Endgültig die Brücke hoch?
Pro Kopf hatte kaum ein anderes europäisches Land so viele Flüchtlinge aufgenommen wie Schweden. Bis Ende 2015 haben mehr als 160.000 Menschen Asyl gesucht. Doch seitdem ausgerechnet eine rot-grüne Regierung verkündet hat, dass sie das nicht mehr schafft, ist alles anders.
In Göteborg herrscht Anfang Februar Kinostimmung. Das liegt einerseits am nasskalten Wetter, andererseits daran, dass gerade das internationale Filmfestival läuft.
"Ich heiße Gabriela Pichler, wohne in Göteborg. Ich bin Regisseurin und schreibe auch meine eigenen Manuskripte. Und ich arbeite gerade mit meinem nächsten Langfilm."
Eine hochgewachsene Frau in den Dreißigern sitzt entspannt in dem schicken Sessel in einem Hotel direkt am Göteborger Hauptbahnhof. Gabriela Pichler ist eine der wichtigsten Nachwuchshoffnungen des schwedischen Films. "Äta sova dö" - "Essen, schlafen, sterben" heißt der Film, mit dem sie vor über drei Jahren ihren Durchbruch hatte. Er wurde gleich mehrfach ausgezeichnet - unter anderem mit dem Publikumspreis bei den Filmfestspielen in Venedig und mit dem schwedischen Filmpreis Guldbagge. Es geht darin um die schwedische Einwanderungsgesellschaft, um die 20-jährige Rasa mittendrin und dabei eigentlich auch um die Regisseurin des Films selbst.
"Mein Vater war aus Österreich, meine Mutter aus Bosnien also Ex-Jugoslawien, aber ich bin Schweden geboren. Ich glaube, es war 1974, dass die hierher gezogen sind. Es war irgendwie ein Land voller Hoffnungen und die Schweden verlangten ja damals Arbeitskraft, viele Wohnungen in den Städten standen leer."
"Alle waren irgendwie anders"
In dieser Zeit entwickelte Schweden sich zum Einwanderungsland, das ähnlich wie die Bundesrepublik händeringend Arbeitskräfte suchte. Viele der Familien zogen in Gegenden, in denen auch andere Migranten lebten. Auch die junge Gabriela wuchs an so einem Ort in Südschweden auf:
"Ich glaube, in meine Klasse gingen 24 Studenten, davon waren vielleicht zwei Schweden. Für mich war das das Paradies. Weil man konnte nie irgendwie anders sein. Alle waren irgendwie anders. Ich sagte immer, ich kann acht, neun Sprachen, aha, was kannst du denn, ich sage finnisch, türkisch (lacht)."
Aber wenn Gabriela Pichler über die liberale schwedische Flüchtlingspolitik spricht, will sie dies lieber auf schwedisch tun. Pro Kopf nahm kein Land lange Zeit mehr Flüchtlinge auf als das kleine Schweden. Doch Ende November zog die Regierung in Stockholm die Notbremse.
"In einer außergewöhnlichen Situation greift man auf alte Methoden zurück. Wenn man entscheidet, Leute abzuschieben, weil sie kein Asyl bekommen können, oder, weil man der Meinung ist, man habe nicht genug Platz oder man könne es sich nicht leisten oder man schaffe es einfach nicht, dann geschieht all das ja aus einer bestimmten Perspektive heraus. Aber andererseits kann man das Ganze auch umdrehen und fragen: Woran mangelt es uns denn? Fehlt es uns am Geld? Die Frage ist eigentlich: Welchen Willen brauchen wir, um das zu schaffen?"Fast 400 Kilometer Luftlinie entfernt, sitzt der schwedische Justiz- und Migrationsminister Morgan Johansson in der winterlichen Nachmittagssonne in seinem Büro in Stockholm und sagt ganz nüchtern: "Wir brauchen eine Pause !"
"Wir haben uns über Jahre der Verantwortung gestellt wie kein anderes Land und darauf bin ich stolz. Aber das Problem ist: Wenn es so weiter geht, wenn keiner Verantwortung übernimmt, werden wir immer größere Probleme bekommen. Und genau das ist im Herbst passiert. Da sind pro Woche 10.000 Menschen ins Land gekommen. Und da mussten wir sagen: Auch wenn Schweden ein fantastisches Land mit der vielleicht besten Aufnahmekapazität für Flüchtlinge ist - auch für uns gibt es Grenzen."
Strenger Familiennachzug
Und diese Grenze wurde nach rund 163.000 Asylsuchenden gezogen, die 2015 Schweden erreichten. Die Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik hatte es in sich: der Familiennachzug wird jetzt sehr streng gehandhabt, unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen gibt es fast gar nicht mehr. Und bei den Sozialleistungen wurde stark gekürzt. Entscheidungen, die ausgerechnet von einer linken rot-grünen Regierung beschlossen wurden. Es gab dazu keine Alternative – sagt der 45 jährige Sozialdemokrat Johansson.
"Wir mussten diese Entscheidungen treffen, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Und jetzt müssen wir uns auf die Leute konzentrieren, die letztes Jahr kamen. Das können wir schaffen. Aber nicht, wenn weiterhin so viele kommen."
Für Johansson ist klar: Nicht noch einmal will die schwedische Regierung in die Situation kommen wie im vergangen Herbst. Das sollen auch die Grenzkontrollen verhindern, die Schweden seit Beginn des Jahres durchführt. Mittlerweile kämen nur noch 700 Asylsuchende pro Woche ins Land, sagt Johansson. Die aktuellen Statistik dazu: Für 2016 werden trotz der Grenzkontrollen zwischen 70.000 und 140.000 Flüchtlinge erwartet. Fast trotzig klingt da schon der Migrationsminister:
"Unser Vertrauen in den schwedischen Wohlfahrtsstaat ist sehr stark. Wir zahlen Steuern und wir bekommen etwas dafür im Gegenzug. Wir versuchen die Kluft zwischen den Armen und den Reichen so klein wie möglich zu halten. Gleichheit, Solidarität - diese Werte sind sehr ausgeprägt in Schweden. / Jede Woche müssen wir um menschliche Werte kämpfen. Wir müssen die 164.000 Flüchtlingen integri-eren und dafür sorgen, dass sie arbeiten können und damit für sich selbst aber auch für ihre Familien und Schweden sorgen können. Wenn wir dabei versagen und die Arbeitslosigkeit in ein paar Jahren deutlich angestiegen sein sollte, es zu größeren Probleme kommt bei der Unterbringung und in den Schulen… dann werden die schwedischen Bürger anfangen, unsere Grundwerte in Frage zu stellen. Und davor müssen wir uns wirklich hüten."
Die Angriffe auf Unterkünfte und Flüchtlinge haben sich in den letzten Monaten gehäuft. Auch in Schweden wurden die Ereignisse der Kölner Silvesternacht viel diskutiert. Die Polizei geriet in die Defensive, als bekannt wurde, dass es sexuelle Angriffe auf Frauen auch in der südschwedischen Provinzstadt Kalmar und bereits im Sommer bei einem Musikfestival in Stockholm gegeben hat.
Für Aufsehen sorgte eine regelrechte Hetzjagd Ende Januar. Bis zu 100 Hooligans und Mitglieder der rechtsextremen Szene gingen mitten in der Stockholmer Innenstadt auf Flüchtlinge los. Angebliche Diebstähle und sexuelle Übergriffe auf schwedische Frauen - dafür sollten die Asylbewerber nun ihre "gerechte Strafe" bekommen, war die Begründung. Nahe dem Stockholmer Hauptbahnhof bedrängten und bepöbelten sie Ausländer.
Nur wenige Tage später ist davon auf dem Sergels Torg nichts zu spüren. Der Platz vor dem Kulturhuset - einer Art Centre Pompidou auf schwedisch - ist an diesem Nachmittag recht lebendig - aber friedlich. In einem der Cafés des langgezogenen Gebäudes aus den 70er Jahren sitzt Thomas Hammarberg.
"Das Parlament ist gelähmt"
Der frühere Menschenrechtskommissar des Europarates hat einen Becher frischgepressten Orangensaft vor sich stehen. Rechts, nur einen Meter neben Hammarberg, drängen sich die Menschen auf einer brummenden Rolltreppe.
"Das Kulturhuset ist ein Treffpunkt. Hier gibt es Theater, Cafés und Restaurants aber auch Räume, in denen sich Mitglieder von NGOs treffen können. Es kommen viele Einwanderer und Personen mit Migrationshintergrund hierher. Es gibt hier ein großes Schachspiel, das ist gerade bei Flüchtlingen sehr beliebt. Ich hoffe, dass auch in Zukunft weiter so viele hierherkommen. Denn Schweden mit seiner so stark alternden Bevölkerung braucht Einwanderung. Und ich finde, dass die Einwanderung unsere Gesellschaft auch kulturell bereichert."
Auch nach dem Ende seines Mandats als Menschenrechtskommissar vor vier Jahren ist der Sozialdemokrat weiterhin aktiv und engagiert sich in der schwedischen Flüchtlingspolitik - und in der gesellschaftlichen Debatte. Was denkt der 74-Jährige über die Wende, die von den Grünen und Sozialdemokraten gerade eingeleitet wurde ?
"Viele Kommunen und lokale Politiker hatten ja zuvor schon geklagt, sie seien überlastet. Es hieß, 200 neue Schulen seien nötig für minderjährige Flüchtlinge. Der Beschluss war also keine Überraschung. Und doch war er dramatisch. Meiner Meinung nach waren Teile dieses Gesetzespakets, das die Regierung geschnürt hat, kontraproduktiv. Weil es in der Praxis das klassische Asylrecht untergräbt."
Die Flüchtlingspolitik, die Schweden bis dahin betrieben hatte, sei gut abgewogen und erfolgreich gewesen, findet der frühere Diplomat. Natürlich habe es auch Probleme gegeben - weil manche Flüchtlinge traumatisiert und daher nie richtig in der schwedischen Gesellschaft angekommen seien. Viele hätten sich aber sehr gut angepasst und seien heute präsent in den Medien und in der Kultur, sagt Hammarberg.
"Viele sind jetzt unruhig und denken, die vielen Einwanderer schaffen Probleme. Und fast jeden Tag wird in den Medien oder den Sozialen Netzwerken vor kulturellen Konflikten gewarnt. Ich persönlich finde aber, dass die Politik viel zu wenig über die positiven Seiten der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik spricht und den kulturellen Gewinn, den wir dadurch bekommen. Stattdessen überwiegen in den Diskussionen defensive Positionen, was negative Folgen haben kann. Die politische Situation im Parlament ist ein Problem, denn keiner der beiden großen Blöcke kann eine offensive Politik betreiben. Dabei bräuchten wir doch genau die jetzt. Aber das Parlament ist gelähmt."
Schwedendemokraten wollen nur 4000 Flüchtlinge pro Jahr
Der Erfolg von rechten Gruppen und Parteien wie den Schwedendemokraten und die steigende Zahl von Angriffen auf Flüchtlinge und Unterkünfte aus dem rechtsextremistischen Milieu seien vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich.
"Die Schwedendemokraten instrumentalisieren die Einwanderungspolitik. Sie erschaffen ein Schreckensbild, wonach die Flüchtlinge unsere Kultur nicht verstehen und gefährlich sein können für die schwedische Gesellschaft. Sie malen auch hohe Kosten aus. Es gibt eine klare islamophobische Tendenz, wie es sie auch bei vielen anderen Parteien in Europa gibt. Und diese Aussagen schaden natürlich der schwedischen Gesellschaft."
In Umfragen kratzen die Schwedendemokraten mittlerweile sogar an der 20-Prozent-Schwelle. An einem langen Tisch im Stockholmer Reichstag sitzt ein junger Mann im dämmrigen Licht der Vormittagssonne. Markus Wiechel ist 27 Jahre alt und migrationspolitischer Sprecher der Fraktion der Schwedendemokraten. Er könne ja nachvollziehen, dass Flüchtlinge ins Land wollten. Aber sie müssten nun mal verstehen, dass es in Schweden kein Geld gebe, um sie zu versorgen. Und auch keinen Wohnraum. Flüchtlinge sollten weiterhin nach Schweden kommen dürfen über das UN-Resettlement-Programm. Aber nur noch 4000 pro Jahr. Also nur ein Bruchteil der rund 160.000 die Schweden vergangenes Jahr erreichten.
"Es ist schlichtweg dumm, Menschen zu unterstützen, die das Geld haben um nach Nordeuropa zu kommen – weit weg vom Konfliktgebiet."
Bisher lehnen die sieben anderen Parteien im schwedischen Reichstag eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten ab. Eine Partei, die sich für Abschottung einsetzt und landesweit als rassistisch gilt.
"Wir haben auch frische Eier. Die Henne hier brütet, da muss man immer etwas aufpassen, dass sie einen nicht angreift."
Ein typischer Bauernhof nahe Urshult, im südschwedischen Smaland. Ein rotes Holz-haus, ein roter Schuppen und natürlich eine rote Scheune. In deren Untergeschoss steht Mustafa umgeben von ein paar dutzend Hühnern und Wachteln. Mustafa ist 25 Jahre alt und stammt aus dem syrischen Aleppo. Mitte September ist er nach Schweden gekommen. Nun lebt er bei seinem Bruder, der bereits seit mehreren Jahren im Land ist und auf dem Hof mit seiner holländischen Freundin zusammenwohnt. Einen Schwedischkurs hat Mustafa bis heute nicht besucht, weil er immer noch auf seine Personennummer wartet - ohne die geht gar nichts.
"Da kann ich auch nach Syrien zurückgehen"
Und doch hat er sich durch Youtube, schwedisches Radio und Fernsehen schon sehr viel angeeignet, zumal sein Bruder fast ausschließlich auf schwedisch mit ihm spricht. Er möchte so schnell wie möglich sein Wirtschaftsstudium fortsetzen, das er in Syrien wegen des Krieges abbrechen musste.
"Es gibt Leute, die glauben, wir sind zum Urlaub hier oder wollen uns nur etwas entspannen. Aber wir sind nach Schweden gekommen, weil wir alles verloren haben. Das Haus, die Arbeit, alles was wir davor gehabt haben. Ich habe fast 20 Jahre gelernt und das war alles umsonst. Es ist nicht gerade witzig, wenn man alles zurücklassen muss, um hierher zu kommen."Mustafa trägt eine rot-schwarze Trainingsjacke und Gummistiefel. Ich habe Glück, sagt der schlanke, hochgewachsene Mann. Denn würde ich in einer Flüchtlingsunterkunft wohnen, dann würde ich vor allem nur essen und schlafen. Aber hier auf dem Bauernhof kann ich arbeiten und Gemüse anbauen. Und da sind die Tiere: Schafe, Pferde, Enten, Hunde - und natürlich die Hühner.
"Manche Leute finden das langweilig. Aber wenn man mit den Tieren arbeitet, dann fühlt man sich besser. Guck mal hier drüben: Die Eier von den Wachteln - die sind auch richtig gut."
Jeden Tag erkundet Mustafa mit seinem Fahrrad die Gegend. Er ist oft mehrere Stunden unterwegs um in eine der beiden nächsten Kleinstädte zu fahren - jeweils 15 Kilometer entfernt. Trotzdem hofft er, dass sich das bald ändert:
"Wir wollen doch etwas machen, wir wollen arbeiten, wir wollen studieren. So war das früher. Und so soll es auch in Zukunft sein."
Zwei Jahre dauert es derzeit im Durchschnitt, ehe die schwedischen Behörden über ein Asylgesuch entscheiden. Mustafa ist angesichts des Wartens froh, auf dem Land zu sein und nicht in der Stadt. Die Leute seien nett zu ihm. Und doch macht er sich Sorgen über eine wachsende Stimmung gegen Flüchtlinge
"Es gibt hier Menschen, die greifen Flüchtlinge an so wie Ende Januar in Stockholm. Das ist doch nicht normal. Wenn ich daran denke, dann sollte ich nachts am besten gar nicht mehr Rad fahren, dann sollte ich nirgends mehr hin. Das ist eine Gefahr für mich. Es kann doch nicht sein, dass wir von einem Krieg in den anderen kommen. Das ist nicht lustig - da kann ich auch nach Syrien zurückgehen und dort sterben."