Schwarz-weißes Wunderwerk

Das Buch "Bei Vollmond" ist eines dieser Bücher, das sowohl 4-Jährige als auch 94-Jährige faszinieren könnte: poetische Scherenschnitte in schwarz-weiß beleuchten das Leben im Wald bei Vollmond. Kunstvoll spielt Antoine Guilloppé mit unserer Wahrnehmung: Die Magie einer Vollmondnacht.
Ein ganz ungewöhnliches Buch hat der französische Bilderbuchkünstler Antoine Guilloppé mit "Bei Vollmond" geschaffen: Seine großen, fast quadratischen "Bilder" sind weder gemalt oder fotografiert noch farbig. Sie sind ausgestanzt wie Scherenschnitte und ausschließlich schwarz-weiß, und damit für Erwachsene ebenso faszinierend wie für Kinder.

"Bei Vollmond" erzählt eine ganz kleine, leise Geschichte. Auf jeder Doppelseite gibt es nur einen kurzen Satz: In einer Vollmondnacht geht etwas Sonderbares im Wald vor sich. Wolf und Fuchs, Uhu, Hirsche und Wildschwein lauschen auf ein Geräusch. Sie alle spüren, die Nacht verbirgt ein Geheimnis! Und es ist wirklich etwas ganz Wunderbares passiert: ein Bärenjunges wurde geboren. Über dem zusammengerollt schlafenden Tierkind steht auf der letzten Seite leuchtend der weiße Vollmond. Wie der Stern von Bethlehem über dem Stall des Christuskindes.

Ob Märchen, Fabel oder Weihnachtserzählung - Antoine Guilloppé hat seine zauberhafte Geschichte ebenso elegant wie eindrucksvoll in Szene gesetzt. Eine genial einfache Idee liegt den filigran ausgestanzten Tierbildern zugrunde: Weiße und schwarze Doppelseiten wechseln einander ab, hinter schwarzen "Scherenschnitten" leuchtet damit weißer Grund, hinter weißen Figuren lauert schwarzer Abgrund. Wunderbar zart sind die einzelnen Tierportraits, eingebettet in verzweigtes Buschwerk oder geschützt von einem durchsichtigen Blätterdach. Blättern man die Seite um, sieht man die Tiere spiegelverkehrt. Was vorher schwarz auf Weiß war, ist nun Weiß auf Schwarz - und umgekehrt.

Sieht man den Uhu als schwarzen Scherenschnitt vor weißem Grund auf einer rechten Buchseite, ist er, nach dem Umblättern, auf der linken Seite Weiß auf Schwarz zu sehen. Breitet die Fledermaus rechts ihre weißen Schwingen vor schwarzer Nacht aus, so fliegt sie einem auf der nächsten Seite Schwarz auf Weiß entgegen. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich dasselbe Tier wirkt, je nachdem, ob es schwarz auf Weiß oder weiß auf Schwarz erscheint!

Vor strahlendem Weiß sind die schwarz ausgestanzten Tiere recht unheimlich, bedrohlich, gefährlich. Sehr dunkel, fast beängstigend. Und vor dem düsteren Schwarz wirken dieselben Tiere - spiegelverkehrt - und in Weiß eher lustig, komisch und heiter. Schwarz und Weiß schaffen so eine unterschiedliche Atmosphäre. Diese künstlerisch wirksam werden zu lassen ist sicherlich eine Hauptidee des Buches.

"Bei Vollmond" zwingt dazu, die "normalen" Vorstellungen von einem Bilderbuch zur Seite zu legen und die von Farbeindrücken überschwemmten Augen auf Monochromie umzustellen. Auch den Tastsinn darf man vorsichtig an den feinen Bildern ausprobieren. Als Erwachsener wird man unwillkürlich an die selbst gebastelten Martinslaternen und Transparente der Kinderzeit erinnert. Und Kinder werden beeindruckt sein von einer stillen nächtlichen Welt, in der sie alle Tiere erkennen können, obwohl es doch so dunkel ist.

Besprochen von Sylvia Schwab

Antoine Guilloppé: Bei Vollmond
Knesebeck Verlag, München 2011
36 Seiten, 19,95 Euro