Was kann der Protestantismus gegen Polarisierung tun?
Auch in Schweden hat die Kirche mit Mitgliederschwund und Rechtspopulismus zu kämpfen. Der Protestantismus weise viele Wege zum Dialog, sagt die schwedische Erzbischöfin Antje Jackelén. Doch es gebe auch Grenzen der Nächstenliebe, wenn nämlich die Grundlagen der Demokratie bezweifelt werden würden.
Anne Francoise Weber: Schon seit längerer Zeit, aber natürlich besonders seit dem 31. Oktober feiert die Evangelische Kirche in Deutschland das Reformationsjubiläum. Das Tages- und Verwaltungsgeschäft läuft aber weiter, und so kam in dieser Woche die Synode der EKD, also das Kirchenparlament zu seinem jährlichen Treffen zusammen, diesmal in Magdeburg. Schwerpunktthema war "Europa in Solidarität" – und eine Frau war zu Gast, die dazu einen ganz besonderen Bezug hat: Antje Jackelén. Denn die Erzbischöfin an der Spitze der schwedischen evangelisch-lutherischen Kirche ist nicht nur Schwedin, sondern auch Deutsche.
In Herdecke geboren, kam sie während ihres Theologiestudiums nach Schweden und blieb. Sie wurde Pfarrerin, arbeitete für sechs Jahre als Professorin an einer theologischen Hochschule in den USA und wurde als Bischöfin nach Schweden zurückgeholt. Seit 2014 ist sie Erzbischöfin von Uppsala und war als Oberhaupt ihrer Kirche auch Gastgeberin für Papst Franziskus, als der zum Reformationstag das schwedische Lund besuchte.
Ich habe in Magdeburg mit Erzbischöfin Jackelén gesprochen. Es ist ja nun einleuchtend, dass für Sie als Doppelstaatsbürgerin und Migrantin von Deutschland nach Schweden Europa eine wichtige Größe ist. Aber wie ist das für die Mehrheit Ihrer Kirchenmitglieder, ist für die Europa relevant im Alltag?
Antje Jackelén: Einerseits ja, also, man hat sich ja daran gewöhnt, dass man eben Mitglied der EU ist, es ist auch bekannt, dass man EU-Gelder bekommen kann, solche Sachen. Aber es gibt eben auch im allgemeinen Bewusstsein (die Meinung): Die kümmern sich um Bananen und Gurken und machen Regeln, die komisch sind. Was ich vermisse, ist die Begeisterung für die europäische Idee. Es ist eben nicht so gang und gäbe, dass man mit der Geschichte vertraut ist und sich dessen bewusst ist, dass das, was zur EU geführt hat, doch die Idee des Friedens war und nicht eben nur der Kapitalmarkt.
Rechtsextreme Tendenzen in protestantischen Gemeinden
Weber: Sie haben als Gefahren genannt Polarisierung, Populismus, Protektionismus. Kann da der Protestantismus etwas entgegensetzen?
Jackelén: Ich glaube, das sollte er schon können, wirklich diese drei gefährlichen P's eben. Polarisierung, Populismus und Protektionismus sind ja wirklich handfest da in unserer Zeit. Und der Protestantismus sollte da ja auch Wege weisen können, weil das Evangelium auch stark mit Gerechtigkeit verbunden ist mit Nächstenliebe, mit Fürsorge für den Fremden und für Menschen, die überhaupt in schwerer Lage sind.
Weber: Wie gehen Sie mit rechtspopulistischen oder vielleicht auch rechtsextremen Tendenzen um, die es ja wahrscheinlich auch in den protestantischen Kirchengemeinden in Schweden gibt?
Jackelén: Ja, das ist keine leichte Sache. Das lässt sich natürlich immer gut sagen, den Dialog suchen, das Verstehen suchen, gemeinsame Probleme angehen, sodass man wirklich gemeinsam sich um die besten Lösungen bemüht. Aber das ist nicht immer so einfach. Denn wenn es so weit geht, dass die Grundlagen der Demokratie infrage gesetzt werden, dann ist es auch schwierig, um nicht zu sagen: unmöglich, einen Dialog aufrechtzuerhalten.
"Das Engagement für Flüchtlinge hält immer noch an"
Weber: Schweden hat im vergangenen Jahr prozentual gesehen noch mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland. Also, die Kirche war da ganz entscheidend beteiligt an den Hilfestellungen. Wie ist es mittlerweile, hält das Engagement an oder gibt es so etwas wie Mühen der Ebene oder auch Zweifel nach Terroranschlägen in Deutschland und anderswo?
Jackelén: Das Engagement hält schon noch an. Die Kirche hat auch gleich zu Anfang gesagt, wir müssten dafür sorgen, dass wir Hilfestellungen geben, dass zum Beispiel die Mitarbeiter, sowohl die angestellten als auch die ehrenamtlichen, wirklich Unterstützung bekommen, damit das psychosozial haltbar ist.
Und da hat man zusammen mit dem Roten Kreuz unter anderem auch eine Ausbildung gemacht, um eben auch langfristig Unterstützung zu geben, und die Kirche zentral hat auch mit Geldern Gemeinden unterstützt und tut es noch, eben um auch haltbare Formen zu finden. Erfreulicherweise kommen auch Rapporte aus Gemeinden, die sagen, unser Gemeindeleben ist viel lebendiger geworden.
Weber: Gibt es auch Konflikte in Gemeinden, dass man sagt, ach, jetzt verwendet doch nicht eure Energie auf diese Neuankömmlinge, wir haben doch hier ganz anderes zu tun?
Jackelén: Ja, wir haben schon auch rechtfertigen müssen, warum tun wir das denn eigentlich, und auch unseren Mitarbeitern da Argumentationshilfen geben müssen, warum das nun wirklich Ausdruck unseres Glaubens und des Evangeliums ist, dass wir das tun. Es ist auch deutlich, dass die Kirche, die Gemeinde einer der sehr, sehr wenigen Plätze ist, wo jemand, der neu kommt, von Anfang an auch einer sein kann, der eben zum Gottesdienstleben zum Beispiel beiträgt, und nicht einer, jemand, der einfach nur Ressourcen braucht, sondern der auch was gibt. Und das ist sehr wichtig sowohl für die Gemeinden als auch für die neu Gekommenen.
Die Umarmung von Papst Franziskus
Weber: Funktioniert das auch mit muslimischen Neuankömmlingen?
Jackelén: In etlichen Gemeinden gibt es natürlich auch Gesprächsgruppen, wo Muslime dran teilnehmen. Es kommt auch vor, dass Muslime um die Taufe bitten, und es kommt auch vor, dass Muslime überhaupt keine Gedanken haben, irgendwie zu konvertieren, sagen aber, es ist uns lieber zum Beispiel, unsere Kinder sind in einem Milieu, was religiös geprägt ist, als in einem vollständig säkularen Milieu.
Weber: Papst Franziskus war nicht nur zum Auftakt des Reformationsjubiläumsjahrs in Lund und hat mit Ihnen eine ökumenische Feier gehalten, er hat Sie auch umarmt. Sind solche Gesten wichtig für die Ökumene?
Jackelén: Ich glaube, schon. Ich habe jetzt viel gehört von diesem Bild mit der Umarmung und das Gefühl, dass das Symbol doch zu vielen Menschen spricht. Und darüber freue ich mich.
Weber: Das war ja ein schönes Symbol, er hat dann auf dem Rückflug nach Rom aber Journalisten gesagt, also, in der katholischen Kirche könnten Frauen jedenfalls nicht Priesterinnen werden. Ist das dann ein Gegensignal, fühlen Sie da im Nachhinein, na ja, so ganz akzeptiert er mich doch nicht? Oder können Sie das stehenlassen als Eigenheit der katholischen Kirche?
Jackelén: Das kann ich ganz einfach stehenlassen. Ich meine, das war ja nichts Neues. Das ist der Standpunkt der katholischen Kirche. Aber was eben wichtig ist zu bedenken, ist, dass es im Amtsverständnis ja Unterschiede gibt zwischen der katholischen Kirche und in unserem Fall der lutherischen Kirche. Aber das gilt ja, das ganze Amtsverständnis, es kann nicht so sein, dass man sagt, ach, die katholische Kirche kann männliche lutherische Pfarrer mehr akzeptieren als weibliche, denn das gilt doch im Amtsverständnis als gleich. Das muss man dann auch mal wieder sagen.
Papst Franziskus und das Diakonat
Weber: Und Sie hatten nie wie viele andere die Hoffnung, dass unter Papst Franziskus auch die Rolle der Frauen eine andere werden könnte?
Jackelén: Doch, die Hoffnung habe ich eigentlich immer noch. Ich würde schon gerne mehr Handlung sehen. Der Papst hat ja jetzt seine Kommission ins Leben gerufen, die Frauen und Diakonat behandeln soll. Was dabei herauskommt, weiß ich natürlich nicht. Ich habe auch bei meinem Besuch beim Papst im vorigen Jahr dann gesagt, es ist klasse, dass der Papst zum Beispiel darauf aufmerksam gemacht hat, dass Frauen für die gleiche Arbeit niedrigere Löhne haben als Männer. Ich habe auch dazu gesagt, dass es jetzt wichtig ist, nicht nur über Frauen und für Frauen zu sprechen, sondern vor allen Dingen auch mit Frauen.
Weber: Ja, das hat er mit Ihnen ja schon mal getan. Für die Schwedische Kirche gab es 2000 einen großen Einschnitt, ab da war sie nicht mehr Staatskirche. Also, Ihr Vorvorgänger wurde noch von der Regierung ernannt und Sie und Ihr direkter Vorgänger wurden gewählt. Wie ist denn jetzt das Verhältnis zum Staat, ist da eine grundsätzliche Ferne da, etabliert sich eine neue Partnerschaft? Wie hat sich das entwickelt?
Jackelén: Ja, ich würde schon sagen, eher in die Richtung neue Partnerschaft. Und das ist eine Kirche, die freier vom Staat steht, dann natürlich auch die Möglichkeit hat, sich anders auszudrücken als eine Staatskirche. Und ich denke mal, dass einerseits die Flüchtlingssituation, wo es so deutlich wurde und wo auch vonseiten von verschiedenen Ministern gesagt worden ist, hätten die Kirchen nicht so kraftvoll agiert vor einem Jahr, hätten wir das nicht so geschafft, wie wir es geschafft haben, dass aber auch in einer Situation, wo grundlegende Werte in der Demokratie infrage gestellt werden, es auch noch ein bisschen deutlicher wird, dass gerade Demokratie davon abhängig ist, immer wieder mit Werten gefüttert zu werden … und dass die Kirchen da auch eine Aufgabe haben, denn ein Teil der Werte – auch in einem säkularisierten Land – werden … ein Teil wird auch immer religiös begründet sein.
62 % der Bevölkerung sind Kirchenmitglieder
Weber: Man könnte ja meinen, eine vom Staat unabhängige Kirche sei attraktiver. Aber auch Ihre Kirche hat mit Mitgliederschwund zu kämpfen. Ist das eine konkrete Kirchenkritik, die sich da manifestiert, ist das eine allgemeine Säkularisierung? Was sind die Gründe?
Jackelén: Wahrscheinlich mehr als ein Grund. Man muss auch in dem Zusammenhang sehen, dass viele Institutionen Mitgliederschwund haben. Und wenn man es vergleicht, haben zum Beispiel gewisse politische Parteien mehr Mitglieder verloren als die Kirche. Das ist schon einerseits faszinierend, dass trotz Säkularisierung doch immer noch 62 Prozent der Bevölkerung der Schwedischen Kirche angehören.
Aber wir werden auch aus demografischen Gründen weniger werden, und das ist natürlich eine Herausforderung an uns. Es ist schade für jeden, der geht, andererseits sehen wir auch, dass die Zahl derer, die in die Kirche eintreten, also aktiv als Erwachsene eintreten, sogar etwas gestiegen ist. Das ist viel geringer als die der Austritte, aber immerhin, sie steigt.
Weber: Bei einem Mitgliederschwund gehen ja zuerst die, die weniger überzeugt sind, und es bleiben die 120-Prozentigen oft. Sie selbst gelten als liberale Theologin, sagen zum Beispiel, die Jungfrauengeburt ist symbolisch zu verstehen. Haben Sie da jetzt mehr Gegenwind von einer erstarkten evangelikalen Gruppierung – wie wir ja zumindest in Deutschland sagen würden, ich weiß nicht, ob das Etikett auch für Schweden zutrifft – oder ist das gleich geblieben?
Politischer Streit unter religiösen Vorzeichen
Jackelén: Also, diese Etiketten, liberal und konservativ, die sind eigentlich in der theologischen Welt gar nicht so gangbar. Was in dem einen Zusammenhang als liberal erscheint, ist im anderen konservativ und umgekehrt. Und wenn man sagt, wie ich gesagt habe, nicht, dass die Jungfrauengeburt nur symbolisch ist, was ich gesagt habe, ist: Wenn man sie nur als biologische Tatsache nimmt, dann geht einem viel von dem gesamten Inhalt verloren. Es wird dann natürlich von Gewissen gerne in die eine oder andere Ecke gedrückt.
Was wir sehen in diesen Debatten heutzutage, ist, dass oftmals ja ein politischer Streit ausgetragen wird, mit religiösen Vorzeichen. Und das ist natürlich eine Schwierigkeit, wirklich auch theologische Überlegungen und auch komplexe Überlegungen Menschen nahezubringen. Das ist so, jeder sieht ein, dass man sich zum Beispiel über Astronomie nicht äußern kann, wenn man nicht grundlebende Kenntnisse hat, aber es ist oft so, dass über Kirche und Theologie und Glaube meint man, sich äußern zu können, ohne jedwede Kenntnisse zu haben. Da ist eine Asymmetrie, die es manchmal problematisch macht.
Diskussion um das Verhältnis zum Islam
Weber: Welche politischen Themen sind das, die über die Religion ausgefochten werden? Ist das zum Beispiel die Aufnahme von Flüchtlingen?
Jackelén: Ja, zum Beispiel. Es geht auch darum, das Verhältnis zum Islam, dass man dann sagt, Religionsdialog, na, das ist möglicherweise ein Ausdruck von totaler Naivität, dass gerade auf dem gemeinsamen Nenner Furcht vor dem Islam sich dann auch Interessen zusammenfinden, die auf anderen Gebieten gar nicht viel miteinander zu tun haben. Aber das vereint dann und projiziert dann gerne auf andere auch: Die sind liberal, die sind lauwarm im Glauben, die sprechen nicht genug von Jesus, die kümmern sich zu viel um die anderen statt um die eigenen.
Also, man trägt dann diese Polarisierungen mit in die Kirche rein. Und auch ein anderes Phänomen, was gerade im Populismus verbreitet ist, dass man dann sagt: Die Elite hat die Verbindung zum Volk verloren und wir, die die Elite kritisieren, wir wissen, was das Volk will, aber die Elite weiß das nicht, die Elite, die kümmert sich nur und kuschelt da mit irgendwelchen Minoritäten, aber verliert den Kontakt zum Volk.
Weber: Auch in Schweden kämpft also die Kirche mit Mitgliederschwund und Populismus. Das war die schwedische Erzbischöfin Antje Jackelén, schwer erkältet, im Gespräch bei der Synode der EKD in Magdeburg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.