Schwarmintelligenz

Die Weisheit der Vielen

07:16 Minuten
Schwarm Großaugen-Makrelen im Indischen Ozean
Im Schwarm können diese Großaugen-Makrelen dem Hai besser entkommen. © imago / imagebroker / Norbert Probst
Von Marko Pauli · 18.11.2021
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In Schwärmen treffen Fische meist bessere Entscheidungen, entkommen ihren Fressfeinden beispielsweise eher. Das gilt oft auch für Menschengruppen, haben Forscher herausgefunden. Manchmal versagt aber die Schwarmintelligenz, zum Beispiel im Internet.
Fische schwimmen seit Millionen Jahren in Schwärmen. Das hat für sie viele Vorteile: Umgeben von Artgenossen stehen die Chancen besser, dass man selbst nicht vom Fressfeind erwischt wird, und die Augen vieler sehen bekanntlich mehr.
„Wir beobachten Süßwasserfische, kleine Arten, die man im Labor einfach halten und züchten kann“, sagt Jens Krause, Professor am Leibniz Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin (IGB). „Aus denen kann man Schwärme machen. Dann gucken wir, wie die Leistung des Schwarms wächst als Funktion seiner Größe.“

Im Schwarm intelligenter als allein

Die größte Leistung des Schwarms ist der Schutz vor Räubern. Damit aber eine geordnete Massenbewegung stattfindet, muss jeder Fisch ein paar Regeln befolgen, sich etwa immer an den direkten Nachbarn orientieren und gleichzeitig einen konstanten Abstand zu ihnen einhalten. Mit Kameras beobachtet Jens Krause das Verhalten, wenn der Schwarm mit der Nachbildung eines Räubers konfrontiert wird.
„Da kann man sehen, dass der Einzelfisch nur mit 55- bis 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit den Räuber entdeckt und dann in die sichere Richtung schwimmt. Befindet der sich aber in einem Schwarm von 16 Fischen, dann tut er das mit 85 bis 90 Prozent Wahrscheinlichkeit. Ein gewaltiger Anstieg in der Wahl des sicheren Weges, und die Fische machen das auch erheblich schneller, wenn sie in der Gruppe sind.“
Nur – warum funktionieren Fische so gut im Schwarm? Liegt es womöglich an nicht vorhandener Individualität? David Bierbach, ebenfalls vom IGB, hat die sich selbst klonende Fischart Amazon Molly beobachtet, bei der alle Fische über die gleiche DNA verfügen. Er hat die Individuen separiert und unter genau gleichen Bedingungen aufwachsen lassen.
Ergebnis: „Sie hatten die gleichen Gene, die gleiche Umgebung, und doch unterscheiden sie sich durchweg in ihrem Verhalten.“ Es könne also durchaus Persönlichkeit unter Fischen geben.

Neue Eigenschaften durch das Zusammenwirken

Jeder Fisch als Individuum, so Jens Krause, trägt dabei zur Schwarmintelligenz bei. Im Schwarm ergibt sich sogenannte Emergenz – neue Eigenschaften infolge des Zusammenspiels der Elemente. „Der einzelne Fisch hat verschiedene kognitive Möglichkeiten. Aber wir sehen, dass diese Möglichkeiten extrem erweitert werden, wenn der Fisch schon mit einem oder zwei anderen zusammen ist.“
Das erkläre, warum die Schwarm- und Gruppenbildung im Tierreich so erfolgreich sei. „Es wird sicher einer der Faktoren sein, warum auch Menschen häufig in Gruppen sind.“

Schwarm-Mechanismen bei Menschen

Ralf Kurvers, Gruppenleiter "Kollektive Intelligenz" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, untersucht, ob sich bei Menschen ähnliche Schwarm-Mechanismen finden lassen. In einem Vortrag veranstaltet er ein Experiment mit dem Publikum.
Auf einem Bild ist etwa siebzigmal die Abbildung eines Thunfischs zu sehen – und ein paar davon nur schwer unterscheidbare Bilder von Haien. Die Besucher sehen das Bild nur zwei Sekunden und müssen dann entscheiden, ob weniger oder mehr als vier Haie zu sehen waren – ob sie als Thunfische also besser fliehen oder bleiben sollten. In der Kürze der Zeit kann man die Anzahl der Haie nur erahnen, muss sich aber schnell entscheiden.
Zehn sagen fliehen, 37 sagen bleiben. Das Ergebnis wird der Gruppe mitgeteilt, danach können alle ihre Entscheidung überdenken. Die meisten tun es zunächst nicht.

Schwärme sind schwer zu täuschen

Schon in der zweiten Runde aber hat die Information über das Gruppenverhalten einige dazu bewegt, bei der Revision ihre Meinung in Richtung Mehrheit anzupassen, die in dem Fall die richtige Antwort gab.
„Wir machen in der Regel 30 bis 40 dieser Runden und stellen im Verlauf einen starken Lerneffekt fest“, sagt Ralf Kurvers. „Anfangs sind die Leute zögerlich, sich auf soziale Informationen zu verlassen, aber dann merken sie, dass sie nützlich sind und fangen an, der Mehrheit zu folgen. Wenn wir uns die Ergebnisse anschauen, sehen wir, dass die Individuen mit sozialen Informationen ausgestattet viel eher entkommen. Nach dem Erhalt der Informationen waren sie auch in der Lage, falsche Entscheidungen der Mehrheit herauszufiltern. Je größer die Gruppe, umso besser hat das geklappt."
Schwärme sind schwer zu täuschen. Das beobachtet auch Jens Krause in den Aquarien des IGB. Lässt er etwa einen in den Schwarm integrierten Roboterfisch flüchten, reagiert der Schwarm nicht automatisch ebenfalls mit Flucht, sondern tut das erst ab einer genau austarierten Anzahl Flüchtender.
„Und dieser Schwellenwert liegt etwas höher als die normale Rate für einen Irrtum im Schwarm für den Einzelnen. Das heißt, wenn sich 20 Prozent der Fische häufig irren, dann würden die Fische erst reagieren, wenn mehr als 20 Prozent wegschwimmen wollen. Dann wäre das ein Anzeichen dafür, dass der Prozentsatz, der weg will, höher ist als die spontane Irrtumsrate in dieser Gruppe. Das ist ein relativ raffiniertes Verfahren“, auf dem inzwischen auch ein Algorithmus basiert, der helfen soll, ärztliche Irrtümer bei der Diagnostik von Brustkrebs auszuschließen.
Doch die Schwarmintelligenz lässt sich nicht überall anwenden. Versuche an der Börse etwa, mit Fonds, die auf die Intelligenz vieler Investoren setzen, sind gescheitert. Der Grund: Zwischen den einzelnen Investoren gab es Absprachen. Doch um die Weisheit des Schwarms nutzen zu können, ist es wichtig, dass jeder Einzelne eben nicht weiß, was die anderen entscheiden. 

Wenig Schwarmintelligenz im Internet

Auch das Internet führt nicht automatisch zu mehr Schwarmintelligenz, sagt Pawel Romanczuk, der an der Humboldt-Universität Berlin zu Netzwerkstrukturen forscht. Social-Media-Algorithmen beispielsweise zielten vor allem darauf ab, Follower für bestimmte Inhalte zu generieren, etwa, indem User gezielt mit emotionalen Nachrichten angesprochen werden.
Es geht gerade nicht darum, kollektives Wohlbefinden zu steigern – oder die kollektive Entscheidungsfähigkeit zu verbessern. „Die Netzwerkstruktur bewirkt genau das Gegenteil von dem, was das Zusammenrücken für die Fische bewirkt. Sie behindert die Konsensbildung komplett und macht es eine Gesellschaft als Ganzes viel schwieriger, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten.“
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