Schwangerschaft

Warum zu viel Obst gefährlich sein kann

Eine schwangere Frau hält einen Apfel in der Hand.
Vitamine sind wichtig für Schwangere. Aber eine Überdosis Polyphenole kann gefährlich werden. © Hans Wiedl/ dpa-zentralbild
Von Udo Pollmer |
Viel Obst hilft viel? Nicht unbedingt! Denn wenn Schwangere Unmengen Orangensaft, Äpfel oder Kräuter konsumieren, kann das zu einem Risiko für das Kind werden.
Bisher waren die pflanzlichen Polyphenole in frischem Obst, grünem Tee und aromatischen Kräutern vor allem eins: rundum gesund. "Laborexperimente", so das Bundeszentrum für Ernährung, "haben gezeigt, dass Polyphenole antioxidativ, entzündungshemmend und blutdruckregulierend wirken und das Immunsystem beeinflussen können."
Nun fällt ein grauer Schatten auf die blütenweiße Weste der wundersamen Phenole: Spiegel Online berichtet von einer Schwangeren, die durch entschlossenem Konsum von Orangen beinahe ihr Baby verloren hätte. Ursache war ein verengtes Blutgefäß, der Ductus arteriosus. Er regelt beim Ungeborenen die Versorgung der Lunge mit sauerstoffhaltigem Blut. Nach der Geburt übernimmt die Lunge diese Aufgabe, der Ductus arteriosus ist überflüssig und wird dichtgemacht.
Eine Verengung oder gar Verschluss dieses Gefäßes vor der Geburt wird gewöhnlich als Nebenwirkung von Schmerzmitteln angesehen. Doch viele betroffene Frauen haben gar keine Arzneimittel eingenommen. Zudem steigt die Zahl der Fälle kontinuierlich an. Als Ursache gerieten nun die Polyphenole ins Visier der Mediziner. Untersuchungen an Schwangeren haben inzwischen bestätigt, dass das Risiko eines verengten Ductus unmittelbar mit der Zufuhr an Polyphenolen steigt – exakt so wie mit Schmerzmitteln. Schlimmstenfalls kommt es zu einer Fehlgeburt.

Polyphenole dienen der Schädlingsabwehr

Bedenkt man die biologischen Aufgaben der Polyphenole, dann ist Skepsis angebracht. Die Pflanze verwendet sie, um Schädlinge abzuwehren. Viele Pflanzen rüsten ihre Samen damit aus, um sie vor Vogelfraß zu bewahren. Polyphenole machen Eiweiß unverdaulich und blockieren die Resorption von Eisen. Sie schädigen die Verdauungsenzyme. Erhöhte Gehalte im Futter beeinträchtigen auch in freier Wildbahn das Wachstum von Pflanzenfressern wie beispielsweise von Hirschen.
Weil Polyphenole, besonders die Tannine, Eiweiß denaturieren, also ungenießbar machen, werden sie zum Gerben von Leder genutzt. Bei Obst und Gemüse stecken die bitteren und zusammenziehenden Gerbstoffe in den Kernen und in der Schale. Für die Lebensmittelverarbeiter sind die Deponiegebühren für derartige Abfälle ärgerlich. Da kommt ihnen der Polyphenol-Hype sehr zu pass: Nun werden die Reste in Pillenform verkauft.
Glaubt man den Internet-Sagas, dann schützen Polyphenole sogar vor Krebs, ein Grund warum viele Schwangere überzeugt sind, durch reichlich Obst und Gemüse ihrem Nachwuchs Gutes zu tun. Leider hat sich diese These, unbemerkt von der Öffentlichkeit, schon vor Jahren in Luft aufgelöst: Die große EPIC-Studie mit einer halben Million Teilnehmern aus ganz Europa erbrachte keinen greifbaren Krebsschutz durch Obst und Gemüse.
Manchmal trifft das Gegenteil zu: Einige Polyphenole (z. B. Genistein, Quercetin) stehen im dringenden Verdacht, Leukämie zu verursachen, weil sie während der Schwangerschaft das Erbgut des Babys angreifen. In Verbindung mit Medikamenten ist mit weiteren unerwünschten Effekten zu rechnen: Polyphenole legen wichtige Entgiftungsenzyme lahm (Cytochrom P450 Enzyme).

Kein Grund zur Panik

Um sich vor den unerfreulichen Folgen einer Überdosis Polyphenol zu schützen, bildet der Mensch in seinem Speichel in erheblicher Menge spezielle Eiweiße, denen es obliegt, diese Naturstoffe noch während des Kauens abzufangen.
Es gibt abertausende verschiedene Polyphenole, und es gibt von Mensch zu Mensch große Unterschiede in der Fähigkeit damit zurechtzukommen. In geringer Menge entfalten einige von ihnen von Fall zu Fall auch günstige Effekte. Deshalb sollte sich niemand davon abhalten lassen, seinen geliebten Kaffee zu trinken oder einen leckeren Kräuterquark zu essen, auch wenn darin Polyphenole enthalten sind – aber es sollte sich auch niemand dazu verpflichtet fühlen.
Das gilt ganz besonders während der Schwangerschaft. Weil das Risiko für das ungeborene Leben groß ist, steht der Appetit der Schwangeren unter enger metabolischer Kontrolle. Oft entwickeln Schwangere bei Tisch sehr eigenwillige Gelüste. Diese dienen dem Gedeihen ihres Kindes. Mahlzeit!
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