Das Olympia-Attentat von 1972
Weltoffen sollten sie sein, die Olympischen Spiele 1972. Doch dann erschüttert ein Attentat palästinensischer Terroristen auf das israelische Mannschaftsquartier München und die Welt. Den ermordeten Athleten wird bis heute jedes Jahr gedacht.
Es ist ein ruhiger Sommerabend in Netanya, einer Mittelmeerstadt nördlich von Tel Aviv. Gilad Weingarten sitzt auf seiner Dachterrasse und genießt die leichte Brise vom Meer, die die Hitze des Tages erträglicher macht. Auf seinem Smartphone zeigt der rüstige Senior Bilder seiner Kinder und Enkel. Er ist stolz auf sie, denn sie sind wie er große Sportler. Gilad blickt auf eine große Karriere zurück, als Athlet, Sportwissenschaftler und erster Sportkommentator im israelischen Fernsehen. Sein Debüt erlebt er in München 1972. Olympia im israelischen Fernsehen gab es bis dahin noch nie. Ben Gurion mochte das Fernsehen nicht.
Die Olympischen Spiele in München sollten zum schillernden Auftakt einer Sportberichterstattung im israelischen Fernsehen werden. Weingarten arbeitet damals als Dozent an der Sportschule für die israelischen Olympioniken, dem Wingate Institute in Netanya. Er ist gut befreundet mit den jungen Athleten und Trainern der olympischen Delegation. Am Vorabend des Abflugs nach München feiern sie gemeinsam ein besonderes Ereignis:
"Wir feierten die Beschneidung des neugeborenen Sohnes von Muni Weinberg. Der Ringertrainer, der der erste war, der in München ermordet wurde. Du kannst dir vorstellen, wie schön das Gefühl war. Das Paar war schon lange verheiratet und nun hat es geklappt."
Gelockerte Sicherheitsbestimmungen
Ausgelassen und glücklich starten sie am nächsten Tag nach München. Gilad Weingarten sucht sich mit einem Schwimmtrainer ein einfaches Zimmer zur Untermiete. Die anderen Athleten und Trainer kommen im Olympischen Dorf in der Connollystraße 31 unter, was ihnen später zum Verhängnis werden sollte.
Die Atmosphäre in München sollte bei diesen Spielen besonders weltoffen sein. Die Sicherheitsbestimmungen waren gelockert worden, um sich von den letzten deutschen olympischen Spielen in der Hitlerzeit abzugrenzen. Es sollten die Spiele der freundschaftlich verbundenen Völker der Welt werden.
Auch die Münchnerin Charlotte Knobloch erinnert sich an diese besondere Stimmung: "Die Olympischen Spiele in München, das war eine Herausforderung und ein wunderschöner Gedanke, der in die Realität umgesetzt wurde. Die herrlichen Farben sind mir bis heute in Erinnerung."
Geiselnahme von elf Athleten
Die Stürmung des israelischen Mannschaftsquartiers durch palästinensische Terroristen unterbricht diese sorglosen Spiele. Elf Athleten werden von den Terroristen in ihre Gewalt gebracht, zwei von ihnen gleich getötet. Darunter auch Gilad Weingartens Freund Moshe Weinberg, genannt Muni, der kurz zuvor Vater geworden ist. Die Nachricht von dessen Tod ließ Gilads Frau Chaya in Israel verzweifeln:
"Weinberg und Weingarten – das klang sehr ähnlich und Chaya hörte Weingarten, sie hörte Weingarten und sie war schwanger. Und dann rief ich zu Hause an und beruhigte sie. An dem Tag hatte ich frei und ging für meine beiden Jungen in eines der großen Kaufhäuser einkaufen und ich sah auf den Fernsehschirmen Menschen der israelischen Delegation. Und ich wollte nicht glauben, dass etwas passiert sein könnte."
"Weinberg und Weingarten – das klang sehr ähnlich und Chaya hörte Weingarten, sie hörte Weingarten und sie war schwanger. Und dann rief ich zu Hause an und beruhigte sie. An dem Tag hatte ich frei und ging für meine beiden Jungen in eines der großen Kaufhäuser einkaufen und ich sah auf den Fernsehschirmen Menschen der israelischen Delegation. Und ich wollte nicht glauben, dass etwas passiert sein könnte."
Schnell kehrt Gilad Weingarten ins Medienzentrum zurück und verfolgt den Fortgang der Geiselnahme. Die Münchnerin Charlotte Knobloch ist zur selben Zeit beunruhigt. Sie sorgt sich um ihre Tochter:
"Meine Tochter war Hostess bei den Olympischen Spielen. Es gab ja damals noch kein Handy. Ich konnte sie nicht erreichen. Man hat versucht irgendwelche Telefone zu den Olympischen Spielen zu bekommen, aber es war unmöglich. Also ich war den ganzen Tag nicht informiert, was passiert ist. Ob irgendwie meine Tochter verletzt wurde oder ob irgendetwas passiert ist. Sie sehen an meiner Aussage wie schrecklich diese Stunden für mich waren, bis sie sich dann nachts gemeldet hat. Im Laufe des weiteren Abends hat man von dem schrecklichen Attentat gehört. Und ich habe Gott gedankt, dass meine Tochter nicht an diesem Platz war, an dem es eigentlich passiert. […] Am nächsten Tag konnte ich meine Tochter wieder in die Arme schließen."
Einigen Sportlern gelingt es, den Attentätern zu entkommen. Unter ihnen ist auch die Nachwuchsathletin Aviva Ballas, wie sich Gilad Weingarten erinnert: "Aviva war in unserem Nationalteam, sie war aber keine Athletin die startete, sie war nur mit dabei. Die 800-Meter-Läuferin war auch im olympischen Dorf untergebracht. Sie schlief dort in der Nacht, als die Terroristen reinkamen. Glücklicherweise hörten sie sie nicht. Sie überlebte. Sie rannte davon, panisch im Pyjama und gelangte in das nächste Gebäude, wo die Schweizer Delegation untergebracht war. Sie rannte in den Raum der Schweizer Gewichtheber – große Kerle. Und Nikola Linberger war im nationalen Team und gab ihr etwas Tee und alle halfen ihr, sich zu verstecken, beruhigten sie und sprachen ihr Mut zu. Und drei Jahre später heiratete sie diesen Nikola Linberger und sie haben drei Kinder."
Anders ergeht es den Gefangenen: Sie sitzen fest. Die israelische Regierung lehnt die Forderung der Geiselnehmer nach Freilassung palästinensischer Gefangener ab. Die überforderte Bundesregierung versucht, die Geiselnahme unblutig zu beenden. Aber die Verhandlungen scheitern. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher bietet sich selbst als Austauschgeisel an – ohne Erfolg, wie Genscher rückblickend konstatiert:
"Ich dachte: 'Was kannst du machen, du selbst?' und dann habe ich am Ende gesagt: 'Das darf nicht sein, dass in Deutschland wieder Juden ermordet werden.' Und deshalb bot ich mich als Geisel an. Der Anführer, mit dem ich verhandelte, der hatte oben in den Brusttaschen seines Anzugs abzugsbereit zwei Handgranaten und hatte immer die Hand am Bügel. Und dann hab ich gesagt, dann lassen sie mich doch wenigstens zu den Leuten hingehen. Und dann gingen dann zwei Leute mit der MP hinter mir her und dann sind wir da hingegangen und ich sah da diese verzweifelte Menschen sitzen. Also das vergessen sie alles nie wieder."
"Ich dachte: 'Was kannst du machen, du selbst?' und dann habe ich am Ende gesagt: 'Das darf nicht sein, dass in Deutschland wieder Juden ermordet werden.' Und deshalb bot ich mich als Geisel an. Der Anführer, mit dem ich verhandelte, der hatte oben in den Brusttaschen seines Anzugs abzugsbereit zwei Handgranaten und hatte immer die Hand am Bügel. Und dann hab ich gesagt, dann lassen sie mich doch wenigstens zu den Leuten hingehen. Und dann gingen dann zwei Leute mit der MP hinter mir her und dann sind wir da hingegangen und ich sah da diese verzweifelte Menschen sitzen. Also das vergessen sie alles nie wieder."
Geiselbefreiung scheitert
Eine Stürmung mit als Sportlern getarnten Scharfschützen platzt, weil Fernsehteams die Polizisten filmen und die Terroristen das im Fernsehen entdecken. Man hatte vergessen, ihnen den Strom abzustellen. Das angeblich ausgeschlagene Angebot der Israelis die Deutschen mit einer Spezialeinheit zu unterstützen, lässt sich nicht belegen. Vielmehr vertraut das israelische Kabinett der deutschen Regierung und bittet sie, alles zu unternehmen, um die Geiseln zu befreien.
Doch es gelingt ihr nicht. Nachdem die Entführer und die noch lebenden Geiseln mit Hubschraubern zum Flughafen Fürstenfeldbruck geflogen werden, endet die Geiselnahme in einer blutigen Schießerei in der Dunkelheit. Alle israelischen Sportler sterben sowie ein Polizist und fünf Terroristen. Drei Geiselnehmer können überwältigt werden. Das wird jedoch nicht gleich vermeldet. Vielmehr macht eine Falschmeldung die Runde, wie sich Gilad Weingarten erinnert.
"Dann hieß es auf einmal die neun seien okay, sie hätten überlebt und seien befreit worden. Aber Joshua Inbar von der olympischen Delegation sagte, er glaube es nicht, solange er sie nicht gesehen habe. Ich erinnere mich, wie ich mir dachte: 'Warum sagt dieser verrückte Typ so etwas?' Er war eben smarter als ich und hatte wohl auch mehr Erfahrung. Zwei Stunden später hieß es dann: 'Sie sind alle tot.'"
"The Games Must Go On"
Bewegt und entsetzt sind die Menschen bei der Trauerstunde einen Tag später. Shmuel Lalkin, der Chef de Mission Israel, konnte sich aus dem Parterrefenster vor den Terroristen in Sicherheit bringen. Am Tag danach spricht er bei der Trauerstunde: "Die israelischen Sportler kamen nach München, um an den 20. Olympischen Spielen teilzunehmen, mit olympischer Zuversicht, in Freundschaft, Ehrlichkeit und Frieden, Seite an Seite mit den Athleten dieser Welt."
Und auch der israelische Botschafter Eliashiv Ben Horin spricht den Angehörigen der Opfer des Attentats von München sein Beileid aus und fordert die Menschen auf, sich gegen Terror zu wehren: "Erschüttert von dem niederträchtigen Verbrechen, das den Geist der Olympiade entweiht, rufen wir von diesem Ort, über dem die Flagge der fünf Ringe, die Flagge der Verbrüderung weht, alle Völker der zivilisierten Welt und ihre Regierungen und internationalen Organisationen auf, mit aller Kraft vorzugehen gegen eine Politik des Mordes, der Entführung und des Terrors, die seit Jahren von Feinden des Friedens und der Menschlichkeit geführt wird."
IOC Präsident Average spricht den markanten Satz aus: "the games must go on", was bei den Israelis nur für Kopfschütteln sorgt.
Und auch der israelische Botschafter Eliashiv Ben Horin spricht den Angehörigen der Opfer des Attentats von München sein Beileid aus und fordert die Menschen auf, sich gegen Terror zu wehren: "Erschüttert von dem niederträchtigen Verbrechen, das den Geist der Olympiade entweiht, rufen wir von diesem Ort, über dem die Flagge der fünf Ringe, die Flagge der Verbrüderung weht, alle Völker der zivilisierten Welt und ihre Regierungen und internationalen Organisationen auf, mit aller Kraft vorzugehen gegen eine Politik des Mordes, der Entführung und des Terrors, die seit Jahren von Feinden des Friedens und der Menschlichkeit geführt wird."
IOC Präsident Average spricht den markanten Satz aus: "the games must go on", was bei den Israelis nur für Kopfschütteln sorgt.
"Ein Rennen in den Tod"
Während in München die Spiele weitergehen, reist Sportreporter Gilad Weingarten nach der Trauerfeier mit den Überlebenden des Teams vorzeitig nach Israel zurück. Für Gilad Weingarten ist dieser Rückflug der schwerste seines Lebens, weil sein Freund und Platznachbar der Fechttrainer André Spitzer nicht mehr neben ihm sitzt: "Ich mochte diesen Mann sehr, André war ein guter Kerl. Auf dem Weg nach München saßen wir zusammen, André und ich. Und wir sprachen über den nächsten Kurs am Wingate Institut im Oktober. Die Details wollten wir auf dem Rückflug besprechen. Doch auf dem Rückflug war ich dann allein neben dem Sarg."
Dramatisch ist vor allem, dass Spitzer fast seinen Zug nach München verpasst hat. André Spitzer und seine Frau Ankie haben mit ihrer Tochter von München aus noch einen Kurzbesuch zu den Schwiegereltern nach Amsterdam gemacht. Seine Frau Ankie bringt ihren Mann am 4. September zum Bahnhof, erzählt Gilad Weingarten: "Es war nicht weit, denn Europa ist relativ klein. Und sie verpassten den Zug und schafften es aber, den Zug zwei Stationen später mit dem Auto einzuholen. Und so kam er doch noch in der Nacht an. Es war für ihn ein Rennen in den Tod." Wenige Stunden später ist er in der Hand der Terroristen und stirbt am Abend danach im Kugelhagel auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck.
Gedenken an getötete Athleten
Seitdem kämpft André Spitzers Frau dafür, dass der Ermordeten bei künftigen Olympischen Spielen gedacht wird. Doch erst in Rio de Janeiro 2016 hat sie Erfolg. Dort wird 44 Jahre nach dem Attentat ein Platz der Trauer für die getöteten Athleten eröffnet.
Gilad Weingarten bewundert dieses Engagement und trifft bis heute Ankie Spitzer und ihre Familie bei den Gedenkfeiern in Israel. Nach der Rückkehr im September 1972 findet Weingarten nur schwer in den Alltag zurück. Er erinnert sich, wie er einen Rede abbrechen musste:
"Ich musste vor einer Gruppe von Amerikanern einen Vortrag halten. Sie waren Sportdirektoren von jüdischen Gemeindezentren. Ich stand auf der Bühne und geriet ins stocken. Ich konnte nicht mehr reden und musste weinen. Ich sagte: ‚Entschuldigen Sie, ich kann nicht weitermachen‘ und verließ die Bühne. Es brauchte zwei bis drei Wochen, darüber hinweg zu kommen. Bis heute bin ich mit den elf Opfern von München eng verbunden. Ich besuche die Gräber in Tel Aviv und Petach Tikwa. Ich werde mich an sie bis zu meinem letzten Tag erinnern."
Das Attentat von München bleibt in Erinnerung und wird mehrfach verfilmt. Ein Film, der von Stephen Spielberg 2006 produziert wird, hat es Gilad Weingarten besonders angetan: "Und Spielberg produzierte den Film in München und zeigt die ganze Szene in der Connollystraße. Und der eine, der Muni Weinberg spielt, ist sein eigener Sohn, dessen Beschneidung wir in der Nacht vor unserem Abflug gefeiert haben. Er lebt in Kanada und Spielberg konnte ihn für die Rolle seines Vaters gewinnen."
"Jährliche Erinnerungsstunde ist wichtig"
Auch Charlotte Knobloch, heute Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München, wird das Attentat von München nicht vergessen. Sie ist dankbar, dass die Menschen in Fürstenfeldbruck jedes Jahr an die Toten erinnern:
"Wenn ich Erinnerung und Gedenken anspreche zu diesem Thema, dann muss ich besonders den Ort Fürstenfeldbruck hervorheben. Dort auf dem Flugplatz sind ja die Menschen ermordet worden. Der Landrat von Fürstenfeldbruck und seine Mitarbeiter begehen jedes Jahr am Tag des Attentats in Fürstenfeldbruck der Ermordung der israelischen Sportler eine Gedenkstunde beim Flughafen an dem Gendenkstein. (...) Das vermisse ich natürlich in München. Es ist ja eine Gedenkstätte im letzten Jahr errichtet worden, die wirklich hervorragend ist. Sie gibt jenen Menschen die Möglichkeit, sich mit den einzelnen Ermordeten auseinanderzusetzen, sich zu informieren. Das ist alles sehr gut, aber so eine jährliche Erinnerungsstunde ist wichtiger."
Charlotte Knobloch und Gilad Weingarten nehmen bis heute jedes Jahr am Gedenken für die getöteten Sportler in Fürstenfeldbruck und Tel Aviv teil. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, dass sich der Schwarze September von 1972 nie mehr wiederholt.
Charlotte Knobloch und Gilad Weingarten nehmen bis heute jedes Jahr am Gedenken für die getöteten Sportler in Fürstenfeldbruck und Tel Aviv teil. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, dass sich der Schwarze September von 1972 nie mehr wiederholt.