Man kann nie hundertprozentig sichergehen, dass das eigene Schweigen als Schweigen angenommen wird.
Sina Lautenschläger, Sprachwissenschaftlerin und Schweigeforscherin
Die vielen Facetten des Schweigens
Ein Besuch bei der Schaltmeisterin
„Wenn eine abrupte Stille auftritt, haben wir erstmal ein Störmeldesystem, das nach 30 Sekunden anspringt. Das ist für mich dann der Hinweis, was da gerade am Dampfen ist. Und dann haben wir so einen Silent-Detektor, der nach vier Minuten anspringt, wenn man nicht reagiert, der dafür sorgt, dass auf unsere Frequenzen das Kölner Programm kommt - oder umgekehrt, falls Köln nicht sendet, unser Programm auf die Kölner Frequenzen geschaltet wird.“
Stille als Störung
„Dann gibt es natürlich auch die geplanten Stillen. Da rufen wir natürlich unsere Erdfunkstelle Using an und bereiten auch die Kollegen dort vor Ort vor, dass es keine Havarie oder sonst etwas ist, sondern eine geplante Stille, damit die nicht in Panik verfallen und irgendwelche Maßnahmen einleiten, die dann nicht gewollt sind.“
Also ist im Radio technisch durchaus einiges möglich an Stille. Und menschlich? Es kommt nichts, und doch soll eine Botschaft verstanden werden. Da reagiert jeder unterschiedlich. Aber die Schaltmeisterin Monika Brummund traut den Hörern und Hörerinnen dieses Programms einiges zu:
„Da wir wirklich ein Kulturprogramm sind und alle Farben der Kultur abbilden, die es gibt, Neue Musik, Hörspiele, Feature, haben die auch eine höhere Hemmschwelle wegzuschalten, sondern die können das aushalten.“
Schweigen - die Kombizange der Spiritualität
Mit dieser Frage beschäftigt sich die Linguistin Sina Lautenschläger von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg eingehend. Sie erforscht aktuell Schweigen in digitaler schriftlicher Kommunikation. Aus Sicht der Sprachwissenschaftlerin ist das Schweigen ein unterschätzter und von ihrer Disziplin lange nicht ausreichend untersuchter Aspekt unserer Kommunikation.
„Etwas, das einem durch die Hände flutscht. Es ist da, aber man kann es trotzdem nicht richtig greifen. Aber irgendwie kann man es doch richtig greifen, richtig interpretieren, sonst würden wir es nicht so häufig einsetzen.“
„Man kann nie hundertprozentig sichergehen, dass das eigene Schweigen als Schweigen angenommen wird. Man kann ja erst überprüfen, dass das eigene Schweigen als Schweigen interpretiert wird, wenn das Gegenüber, das man anschweigt, entsprechend reagiert. Wenn mein Gegenüber aber wiederum schweigend reagiert, ist das dann erfolgreiches Schweigen? Ich weiß es nicht.“
Schweigen in der Onlinekommunikation
„Ich hatte eine Freundin mit ganz schlimmem Liebeskummer, und mittlerweile hat man ja auch diverse Apps, mit denen man kommunizieren kann, sei es über Instagram, Messenger, Whatsapp. Und da kamen so Sachen von ihr wie: Ich sehe doch, dass der online ist, warum schreibt der mir nicht? Oder: Der hat bei Instagram was gepostet, der muss sein Smartphone in der Hand gehabt haben, aber mir hat er nicht geantwortet. Was ist denn da los?
Da bin ich dann hellhörig geworden und dachte mir, dass das ein Thema ist, mit dem man sich befassen muss. Meine These ist, dass durch die Mediatisierung, die uns viel mehr Möglichkeiten gibt, zu kommunizieren, es gleichzeitig auch mehr Möglichkeiten gibt, zu schweigen.“
Schweigen ist oft schwer zu ertragen
„Die Unterstellung, dass man schweigt, wird einfacher, aber das bloße Stillsein - dieses gerade kommunikativ nicht verfügbar sein und ‚meine Nichtreaktion ist ohne Bedeutung für dich‘ - zu verstehen, wird, glaube ich, schwieriger. Durch die Smartphones und Apps, die wir haben, ist ein Jenseits der Kommunikationssituation sehr schwer zu erreichen.“
Bruder Jakobus führt in die Krypta des Benediktinerklosters Münsterschwarzach in Unterfranken. Dort setzt er sich und es passiert erstmal nichts – im Außen. Nach fünf Minuten nickt er auffordernd:
„So, sehr gut, konnten Sie so die Stille aufnehmen? Dann würden wir jetzt einfach in den Gästegarten gehen, und dann würden wir uns auch so fünf Minuten hinsetzen, mal so auf sich wirken lassen. Okay?“
Hallo? Noch da? War das eine Zumutung, war das überhaupt Schweigen – oder einfach nur Stille? Letzteres natürlich nicht im akustischen Sinn, da war ja noch der Raumklang der Krypta im Benediktinerkloster Münsterschwarzach am Main in Franken.
Stille als stimulierende Atmosphäre
Ich lebe im Moment allein im Thomas Mann House. Da ist niemand außer mir. Ich schreite also durch diese auratisch aufgeladenen Räume, in denen Thomas Mann mit seiner Familie gelebt hat und diese Stille, diese Ruhe hat einen eigenen Zauber, und man denkt Gedanken, die man unter den Bedingungen der Totalablenkung sonst nicht gedacht hätte. Die Atmosphäre der Stille ist zumindest potenziell eine ungeheuer stimulierende Atmosphäre.
Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler
„Ich bin Medienwissenschaftler und beschäftige mich mit Fragen der Kommunikation und des Kampfes um Aufmerksamkeit, der Debatte über Empörung im öffentlichen Raum.“
Schweigen wird glorifiziert
„Der Kampf um Aufmerksamkeit auf dem Medienmarkt wird härter. Es gibt eine eigene Emotions- und Erregungsindustrie, die nichts anderes tut, als permanent auf den viralen Hype zu zielen, auf den Aufmerksamkeitsexzess und -erfolg.“
„Da sind die prominenten Akteure im öffentlichen Diskurs, die Angst haben müssen, dass sie vergessen werden, wenn sie sich nicht öffentlichkeitswirksam zu Wort melden. Die Medien, deren Geschäft es geworden ist, Aufregung zu verbreiten. Es ist laut! Das kann man kritisch sehen, aber es bietet Vielfalt und Wahlmöglichkeiten, Meinungen und Ideen. Das wollen wir ja in unserem modernen Zusammenleben.“
„Auf der anderen Seite erleben wir gleichzeitig - und darin besteht die eigentümliche Paradoxie - eine Vermachtung des kommunikativen Raumes, eine Refeudalisierung des kommunikativen Raumes, wie wir sie selten oder vielleicht noch nie in der Mediengeschichte gesehen haben - die Zentrierung um ganz wenige Digitalgiganten, die die Kommunikationsströme von Milliarden von Menschen regulieren, die ihre eigenen Anreize setzen, die eines definitiv nicht wollen: das Schweigen, die Stille, die Nichtkommunikation, sondern die Überhitzung der Kommunikation, um Menschen weiter auf ihren Plattformen zu halten.“
„Schweigen muss man sich leisten können, auch den Ausschluss des äußeren Lärms muss man sich leisten können. Schweigen ist in diesem Sinne ein eigenes Privileg.“
Die schweigenden Entscheider
Karl Lauterbach ist eigentlich keiner, der als großer Schweiger durchgeht: Bundestagsabgeordneter, Sozialdemokrat, Arzt und inzwischen auch Bundesgesundheitsminister. Einer, der redet und gesehen wird. Niemand saß im letzten Jahr häufiger in Talkshows. Und in der vergangenen Legislaturperiode war er auch der Politiker ohne Regierungsamt, der am häufigsten zu den TV-Nachrichten zugeschaltet wurde.
„Ich habe mich daran gehalten, verschwiegen zu sein, aus der altmodischen Denkweise, dass ich mich gern daran halte, wenn ich mein Wort gegeben habe – zumindest da, wo es geht. Aber trotzdem wäre es so gewesen, wenn wir uns darauf verständigt hätten, nicht zu schweigen oder sogar die Öffentlichkeit hinzuzuholen, dann wäre das aus meiner Sicht besser gewesen.“
Solange es nur kompetent und sachorientiert geschieht, kann dem Gesundheitspolitiker gar nicht genug geredet werden. Keine Geheimnisse, kein Verschweigen. Er bedauert, dass er in der kommenden Woche keinen Talkshow-Termin bekommen konnte. [Das Interview wurde vor der Ernennung Lauterbachs zum Bundesgesundheitsminister geführt, Anm. d. Red.]
„Ich sehe den Schwerpunkt klar bei der Transparenz. Also, dass etwas verschwiegen wird oder dass etwas nicht komplett gesagt wird, das ist nur im Ausnahmefall zu rechtfertigen. Mein genereller Eindruck ist der, je öffentlicher die Sitzungen und Beratungen wären, desto besser wäre es für die Bevölkerung, weil die Bevölkerung sich dann sehr viel besser einbringen könnte in die Diskussion.“
Verschweigen galt mal als fürstliche Staatskunst
Und so wie ich es verstehe - andere werden es anders verstehen –, gehört für mich und zu meiner Ehre, dass ich ein gegebenes Wort halte.
Helmut Kohl, von 1982 - 1998 Bundeskanzler
„Es ist mir ein Anliegen, den Abgeordneten Auskunft zu geben. Das werde ich auch heute vollumfänglich machen, nach bestem Wissen und Gewissen.“
Ein Interview mit langen Pausen
„Zu welcher Frage ich gern schweigen würde? Wieso ich keinen besseren Listenplatz vonseiten der SPD bekommen habe.“
Ich glaube schon, dass es nicht ausgemacht ist, dass die Politiker besonders erfolgreich sind, die zu allem etwas zu sagen haben.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister
„Das Thema.“
Der Schweigeprofi
Als Einstimmung auf dieses Gespräch über das Schweigen haben wir bereits hinter uns: Fünf Minuten schweigend sitzen in der Krypta und dann nochmal so lange im Garten des Klosters Münsterschwarzach - das liegt am Main zwischen Bamberg und Würzburg. Das war klar, dass es im Gespräch über das Schweigen mit Bruder Jakobus lange Pausen geben wird. Der Mann ist ein geübter Schweiger.
„Wir sind Benediktiner. Der Benediktinerorden gründet im ganz frühen Mönchtum - Benedikt wird angesetzt um etwa 480 -, und er hat eine Regel verfasst. Und diese Regel hat ein eigenes Kapitel über die Schweigsamkeit. Die eigene Schweigsamkeit wird damit begründet, dass man, wenn man spricht, dann auch Dinge sagt, die verletzen, die zur Sünde führen, die dann irgendwie trennen: trennen vom Menschen, aber auch vom Zugang zu Gott. Deshalb soll der Mönch zunächst einmal schweigen.“
„Und aus dieser Selbsterkenntnis erwächst dann normalerweise ein Prozess der Selbstannahme. Je mehr ich das integriere und annehme und diese Stimmen zur Ruhe bringe, desto mehr entsteht eine größere Durchlässigkeit, Sensibilität und Feinfühligkeit, aber auch die Fähigkeit, intensiver wahrzunehmen. Und dass dann eine ganz große Sensibilität und Offenheit dazu führt, dass ich nochmal in der Stille dann Erfahrungen mache, die man dann mystische, transpersonale Erfahrungen nennt, die dann in den Bereich des Religiösen gehen.“
Das ist keine exklusive Domäne christlicher Mönche. Bruder Jakobus hat mit japanischen Mönchen im Zen-Kloster geschwiegen. Für religiöse, spiritistische Gemeinschaften überall auf der Welt ist das Schweigen eine wichtige Methode. Ein Weg zu Erfahrungen, die jenseits der empirischen Beweisbarkeit liegen.
Hören kann ich nur, wenn ich schweige!
Bruder Jakobus, Benediktinermönch
„Ich kann mich mit Ihnen wunderbar über ein wunderbares indisches Gericht unterhalten, wie das schmeckt, aber wenn Sie es noch nie probiert haben, dann bleibt das alles irgendwie eine Kopfgeschichte. Und so ist es auch mit dem Schweigen, sich wirklich darauf einzulassen. Stille entsteht dann, wenn ich sie höre.“
Die Stille hat viele Gestalten
„Und wie könnten Sie die vielleicht auch benennen? Können Sie die überhaupt in Sprache heben? Das ist ja das andere, dass wir glauben, wenn wir einen Begriff haben, dass es das schon sei. Aber das qualitative Erfahren ist dann, je nachdem, durch das Wort auch beschädigt oder nicht getroffen oder deformiert oder eben nicht wirklich das, was das qualitative Erfahren wirklich ist.“
Es ist eine zutiefst romantische Vorstellung, dass Verstehen und Verständigung tiefer und ursprünglicher werden, wenn sie über Schweigen geschehen. Dagegen lässt sich nichts sagen.
„Wenn zwei Menschen sich kennenlernen, ein Paar werden, dann haben sie sich sehr, sehr viel zu erzählen. Aber irgendwann gehen sie auch Arm in Arm, Hand in Hand spazieren und schweigen. Und dennoch ist in diesem Schweigen Beziehungsfluss.“
Kann Schweigen eine Gesellschaft versöhnen?
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann setzt sich mit der Funktion des Schweigens auf gesellschaftlicher Ebene auseinander. Wie wirkt es dort, wer kann, wer muss schweigen?
„Peter Härtling in seinen Erinnerungen an seinen Vater, ‚Nachgetragene Liebe‘ heißt das Buch, erinnert sich daran, dass ihm der Vater durch Schweigen Liebe entzogen hat, für geringfügige Vergehen, die man als Kind auch nicht umhinkommt zu tun. Diese Minivergehen wurden geahndet, dass der Vater ihn manchmal bis zu einer Woche nicht angesprochen hat. Er hat ihn, wie Härtling das nennt, totgeschwiegen. Das war für das Kind eine unglaublich traumatische Erfahrung. Das war schlimmer als Prügel!“
Schweigen als Machtdemonstration
„Und da gibt es für Deutschland die Theorie, dass die vier Jahrzehnte nötig waren, um eine Transformation dieser westdeutschen Gesellschaft zu erreichen. Das konnte man nicht von heute auf morgen machen, man brauchte auch einen Generationswechsel. Die Sensibilität der Gesellschaft musste sich ändern, die Werte und Normen mussten sich ändern, und insofern kann das Schweigen auch etwas wie Befähigung zu einer Veränderung sein.“
Wer unten steht, findet kaum Gehör
„Also in der Hierarchie ist es schwierig, als jemand, der weiter unten steht, Gehör zu finden. Und wenn ein gesellschaftliches Klima noch nicht vorhanden ist, das diese Bereitschaft des Zuhörens und des Würdigens und des Anerkennens dieser Opfer zulässt, wird auch kein Gehör möglich sein, und auf diese Art und Weise kann sich ein Schweigen über Jahrzehnte fortsetzen.“
Wo wird geschwiegen? Wo schadet es? Wo wollen wir es? Schweigen in der Gesellschaft ist nicht per se fragwürdig. Es kommt auf den Kontext an, sagt Aleida Assmann. Geteiltes Wissen über das, was man nicht sagen kann – Diskursregeln, Takt und Tabu – hilft, Verbundenheit zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft herzustellen.
„Das Schweigen nivelliert viel radikaler, als dass alle sprechen dürfen. Jeder artikuliert anders und hat seine Techniken, um sich in den Mittelpunkt zu spielen. Das ist uns angelegt. Aber das gemeinsame Schweigen wäre ein gemeinsames Sich-zurückziehen in der Gruppe. Ich kann mir schon vorstellen, dass das in manchen Tagungszentren oder Akademien schon eingebaut wird. Aber man könnte es auch mal in der Uni und anderen Kontexten ausprobieren, dass das eine Dimension des Zusammenseins erschließen könnte.“
Nicht-Sprechen kann guttun. Aber es ist deutlich, dass ein gutes Schweigen eines ist, das auf Augenhöhe und im Einvernehmen geschieht. Und im richtigen Kontext!
Epilog im Kloster
„Sie müssen den Beruf wechseln!“