumann. In Ihre Amtszeit, Herr Naumann, fiel die Washingtoner Erklärung, wonach 1998 sich viele Staaten dazu verpflichtet haben, für die Restitution von Raubkunst zu sorgen. Das wurde als großer Fortschritt begrüßt, jetzt, auch wieder durch den aktuellen Fall, werden die Defizite aber auch aufgelistet, weil sie zum einen nur öffentliche Sammlungen meint und auch rechtlich nicht bindend ist. Dieses Abkommen hilft jetzt wenig, nicht wahr?
Naumann: Das hilft wenig, denn es handelte sich in der Tat um eine moralische Verpflichtung. Aber ich erinnere mich noch sehr gut: Als ich damals, auch nachdem die Schröder-Regierung, also auch mit meiner Mitarbeit, diese Washingtoner Erklärung verabschiedet hat, habe ich Briefe an die führenden deutschen Museen geschickt und sie aufgefordert, doch bitte mal die Provenienzforschung in den eigenen Häusern zu expedieren. Da hab ich eigentlich keine Antwort bekommen, ich glaube, bis auf eine, sodass eigentlich nur – so viel zum deutschen Kulturföderalismus –, sodass eigentlich nur die Stiftung Preußischer Kulturbesitz unter der Leitung von Klaus-Dieter Lehmann sofort aktiv wurde und in der Tat dann sehr schnell einige sehr bedeutende Bilder entdeckte, die in Wirklichkeit jüdischen Besitzern respektive den Erben derselben gehörten. Und die wurden dann auch ohne viel Aufsehens restituiert. Und das ist aber leider in den anderen Museen oft genug nicht der Fall gewesen. Manchmal waren die Fälle kompliziert, aber insgesamt kann man schon sagen, es gibt so eine Art Possessivcharakter bei den Museumsdirektoren in Deutschland, die schon der Meinung sind, was wir erst mal haben, das wollen wir auch behalten.
Scholl: Was müsste jetzt, um diesen Fall Gurlitt nicht wieder auch zu einer internationalen Peinlichkeit im Umgang mit NS-Raubkunst zu machen, was müsste Ihrer Meinung nach und auch Ihrem Verständnis und Ihrem Erfahrungshintergrund als Kulturstaatsminister, der sich vielfach damit beschäftigt hat – was müsste jetzt politisch passieren, damit dieser Fall wirklich in einvernehmlichem und juristisch auch einwandfreiem Wege geordnet werden könnte?
Wenn Staaten bestohlen wurden, ist das völkerrechtlich relevant
Naumann: Tja, das ist schwer zu sagen. Also insgesamt ist der Ansatz, den ich anfangs unseres Gespräches erwähnte, vielleicht relevant, nämlich in der Tat mal zu schauen, gibt es hier nichts, was zumindest im Ausland gekaufte Kunstgüter betrifft, geht es hier nicht etwa um Raubkunstfragen, sondern auch um völkerrechtlich relevante Fragen des Diebstahls an den besetzten Staaten, und zwar von Kulturgütern?
Das widerspräche der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung und diversen anderen Regelungen, sodass im Grunde genommen der Staat hier, und zwar die Bundesregierung hier aktiv werden müsste. Das Justizministerium zum Beispiel mithilfe des Außenministeriums und des Staatsministers für Kultur, die schauen, welche dieser etwa 590 dubiosen Bilder aus der Sammlung Gurlitt stammen eigentlich aus dem Ausland, und wie sind sie in den Besitz des Vaters Gurlitt gekommen. Und dann sollten sie in der Tat an die Staaten, aus denen sie stammen, restituiert werden, sofern sie dort mit diesen merkwürdigen, komplizierten Kreditgeschäften erworben worden sind, die Herr Aly heute in der "Zeit" beschreibt.
Scholl: Sind die denn noch nachweisbar?
Naumann: Da glaube ich schon, dass da einiges noch geht, aber wie gesagt, es sind ja eben unendlich viele Akten, Tausende von Akten von in der Deutschen Bundesbank 1975 verbrannt worden. Man fragt sich dann schon, was war da eigentlich, was waren das für Leute, die das getan haben? Es widerspricht ganz gewiss auch dem Bundesarchivgesetz, was da geschehen ist.
Scholl: Die Meinung des ehemaligen Staatsministers Naumann zum Fall Gurlitt und der Gesetzeslage. Besten Dank für dieses Gespräch, Herr Naumann!
Naumann: Bitte, Herr Scholl!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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