Schweigen in Oradour

Von Klaus Manfrass |
Drei Tage lang ist der Bundespräsident zu Gast in Frankreich, und der heutige Tag birgt die größte Herausforderung. Joachim Gauck will den Ort Oradour besuchen, Schauplatz fürchterlicher SS-Verbrechen. Er werde sein Haupt verbeugen, hat Gauck angekündigt. Aber reicht das?
Ausgerechnet Oradour-sur-Glane. Der Ort steht nicht nur für selten fürchterliche Gräueltaten, die eine Division der Waffen-SS dort angerichtet hat. Oradour steht auch für eine innerfranzösische Tragödie, deren Wunden auch nach 70 Jahren kaum geheilt sind und an die man schon gar nicht von deutscher Seite rühren sollte. Trotzdem hat Bundespräsident Joachim Gauck beschlossen, sich dort mit François Hollande zu treffen.

Oradour im Juni 1944: Alle Männer bis auf einige wenige wurden erschossen, während die Frauen und die Kinder in die Dorfkirche getrieben wurden, die dann in Brand gesteckt wurde. Den Mord an 642 Menschen hat nicht irgendeine SS-Division begangen, sondern die Division "Das Reich". Viele ihrer Angehörigen stammten aus den annektierten Gebieten wie Elsass-Lothringen. Und da fängt die innerfranzösische Tragödie an, denn beteiligt an der Gräueltat waren zahlreiche Elsässer. Etliche der massakrierten Bewohner dagegen waren lothringische Flüchtlinge aus der Nähe von Metz. Und obwohl der Division "Das Reich" auch Lothringer angehört haben, waren diese an der Gräueltat nicht beteiligt.

Und diese Spannung wirkt nach. Als fast zehn Jahre später nach langen Verzögerungen der Prozess vor dem Militärgericht von Bordeaux begann, hatte er fast eine Spaltung Frankreichs zur Folge. Die angeklagten elsässischen SS-Leute beriefen sich pauschal darauf, gegen ihren Willen eingezogen worden zu sein. Doch weil die Elsässer bestialisch auch Lothringer umgebracht hatten, flammten die Ressentiments zwischen den beiden Nachbarregionen wieder auf. Und als die angeklagten Deutschen und Elsässer verurteilt waren, führte dies im Elsass beinahe zum Volksaufstand. Und deshalb beschloss die französische Nationalversammlung kurzerhand eine Amnestie für die Angeklagten aus dem Elsass.

Alle Verurteilten kamen frei
Zweifellos war die Wahrheitssuche von der politischen Dimension in den Hintergrund gedrängt worden. Paris wollte im gerade zurückgewonnenen Elsass als Befreier und nicht als Ankläger angesehen werden. Und die elsässische Autonomiebewegung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war den Politikern in Paris noch in Erinnerung und wurde durchaus als Gefahr angesehen. So kamen also noch vor Ende der 50er-Jahre alle Verurteilten frei. In Lothringen und in der Gegend um Oradour stieß das auf Unverständnis.

Und hierher will nun ausgerechnet ein deutscher Bundespräsident reisen, um womöglich von Versöhnung und Aufarbeitung zu sprechen?

Die Wunden sind noch lange nicht verheilt. Oradour hat Paris die Amnestie nie verziehen, und es wurde dem ehemaligen Staatspräsidenten Sarkozy auch nicht verziehen, dass er 2010 die Elsässer als Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet hat. Hass belastet die Beziehungen zwischen den beiden Regionen bis heute.

Es mag auf deutscher Seite gute Gründe geben, an Oradour zu erinnern. Zum Beispiel ist die juristische Aufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen in Frankreich durch deutsche Gerichte nicht vollständig und befriedigend abgeschlossen. Doch das ist eine deutsche Angelegenheit. Die deutsch-französische Versöhnung hierüber hat längst stattgefunden. Oradour belastet nun mehr die innerfranzösischen als die deutsch-französischen Beziehungen. Spannungen und gegenseitiges Unverständnis sind größer, als man in Deutschland zu ahnen scheint.

Ist es wirklich die Aufgabe eines Bundespräsidenten, solche Wunden neu aufzureißen?

Klaus Manfrass hat seit Anfang der 1960er-Jahre in Paris gelebt und mehr als 30 Jahre am Deutschen Historischen Institut Paris im Bereich Zeitgeschichte gearbeitet. Später arbeitete Klaus Manfrass für die DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik). Ende 2006 verließ er Paris und lebt jetzt im Ruhestand in Oberbayern.
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