Schweiz: 50 Jahre Frauenwahlrecht

"Das Verrückte ist, die wollten das gar nicht"

07:37 Minuten
Das Schwarz-weiß-Foto von 1969 zeigt eine junge blonde Frau mit einer Fahne in der Hand.
Noch 1969 mussten die Schweizer Frauen für ihr Wahlrecht kämpfen, wie hier beim "Marsch auf Bern", bei dem am 1. März 1969 mehr als 5000 demonstrierten. © picture alliance / KEYSTONE / STR
Von Kirstin Hauser |
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Erschwert direkte Demokratie gesellschaftlichen Wandel? In der Schweiz mussten Frauen länger für ihr Wahlrecht kämpfen als in den meisten anderen Ländern, im Kanton Appenzell sogar bis 1990. Dass es so lange dauerte, lag nicht nur an Männern.
"Wenn die Frauen Stimmrecht hätten, dann ständen wir Männer wie die Idioten da", sagt ein aufgebrachte Mann in einer Schwarzweißaufnahme des Schweizerischen Fernsehens. "Die Frauen sollen in der Küche regieren."
Damit gehörte er zu den 69 Prozent der Schweizer, die im Jahr 1959 das Frauenwahlrecht, das bereits vom Parlament beschlossen worden war, doch noch in einem Volksentscheid vom Tisch fegten. Schon nach dem Ersten Weltkrieg versuchten Aktivistinnen in sechs Kantonen, die vollen Bürgerrechte für die weibliche Bevölkerung an der Wahlurne zu erstreiten. Erfolglos.
Ein dritter Versuch dann 1969: Damals protestieren 5000 Menschen vor dem Bundeshaus in Bern.
"Tatsächlich ist es eine Diskrepanz zwischen der sehr frühen Einführung des Männerstimmrechtes – auch nicht für alle, aber für die meisten Männer – und dann der extrem späten Einführung des Frauenstimmrechts", sagt die Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann in Bezug auf den Demokratisierungsprozess in der Schweiz. Denn das Frauenwahlrecht auf Bundesebene trat letztlich erst am 16. März 1971 in Kraft.
Während sich in den Nachbarländern Monarchien und Republiken mit unterschiedlicher demokratischer Ausrichtung abwechselten, hatte sich in den Schweizer Kantonen die demokratische Regierungsform bereits etabliert: entweder direkt mit Abstimmungsversammlungen auf öffentlichen Plätzen, repräsentativ oder einer Mischung aus beidem. Die Frauen blieben allerdings von all dem ausgeschlossen. Was heute die Schweizerinnen selbst verwundert, wie diese Frage der Moderatorin jüngst in einer TV-Diskussionsrunde des öffentlich-rechtlichen Senders SRF zeigt.
"Warum? Ich würde gerne verstehen – bei allem Lob für die Schweiz –, warum hatten denn die Schweizer Männer so ein Problem mit uns Frauen?"
Für die Historikerin Fabienne Amlinger vom Institut für Geschlechterforschung in Zürich ist die Erklärung: "Es geht hier um einen Verteilungskampf. Um die Verteidigung von Macht, und die will nicht geteilt werden."

Das "Phänomen der Stauffacherin"

Das war in Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Italien, die das Frauenwahlrecht früher einführten, natürlich auch so. Nur waren es hier die politischen Eliten, die den Fortschritt vollzogen, und nicht das gesamte männliche Stimmvolk, wie in der Schweiz.
"Dass hier die Volksabstimmung eine bremsende Wirkung hatte, liegt daran, dass wenn diese Inklusion wirklich von der breiten Bevölkerung getragen werden muss, schon vor der Ausweitung der politischen Rechte ein Umdenken recht weit fortgeschritten sein muss, ein Neudenken dessen, was ein Bürger, eine Bürgerin ist, was es heißt dazuzugehören, Subjekt sein zu können in der Demokratie. Dieses Umdenken muss schon recht weit fortgeschritten sein, um dann eine Mehrheit zu gewinnen in der Bevölkerung", sagt die Politologin Silja Häusermann.
Doch dieses Umdenken wurde in der Schweiz durch ein gesellschaftliches Narrativ erschwert, dass Historikerin Fabienne Amlinger das "Phänomen der Stauffacherin" nennt – in Anlehnung an eine historische Frauenfigur aus Friedrich Schillers "Wilhelm Tell", dem Gründungsmythos der Schweiz.
"Gemäß dieser Erzählung sei sie es gewesen, die ihren Ehemann, diesen Werner Stauffacher, dazu ermutigt habe, mit Gleichgesinnten diesen Bund zu schließen, der letztlich die Eidgenossenschaft begründete. Und jetzt kann die Geschichte dahingehend interpretiert werden, dass die Frau über ihren Ehemann massiv politischen Einfluss haben konnte."

"Diese Weiber kommen hierher und sagen uns, was wir zu tun haben"

Die logische Folgerung daraus: Die politische Partizipation der Frauen sei gewissermaßen implizit und daher ein explizites Wahl- und Stimmrecht für Frauen gar nicht mehr erforderlich. Diese Argumentation blieb in weiten Teilen der bäuerlich geprägten Landbevölkerung auch nach der Einführung des Wahlrechts für Frauen auf Bundesebene bestehen. Denn nicht alle Kantone zogen nach. Im Kanton Appenzell-Innerrhoden, der sich bereits 1829 eine moderne demokratische Verfassung gegeben hatte, stimmten die Männer noch im Jahr 1990 gegen die politische Beteiligung der Frauen auf kantonaler Ebene. Um das zu verstehen, muss man ein paar Jahre hier leben, sagt die Frauenrechtlerin Cornelia Forrer, eine Zugezogene.
"Gestaunt habe ich, dass sonst der Kanton fortschrittlich war. Und man hat nicht gemerkt, dass Mädchen jetzt weniger wert sein sollten oder etwas nicht können sollten. Die Appenzellerinnen sind sehr stolze Frauen. Es hat ja Zeiten gegeben, da haben die eigentlich die Familie ernährt mit der Heimarbeit."

Deshalb kümmerten sie sich traditionell sowohl um Haushalt und Familie als auch um die Finanzen. Nur das Abstimmen über öffentliche Belange im Kanton einmal im Jahr, das überließen die Frauen gerne den Männern.
Porträtaufnahme von Cornelia Forrer, einer dunkelhaarigen Frau, die lacht.
Das Verrückte sei: die Appenzeller Frauen wollten das Wahlrecht gar nicht, sagt Cornelia Forrer.© Deutschlandradio / Kirstin Hauser
"Das Verrückte ist, die wollten das gar nicht, also die wollten das wirklich nicht", sagt Forrer. "Und es hieß immer, das sind die Neuzuzüglerinnen, die das wollen, diese Weiber, die kommen hierher und sagen uns, was wir zu tun haben und sie akzeptieren unser Brauchtum nicht."

"Den älteren Männern tut das immer noch weh"

So dachte auch Esther Ferrari aus Urnäsch. Die geborene Appenzellerin war damals gegen das Frauenwahlrecht. Inzwischen hat sie ihre Meinung zwar geändert, aber sie ist heute noch unglücklich über die Art und Weise, wie es den Appenzellern schließlich aufgedrückt wurde. Nämlich per Gerichtsentscheid. Am 27. November 1990 gaben die Bundesrichter einer Sammelklage statt und erzwangen die Teilnahme der weiblichen Bevölkerung an den politischen Entscheidungen für den Kanton.
"Den älteren Männern tut das immer noch weh", sagt Esther Ferrari. "Und es ist ein Stück verlorene Identität."
Auch Cornelia Forrer hat ihre Sichtweise auf damals ein Stück weit geändert. Es sei den Männern vor allem um die Tradition gegangen, sagt sie heute: "Es ging darum, diesen Tag möchten wir uns nicht nehmen lassen."
Der Frauenanteil in der Politik liegt heute, 50 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts auf Bundesebene, durchschnittlich bei 30 Prozent. Nur auf kommunaler Ebene erreichen die Schweizerinnen Werte von 50 Prozent oder mehr. Im November vergangenen Jahres wählten die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Bern 55 Frauen und 25 Männer in den Stadtrat. Ungewöhnlich hoch für die Schweiz, befanden die Medien unisono.
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