Kommunikation

Die vielen Facetten des Schweigens

30:25 Minuten
Eine Illustration zeigt ein kleines Männchen mit einem Lautsprecher, der einen riesigen Schatten wirft. Dieser widerum hält sich den Finger als Geste des Schweigens vor den Mund.
Wer darf in einer Gesellschaft reden und wer muss schweigen? © Getty Images / iStockphoto
Von Heiner Kiesel |
Audio herunterladen
Schweigen ist paradox - als Verweigerung von Kommunikation, die etwas mitteilen soll: im persönlichen Gespräch, aber auch im gesellschaftlichen Diskurs. Manchmal ermöglicht erst Schweigen eine Verständigung. Und manchmal genau das Gegenteil.
In einem Feature über das Schweigen sollte es auch mal ruhig sein. Es lässt sich viel über das Schweigen sprechen, wahrscheinlich kann man auch über das Sprechen schweigen. Aber wissen die Angeschwiegenen dann wirklich, worum es geht? Und genau jetzt: Sie hören Radio. Da können Sie Schweigen doch eigentlich nicht wollen! Sie schalten ein oder streamen ja gerade, weil Sie etwas hören möchten. Schweigen und Stille sind dann eher eine Zumutung. Da gibt es Grenzen. Auch technisch. Was geht eigentlich?

Ein Besuch bei der Schaltmeisterin

Es geht in einen mit Monitoren und Schaltpulten üppig ausgestatteten Raum im dritten Stock des Funkhauses von Deutschlandfunk Kultur: den Schaltraum. Schaltmeisterin Monika Brummund hat die Anzeigen ständig im Blick. Sie arbeitet seit 2004 im Schaltraum. Brummund und ihre Kolleginnen sorgen dafür, dass alle Gäste und Korrespondenten in die richtigen Studios geschaltet werden und achten darauf, dass alles, was von dort ausgestrahlt wird, auch draußen ankommt.
Die grünen und gelben Balken der Anzeigen zucken auf und ab. So soll es sein. Überall ist Bewegung, überall läuft etwas, digital und analog. Welche Möglichkeiten zum Schweigen im Radio gibt es?

„Wenn eine abrupte Stille auftritt, haben wir erstmal ein Störmeldesystem, das nach 30 Sekunden anspringt. Das ist für mich dann der Hinweis, was da gerade am Dampfen ist. Und dann haben wir so einen Silent-Detektor, der nach vier Minuten anspringt, wenn man nicht reagiert, der dafür sorgt, dass auf unsere Frequenzen das Kölner Programm kommt - oder umgekehrt, falls Köln nicht sendet, unser Programm auf die Kölner Frequenzen geschaltet wird.“

Stille als Störung

Dass ein Nichts transportiert wird, um etwas mitzuteilen, ist eher nicht vorgesehen. Allerdings reagiert das System erst bei minus 60 Dezibel - das wäre dann 128-mal leiser als Atmen. Nichts, was der Mensch irgendwie hören könnte.

„Dann gibt es natürlich auch die geplanten Stillen. Da rufen wir natürlich unsere Erdfunkstelle Using an und bereiten auch die Kollegen dort vor Ort vor, dass es keine Havarie oder sonst etwas ist, sondern eine geplante Stille, damit die nicht in Panik verfallen und irgendwelche Maßnahmen einleiten, die dann nicht gewollt sind.“

Also ist im Radio technisch durchaus einiges möglich an Stille. Und menschlich? Es kommt nichts, und doch soll eine Botschaft verstanden werden. Da reagiert jeder unterschiedlich. Aber die Schaltmeisterin Monika Brummund traut den Hörern und Hörerinnen dieses Programms einiges zu:

„Da wir wirklich ein Kulturprogramm sind und alle Farben der Kultur abbilden, die es gibt, Neue Musik, Hörspiele, Feature, haben die auch eine höhere Hemmschwelle wegzuschalten, sondern die können das aushalten.“

Schweigen - die Kombizange der Spiritualität

„Schweigen wird eher negativ oder defizitär definiert – als nicht reden oder nicht mehr reden. Das heißt, es wird als Negativfolie oder Ex-Negativum über das Reden definiert und man könnte deswegen auch meinen –  das ist eine kleine Schwachstelle in der Linguistik –,  dass es deswegen aus sprachwissenschaftlicher Sicht nichts gibt, was man untersuchen könnte, weil Schweigen ja materiell ein Nichts ist, ein Nicht-mehr-Reden. Wie kann man sich mit einem Nicht-mehr-Reden beschäftigen? Das ist dann vielleicht die Frage.“

Mit dieser Frage beschäftigt sich die Linguistin Sina Lautenschläger von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg eingehend. Sie erforscht aktuell Schweigen in digitaler schriftlicher Kommunikation. Aus Sicht der Sprachwissenschaftlerin ist das Schweigen ein unterschätzter und von ihrer Disziplin lange nicht ausreichend untersuchter Aspekt unserer Kommunikation.

Man kann nie hundertprozentig sichergehen, dass das eigene Schweigen als Schweigen angenommen wird.

Sina Lautenschläger, Sprachwissenschaftlerin und Schweigeforscherin

Dass Schweigen die Menschheit schon lange beschäftigt, machen die Äußerungen von Denkern seit der Antike deutlich. Plutarch empfiehlt es, Ludwig Wittgenstein schließt seinen Tractatus so ab. Der Anthropologe Christoph Wulf sieht das Schweigen als den Horizont, vor dem sich alles Sprechen abspielt. Es ist die Kombizange im Werkzeugkasten der Spiritualität. Multifunktional und -dimensional. Lautenschläger sagt, es sei so etwas wie eine Knetmasse:

„Etwas, das einem durch die Hände flutscht. Es ist da, aber man kann es trotzdem nicht richtig greifen. Aber irgendwie kann man es doch richtig greifen, richtig interpretieren, sonst würden wir es nicht so häufig einsetzen.“
Rotes Schild mit der Aufschrift "On air". Daneben ist ein Finger zu sehen, der auf eine Taste mit Mikrofonsymbol drückt.
Im Radio lässt sich schwer schweigen - und auch sonst ist die Stille in Kommunikationssituationen oft mehrdeutig.© picture alliance / PantherMedia | Olivier Le Moal
Schweigen ist wirklich schwer in den Griff zu bekommen. Bleiben wir bei der Linguistik. Es handelt sich ja um mehr als Pausen zwischen Wörtern und Satzteilen. Sprache wird oft als ein System beschrieben, bei dem mit einer begrenzten Menge an Zeichen, seien es Laute oder Buchstaben, fast alles ausgedrückt werden kann.
Aber Schweigen kann das irgendwie auch – mit immer demselben Nichts. Manchmal können sich die Beteiligten noch über nonverbale Zeichensysteme verständigen –  ein Augenzwinkern, ein mürrisches Gesicht. Lautenschläger spricht hier von einem expliziten Schweigen. Oder aber, was sie vor allem bei schriftlicher Onlinekommunikation beobachtet: Da, wo jede Gestik und Mimik, jede hörbare Reaktion fehlt, herrscht absolutes Schweigen. Der gemeinsame Kommunikationsraum fehlt. Je weniger Kontext Schweigen hat, desto ominöser wird es, desto gewagter sein Einsatz.

„Man kann nie hundertprozentig sichergehen, dass das eigene Schweigen als Schweigen angenommen wird. Man kann ja erst überprüfen, dass das eigene Schweigen als Schweigen interpretiert wird, wenn das Gegenüber, das man anschweigt, entsprechend reagiert. Wenn mein Gegenüber aber wiederum schweigend reagiert, ist das dann erfolgreiches Schweigen? Ich weiß es nicht.“

Schweigen in der Onlinekommunikation

Das Paradoxe am Schweigen ist, dass es erst wirklich geklärt werden kann, wenn es gebrochen wird. Zu unsicher? Aber ein Riesenpotenzial! Es kann mehr als geschliffene Reden. Das Schweigen sinnvoll einzusetzen - diese Möglichkeit nutzen wir auch bei neuen Kommunikationswegen, wie z.B. beim Chat im Internet. Die Linguistin ist so auf ihren aktuellen Forschungsgegenstand gestoßen:

„Ich hatte eine Freundin mit ganz schlimmem Liebeskummer, und mittlerweile hat man ja auch diverse Apps, mit denen man kommunizieren kann, sei es über Instagram, Messenger, Whatsapp. Und da kamen so Sachen von ihr wie: Ich sehe doch, dass der online ist, warum schreibt der mir nicht? Oder: Der hat bei Instagram was gepostet, der muss sein Smartphone in der Hand gehabt haben, aber mir hat er nicht geantwortet. Was ist denn da los?

Da bin ich dann hellhörig geworden und dachte mir, dass das ein Thema ist, mit dem man sich befassen muss. Meine These ist, dass durch die Mediatisierung, die uns viel mehr Möglichkeiten gibt, zu kommunizieren, es gleichzeitig auch mehr Möglichkeiten gibt, zu schweigen.“

Schweigen ist oft schwer zu ertragen

Lautenschlägers Untersuchungsmaterial zeigt: Es ist nicht leicht zu ertragen. Kann doch nicht sein! Stimmt was mit der Technik nicht - das ist oft der erste Verdacht, wenn die Antworten ausbleiben. Aus der offenen Frage wird eine bohrende. Stimmt vielleicht was auf der Beziehungsebene nicht?

„Die Unterstellung, dass man schweigt, wird einfacher, aber das bloße Stillsein - dieses gerade kommunikativ nicht verfügbar sein und ‚meine Nichtreaktion ist ohne Bedeutung für dich‘ - zu verstehen, wird, glaube ich, schwieriger. Durch die Smartphones und Apps, die wir haben, ist ein Jenseits der Kommunikationssituation sehr schwer zu erreichen.“
Benediktinerabtei Münsterschwarzach
Ein Ort, an dem sich gut schweigen lässt: die Benediktinerabtei Münsterschwarzach.© picture alliance / dpa / Karl-Josef Hillenbrand
„Dann können wir ja loslegen. Da ist die Abteikirche, gehen Sie gerade mal voraus.“

Bruder Jakobus führt in die Krypta des Benediktinerklosters Münsterschwarzach in Unterfranken. Dort setzt er sich und es passiert erstmal nichts – im Außen. Nach fünf Minuten nickt er auffordernd:

„So, sehr gut, konnten Sie so die Stille aufnehmen? Dann würden wir jetzt einfach in den Gästegarten gehen, und dann würden wir uns auch so fünf Minuten hinsetzen, mal so auf sich wirken lassen. Okay?“

Hallo? Noch da? War das eine Zumutung, war das überhaupt Schweigen – oder einfach nur Stille? Letzteres natürlich nicht im akustischen Sinn, da war ja noch der Raumklang der Krypta im Benediktinerkloster Münsterschwarzach am Main in Franken.
Kann es überhaupt Stille zwischen Menschen geben, die kein Schweigen ist? Der österreichische Philosoph und Psychotherapeut Paul Watzlawick hat postuliert, dass wir nicht nicht-kommunizieren können. So betrachtet, bleibt auch jede unausgefüllte Möglichkeit des Sprechens nicht einfach leer, sondern ist mit Bedeutung gefüllt, mit Schweigen.

Stille als stimulierende Atmosphäre

Ich lebe im Moment allein im Thomas Mann House. Da ist niemand außer mir. Ich schreite also durch diese auratisch aufgeladenen Räume, in denen Thomas Mann mit seiner Familie gelebt hat und diese Stille, diese Ruhe hat einen eigenen Zauber, und man denkt Gedanken, die man unter den Bedingungen der Totalablenkung sonst nicht gedacht hätte. Die Atmosphäre der Stille ist zumindest potenziell eine ungeheuer stimulierende Atmosphäre.

Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler

Bernhard Pörksen erlebt diese wohltuenden und inspirierenden Momente der Ruhe in Los Angeles. Er ist zu einem Forschungsaufenthalt dort. Ein Lob der Stille, des Schweigens. Eigentlich beschäftigt er sich mit dem Gegenteil davon:

„Ich bin Medienwissenschaftler und beschäftige mich mit Fragen der Kommunikation und des Kampfes um Aufmerksamkeit, der Debatte über Empörung im öffentlichen Raum.“

Schweigen wird glorifiziert

Wenn man eine Weile nachdenkt oder auch die einschlägigen Zitatensammlungen recherchiert, stößt man auf unzählige Aussprüche, die das Schweigen geradezu glorifizieren. Erfahrungsberichte von Schweigeseminaren aus dem Bekanntenkreis - die so toll waren. Feuilletonisten, die zum Innehalten aufrufen.
Würde das alles wirklich beherzigt werden, gäbe es viele der Aufreger, der Skandale, der Entgleisungen nicht, mit denen sich Pörksen beschäftigt. Aber so läuft das nicht. Wir sind Individuen, die beachtet werden wollen. Der sicherste Weg, Sokrates soll das gesagt haben: Rede, damit ich dich sehe!

„Der Kampf um Aufmerksamkeit auf dem Medienmarkt wird härter. Es gibt eine eigene Emotions- und Erregungsindustrie, die nichts anderes tut, als permanent auf den viralen Hype zu zielen, auf den Aufmerksamkeitsexzess und -erfolg.“

„Da sind die prominenten Akteure im öffentlichen Diskurs, die Angst haben müssen, dass sie vergessen werden, wenn sie sich nicht öffentlichkeitswirksam zu Wort melden. Die Medien, deren Geschäft es geworden ist, Aufregung zu verbreiten. Es ist laut!  Das kann man kritisch sehen, aber es bietet Vielfalt und Wahlmöglichkeiten, Meinungen und Ideen. Das wollen wir ja in unserem modernen Zusammenleben.“

„Auf der anderen Seite erleben wir gleichzeitig - und darin besteht die eigentümliche Paradoxie - eine Vermachtung des kommunikativen Raumes, eine Refeudalisierung des kommunikativen Raumes, wie wir sie selten oder vielleicht noch nie in der Mediengeschichte gesehen haben - die Zentrierung um ganz wenige Digitalgiganten, die die Kommunikationsströme von Milliarden von Menschen regulieren, die ihre eigenen Anreize setzen, die eines definitiv nicht wollen: das Schweigen, die Stille, die Nichtkommunikation, sondern die Überhitzung der Kommunikation, um Menschen weiter auf ihren Plattformen zu halten.“

„Schweigen muss man sich leisten können, auch den Ausschluss des äußeren Lärms muss man sich leisten können. Schweigen ist in diesem Sinne ein eigenes Privileg.“

Die schweigenden Entscheider

„Ich habe selbst den Wert des Schweigens nie unterschätzt, wenn es um Sachen geht, zu denen man nichts sagen kann oder nichts sagen sollte. Da hat mich immer schon Wittgenstein überzeugt, der es sehr zugespitzt hatte, der gesagt hat, wozu man nix sagen kann, dazu muss man schweigen. Das wird immer wieder missachtet.“

Karl Lauterbach ist eigentlich keiner, der als großer Schweiger durchgeht:  Bundestagsabgeordneter, Sozialdemokrat, Arzt und inzwischen auch Bundesgesundheitsminister. Einer, der redet und gesehen wird. Niemand saß im letzten Jahr häufiger in Talkshows. Und in der vergangenen Legislaturperiode war er auch der Politiker ohne Regierungsamt, der am häufigsten zu den TV-Nachrichten zugeschaltet wurde.
Bundesgesundheitsminister Lauterbach (SPD)
Sendet auf allen Kanälen: SPD-Gesundheitsexperte und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (Archivaufnahme vom 04.03.2021).© picture alliance/dpa/Michael Kappeler
Er sitzt unruhig in einem Kölner Straßencafé, eben war noch ein Kamerateam da, schnell noch ein Telefonat. Und doch kann er schweigen. Am Vormittag hat er noch an einer hochkarätig besetzten Konferenz zur Pandemie teilgenommen, über die Stillschweigen vereinbart worden ist.

„Ich habe mich daran gehalten, verschwiegen zu sein, aus der altmodischen Denkweise, dass ich mich gern daran halte, wenn ich mein Wort gegeben habe – zumindest da, wo es geht. Aber trotzdem wäre es so gewesen, wenn wir uns darauf verständigt hätten, nicht zu schweigen oder sogar die Öffentlichkeit hinzuzuholen, dann wäre das aus meiner Sicht besser gewesen.“

Solange es nur kompetent und sachorientiert geschieht, kann dem Gesundheitspolitiker gar nicht genug geredet werden. Keine Geheimnisse, kein Verschweigen. Er bedauert, dass er in der kommenden Woche keinen Talkshow-Termin bekommen konnte. [Das Interview wurde vor der Ernennung Lauterbachs zum Bundesgesundheitsminister geführt, Anm. d. Red.]

„Ich sehe den Schwerpunkt klar bei der Transparenz. Also, dass etwas verschwiegen wird oder dass etwas nicht komplett gesagt wird, das ist nur im Ausnahmefall zu rechtfertigen. Mein genereller Eindruck ist der, je öffentlicher die Sitzungen und Beratungen wären, desto besser wäre es für die Bevölkerung, weil die Bevölkerung sich dann sehr viel besser einbringen könnte in die Diskussion.“

Verschweigen galt mal als fürstliche Staatskunst

Es gehört sich für Politiker, sich für Transparenz auszusprechen. Sie stehen seit jeher unter einer Art Generalverdacht, wichtige Informationen zu verheimlichen. Das hat heute einen schlechten Ruf - war aber nicht immer so und hat eine lange Tradition: Das Verschweigen von ernsten, das Volk verunsichernden Informationen gehörte in der Renaissance zur fürstlichen Staatskunst. Heute passiert es nur noch selten, dass sich einer mit seinem Schweigen offen über alle anderen stellt, wie damals Helmut Kohl bei der Spendenaffäre.

Und so wie ich es verstehe - andere werden es anders verstehen –, gehört für mich und zu meiner Ehre, dass ich ein gegebenes Wort halte.

Helmut Kohl, von 1982 - 1998 Bundeskanzler

Der große Wandel in der Betrachtung des Schweigens beginnt mit der Aufklärung. Denn Dinge, über die man nicht spricht, lassen sich nicht klären, bleiben dunkel. Das behindert den Fortschritt. Schweigen bekommt einen schlechten Ruf. Etwas für Mystiker und Spiritualisten.
Natürlich hörte das Schweigen nicht auf. Verschweigen! Ein Schweigen, das sich gerne hinter Wörtern versteckt. Man weiß nie genau, woran man ist. Und noch ein Vorteil, für den gerne Plutarch zitiert wird: Das Verschwiegene kann man immer noch aussprechen, das Gesagte zurücknehmen, ist unmöglich. Es dauert daher zuweilen, bis sich die geforderte Redebereitschaft einstellt – so wie bei Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer:

„Es ist mir ein Anliegen, den Abgeordneten Auskunft zu geben. Das werde ich auch heute vollumfänglich machen, nach bestem Wissen und Gewissen.“

Ein Interview mit langen Pausen

Zurück zum Politiker Karl Lauterbach und dem Gespräch über Politik und Schweigen. Und zu einer paradoxen Frage.

„Zu welcher Frage ich gern schweigen würde? Wieso ich keinen besseren Listenplatz vonseiten der SPD bekommen habe.“

Ich glaube schon, dass es nicht ausgemacht ist, dass die Politiker besonders erfolgreich sind, die zu allem etwas zu sagen haben.

Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister

Es gibt lange Pausen bei diesem Interview. Aber keinen wirklichen Ansatz, sie zu klären. Vielleicht waren es die falschen Fragen, der Tag schon zu lang oder ein ehrliches Unbehagen, auf Fragen zu antworten, die nicht direkt sein Kompetenzbereich sind. Manchmal ist es wohl auch ein taktvolles Schweigen, wenn es um das Reden und Schweigen der Kollegen geht. Was Lauterbach wohl an dem Gespräch über das Schweigen interessiert hat? Die Antwort ist kurz:

„Das Thema.“

Der Schweigeprofi

„Es gibt aus dem ganz frühen Mönchtum Apophtegmata, das sind so Worte, Erzählungen, die von den frühen Mönchen im 4./5. Jahrhundert aufgeschrieben wurden, und da wird erzählt, dass da, wenn ein Schüler zu einem bewährten Altvater, Mönch kam, dass man da nicht einfach sofort miteinander gesprochen hat, sondern man erstmal miteinander geschwiegen hat. Das hat beim Schüler erstmal ausgelöst, dass er angekommen ist. Das Zweite ist, dass er sich dessen, was er fragen wollte, nochmal bewusster wurde, aber auch, dass der Altvater dann sich einfach einspüren konnte auf den anderen.“

Als Einstimmung auf dieses Gespräch über das Schweigen haben wir bereits hinter uns: Fünf Minuten schweigend sitzen in der Krypta und dann nochmal so lange im Garten des Klosters Münsterschwarzach - das liegt am Main zwischen Bamberg und Würzburg. Das war klar, dass es im Gespräch über das Schweigen mit Bruder Jakobus lange Pausen geben wird. Der Mann ist ein geübter Schweiger.

„Wir sind Benediktiner. Der Benediktinerorden gründet im ganz frühen Mönchtum - Benedikt wird angesetzt um etwa 480 -, und er hat eine Regel verfasst. Und diese Regel hat ein eigenes Kapitel über die Schweigsamkeit. Die eigene Schweigsamkeit wird damit begründet, dass man, wenn man spricht, dann auch Dinge sagt, die verletzen, die zur Sünde führen, die dann irgendwie trennen: trennen vom Menschen, aber auch vom Zugang zu Gott. Deshalb soll der Mönch zunächst einmal schweigen.“
Wer schweigt, sagt Bruder Jakobus, der ist erst einmal auf sich selbst zurückgeworfen. Der Benediktiner sieht in seinen Einführungskursen, dass das für viele anfangs schwer auszuhalten ist. Keine Ablenkung mehr. Dann würden die eigenen inneren Stimmen lauter. Schweigen bringe Körper, Seele, Geist ins Lot, beobachtet er.

„Und aus dieser Selbsterkenntnis erwächst dann normalerweise ein Prozess der Selbstannahme. Je mehr ich das integriere und annehme und diese Stimmen zur Ruhe bringe, desto mehr entsteht eine größere Durchlässigkeit, Sensibilität und Feinfühligkeit, aber auch die Fähigkeit, intensiver wahrzunehmen. Und dass dann eine ganz große Sensibilität und Offenheit dazu führt, dass ich nochmal in der Stille dann Erfahrungen mache, die man dann mystische, transpersonale Erfahrungen nennt, die dann in den Bereich des Religiösen gehen.“

Das ist keine exklusive Domäne christlicher Mönche. Bruder Jakobus hat mit japanischen Mönchen im Zen-Kloster geschwiegen. Für religiöse, spiritistische Gemeinschaften überall auf der Welt ist das Schweigen eine wichtige Methode. Ein Weg zu Erfahrungen, die jenseits der empirischen Beweisbarkeit liegen.

Hören kann ich nur, wenn ich schweige!

Bruder Jakobus, Benediktinermönch

Das Eigentliche dieser Gewissheiten, ihre Fülle und Tiefe, ist nicht sprachlich vermittelbar. Mystik. Das ist der Bereich, auf den Wittgensteins berühmter Satz über das Schweigen zutrifft: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Es geht ihm im Tractatus logico-philosophicus nicht um nerviges, inkompetentes Geschwätz gewisser Zeitgenossen, sondern darum, dass sich bestimmte Sachverhalte nicht mit Sprache darstellen lassen. Über die kann man nichts sagen. Also muss man schweigen. Das könnte auch auf das Schweigen selbst zutreffen.

„Ich kann mich mit Ihnen wunderbar über ein wunderbares indisches Gericht unterhalten, wie das schmeckt, aber wenn Sie es noch nie probiert haben, dann bleibt das alles irgendwie eine Kopfgeschichte. Und so ist es auch mit dem Schweigen, sich wirklich darauf einzulassen. Stille entsteht dann, wenn ich sie höre.“

Die Stille hat viele Gestalten

Bruder Jakobus spricht über die Vielgestaltigkeit und Emotionsgeladenheit von Stille. Wie er sie erlebt und welche Erfahrungen damit verbunden sind, wenn er sich auf sie einlässt. Immer in dem Bewusstsein, über die Qualität von etwas zu sprechen, das sich der Sprache entzieht.

„Und wie könnten Sie die vielleicht auch benennen? Können Sie die überhaupt in Sprache heben? Das ist ja das andere, dass wir glauben, wenn wir einen Begriff haben, dass es das schon sei. Aber das qualitative Erfahren ist dann, je nachdem, durch das Wort auch beschädigt oder nicht getroffen oder deformiert oder eben nicht wirklich das, was das qualitative Erfahren wirklich ist.“

Es ist eine zutiefst romantische Vorstellung, dass Verstehen und Verständigung tiefer und ursprünglicher werden, wenn sie über Schweigen geschehen. Dagegen lässt sich nichts sagen.

„Wenn zwei Menschen sich kennenlernen, ein Paar werden, dann haben sie sich sehr, sehr viel zu erzählen. Aber irgendwann gehen sie auch Arm in Arm, Hand in Hand spazieren und schweigen. Und dennoch ist in diesem Schweigen Beziehungsfluss.“

Kann Schweigen eine Gesellschaft versöhnen?

„Schweigen heißt ja auch, selbst nicht die Worte zur Verfügung zu haben, die da angemessen sind und auch noch die anderen zu erreichen. Dan Bar-On spricht von einer doppelten Mauer des Schweigens: Erstmal muss man das eigene Schweigen überwinden durch eine Sprache, die man findet, und dann muss man die Mauer der anderen überwinden können, die das nicht hören wollen.“

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann setzt sich mit der Funktion des Schweigens auf gesellschaftlicher Ebene auseinander. Wie wirkt es dort, wer kann, wer muss schweigen?
Aleida Assmann spricht in ein Mikrofon und gestikuliert.
Totgeschwiegen: Wer in der gesellschaftlichen Hierarchie unten steht, findet nur schwer Gehör, sagt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.© imago stock&people, epd-bild Heike Lyding
Sie beschreibt die Grausamkeit der Sprachverweigerung mit einem Beispiel aus der neueren Literatur.

„Peter Härtling in seinen Erinnerungen an seinen Vater, ‚Nachgetragene Liebe‘ heißt das Buch, erinnert sich daran, dass ihm der Vater durch Schweigen Liebe entzogen hat, für geringfügige Vergehen, die man als Kind auch nicht umhinkommt zu tun. Diese Minivergehen wurden geahndet, dass der Vater ihn manchmal bis zu einer Woche nicht angesprochen hat. Er hat ihn, wie Härtling das nennt, totgeschwiegen. Das war für das Kind eine unglaublich traumatische Erfahrung. Das war schlimmer als Prügel!“

Schweigen als Machtdemonstration

Schweigen und Schweigen zu erzwingen, sind Zeichen von Macht. Etwas wird nicht mitgeteilt oder verhandelt. Schutz und Repression. Täter schweigen, Opfer können ihr Recht nicht einfordern. Frauen haben lange darunter gelitten, Missbrauchsopfer und Minderheiten tun es immer noch. Und es ist so leicht und unauffällig, bei diesem Schweigen mitzumachen.
Aber es macht einen auch zum Komplizen. Auch das schweißt eine Gesellschaft zusammen. Nach der Nazizeit war Schweigen die dominante Form der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik. Warum hat es nur so lange gedauert, bis daraus Erinnerung geworden ist?

„Und da gibt es für Deutschland die Theorie, dass die vier Jahrzehnte nötig waren, um eine Transformation dieser westdeutschen Gesellschaft zu erreichen. Das konnte man nicht von heute auf morgen machen, man brauchte auch einen Generationswechsel. Die Sensibilität der Gesellschaft musste sich ändern, die Werte und Normen mussten sich ändern, und insofern kann das Schweigen auch etwas wie Befähigung zu einer Veränderung sein.“

Wer unten steht, findet kaum Gehör

So ganz geheuer ist Aleida Assmann diese Theorie des transformativen Schweigens nicht. Gewiss braucht es auch Zeit für die Opfer, Worte für das erlittene Unrecht zu finden. Aber Schweigen bringt das nicht voran. Es hat die Tendenz, Verhältnisse zu konservieren, sagt die Kulturwissenschaftlerin.

„Also in der Hierarchie ist es schwierig, als jemand, der weiter unten steht, Gehör zu finden. Und wenn ein gesellschaftliches Klima noch nicht vorhanden ist, das diese Bereitschaft des Zuhörens und des Würdigens und des Anerkennens dieser Opfer zulässt, wird auch kein Gehör möglich sein, und auf diese Art und Weise kann sich ein Schweigen über Jahrzehnte fortsetzen.“

Wo wird geschwiegen? Wo schadet es? Wo wollen wir es? Schweigen in der Gesellschaft ist nicht per se fragwürdig. Es kommt auf den Kontext an, sagt Aleida Assmann. Geteiltes Wissen über das, was man nicht sagen kann – Diskursregeln, Takt und Tabu – hilft, Verbundenheit zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft herzustellen.

„Das Schweigen nivelliert viel radikaler, als dass alle sprechen dürfen. Jeder artikuliert anders und hat seine Techniken, um sich in den Mittelpunkt zu spielen. Das ist uns angelegt. Aber das gemeinsame Schweigen wäre ein gemeinsames Sich-zurückziehen in der Gruppe. Ich kann mir schon vorstellen, dass das in manchen Tagungszentren oder Akademien schon eingebaut wird. Aber man könnte es auch mal in der Uni und anderen Kontexten ausprobieren, dass das eine Dimension des Zusammenseins erschließen könnte.“

Nicht-Sprechen kann guttun. Aber es ist deutlich, dass ein gutes Schweigen eines ist, das auf Augenhöhe und im Einvernehmen geschieht. Und im richtigen Kontext!

Epilog im Kloster

„Qua meiner Profession mache ich ja auch fortwährend Geräusche und sorge dafür, dass Geräusche entstehen und gesendet werden. Eigentlich ist das Schweigen ja mein Feind - ganz persönlich gesagt: Bei Stille verdiene ich kein Geld!“

„Sie müssen den Beruf wechseln!“

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema