Schweigekartelle

Das Phantasma der Macht

Alte Bleilettern bilden das englische Wort für Schweigen: "Silence".
Alte Bleilettern bilden das englische Wort für Schweigen: "Silence". © imago / imagebroker
Von Sieglinde Geisel |
Mächtige Täter bleiben straflos, wenn ihre Opfer und die Mitwisser stumm bleiben: So gebe es auch in der Demokratie rechtsfreie Räume, kritisiert die Journalistin Sieglinde Geisel. Werde das Schweigen gebrochen, sei es mit dieser Macht allerdings schlagartig vorbei.
Ein Mensch hat dann Macht, wenn er einen anderen Menschen dazu bringen kann, etwas zu tun, was dieser Mensch nicht tun will. Ohne Macht können Gesellschaften nicht funktionieren, das Problem ist der Missbrauch der Macht. Der Rechtsstaat schützt seine Bürger davor, zu Dingen genötigt zu werden, die sie nicht tun wollen. Daher dürfte es in einer Demokratie den Machtmissbrauch nicht geben.
Die #MeToo-Debatte zeigt uns, dass dem keineswegs so ist: De facto gibt es auch in der Demokratie rechtsfreie Räume, in denen die Täter straflos bleiben – weil die Opfer schweigen. Vom "System Wedel" haben wir nur Kenntnis, weil die Opfer nach Jahrzehnten ihr Schweigen gebrochen haben.

Schweigen als Machtinstrument

Das Schweigen aller Beteiligten ist das wichtigste Machtinstrument. Viel ist nun von Schweigekartellen die Rede. Die Verabredung zum gemeinschaftlichen Schweigen muss dabei gar nicht ausgesprochen werden, sie gilt "stillschweigend". Und nicht nur die Opfer schweigen, sondern auch die Zeugen, das nennt sich dann "wegschauen".
Kein Herrschaftssystem ohne Redeverbot: Das gilt für Gewalt in der Familie wie für die Wutausbrüche des Chefs. Das extremste Beispiel für eine Herrschaft durch Schweigen ist die Mafia: Auf die Verletzung der Omertà steht der Tod. Wer redet, wird endgültig zum Schweigen gebracht. Außerhalb der Mafia gilt der Rechtsstaat immerhin insofern, als es nicht um Leben und Tod geht.
Die Höchststrafe ist der Ausschluss aus dem Einflussbereich des Machthabers. Die Schauspielerinnen, die Weinstein oder Wedel nicht zu willen waren, riskierten nicht ihr physisches, sondern ihr berufliches Leben.
Der US-Filmproduzent Harvey Weinstein.
Harvey Weinstein: US-Filmproduzent mit ehemals großem Einflussbereich © AFP / Yann COATSALIOU

Wenn Opfer aus Scham nichts sagen

Oft ist von Scham die Rede, wenn es um das Schweigen der Opfer geht. Im Showbusiness wird Macht durch Sex ausgeübt, wie im Krieg, daher denkt man zuerst an die verletzte Intimsphäre der Opfer. Doch das greift zu kurz. Denn geschwiegen wird auch in Machtsystemen, die nicht auf Sex beruhen. Denken wir an die Initiationsrituale, wie sie in militärischen Verbänden, im Gefängnis und übrigens auch bei den Pfadfindern üblich sind: Der Neuling wird gezwungen, etwas zu tun, was er nicht tun will.
Die "Mutprobe" ist darauf angelegt, seine inneren Werte zu verletzen, darin besteht die Demütigung: Er wird zum Verrat an sich selbst. Niemand erzählt gern von einer Demütigung. Mit ihrem Schweigen schützen die Opfer auch sich selbst. Das ist das Perfide an dieser Form der Machtausübung.
Wie verbreitet sind diese Parallelwelten in unserer scheinbar so aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft? Zeigen die #MeToo-Enthüllungen, wenn sie zutreffen, Ausnahmefälle, oder ist es die Spitze des Eisbergs? Darüber wissen wir nichts, denn das Schweigen wird selten gebrochen. Reden gilt als Verrat: Whistleblowern ist die öffentliche Anerkennung zwar sicher, doch sie sind schwer zu schützen.

Whistleblower als Nestbeschmutzer

Als Nestbeschmutzer gilt nicht, wer das Nest beschmutzt hat, sondern wer den Schmutz an die Öffentlichkeit bringt. Edward Snowden ist für die einen ein Held, für die anderen ein Vaterlandsverräter, in die USA kann er nicht zurück.
Das Redeverbot ist die wichtigste Waffe desjenigen, der seine Macht missbraucht – doch es ist auch seine Achillesferse. Wenn die Macht sich vom Schweigen der anderen nährt, ist es mit dieser Macht schlagartig vorbei, sobald das Schweigen gebrochen wird. Die Luft entweicht aus dem Scheinriesen schneller als aus einem Ballon. Auf einmal hat der Gefürchtete Angst vor denen, die ihn fürchteten. Denn Macht ist ein Phantasma. Sie entscheidet sich einzig an der Frage: Wer hat Angst vor wem?

Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994-98 war sie Kulturkorrespondentin der NZZ in New York, von 1999 bis 2016 war es in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik, an der Universität St. Gallen gibt sie Schreibworkshops für Doktoranden. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).

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