Schweiz

Weniger Zuwanderung, mehr Kondome

Das Plakat in Zürich fordert die Bürger auf, am 30. November mit "Nein" zur Ecopop-Initiative zu stimmen.
Das Plakat in Zürich fordert die Bürger auf, am 30. November mit "Nein" zur Ecopop-Initiative zu stimmen. © dpa / picture alliance / Steffen Schmidt
Von Stefanie Müller-Frank |
Am 30. November stimmen die Schweizer über die Initiative "Stopp der Überbevölkerung" ab. Die Initiatoren der Organisation Ecopop wollen zum Schutz der Umwelt die Zuwanderung stark begrenzen. Gegner werfen ihnen Rassismus vor.
Die Herbstsonne verspricht einen herrlichen Samstagnachmittag auf der Kirmes: Paare, Familien, Rentner aus dem Basler Umland strömen der Bahnhofsvorhalle entgegen.Zwei Männer stechen aus der Menge heraus: Langsam schieben sie einen Gepäckwagen vor sich her, der voll beladen ist mit Papierstapeln. Etwas befremdet betrachten sie die fröhlichen Menschen um sich herum. Eigentlich wollten sie vorm Hauptbahnhof in Basel heute ihre Abstimmungszeitung verteilen. Denn in den Schweizer Haushalten treffen in diesen Tagen die Wahlunterlagen für den 30. November ein.
"Ein Drittel geht sofort abstimmen, die machen das schriftlich. Und dann - ja gut, die Hälfte geht ja gar nicht abstimmen, das kommt noch dazu. Und die anderen gehen dann kurz vorher – oder werfen noch persönlich in die Wahlurne. Das sind dann oft die Protestwähler, die am Schluss noch durch irgendetwas aufgestachelt werden. Und da haben wir schon auch noch Hoffnung. 31 km Stau auf der Autobahn, das bringt uns 10.000 Stimmen."
Andreas Thommen schneidet das erste Hunderterbündel auf und nimmt eine Handvoll Faltblätter vom Stapel. Der 47-Jährige ist Geschäftsführer von Ecopop – der überparteilichen "Vereinigung Umwelt (Ecologie) und Bevölkerung (Population)". Ihr Ziel ist es, das Bevölkerungswachstum zu senken, um die "natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern". Global wie in der Schweiz. Kurz gesagt: Je weniger Menschen, desto weniger Umweltbelastung. Deshalb haben sich auch Naturschützer und enttäuschte Grüne Ecopop angeschlossen. Auch Andreas Thommen, studierter Agronom und Vater von drei Kindern, war mal überzeugter Grüner.
"Ich bin immer noch bei den Grünen. Sie haben mich nicht exkommuniziert. Aber die Grünen haben eine etwas andere Prioritätensetzung, für mich unverständlich. Indem sie sagen: Wichtig ist, dass wir offen bleiben gegenüber Europa, die Solidarität mit dem Rest der Welt. Und da vermisse ich ein wenig die Solidarität mit unseren Leuten, die schon hier sind. Also wir müssen jetzt hier zusammenrücken, Platz machen für noch mehr Leute. Und was ganz schlimm ist: Dass dabei die Natur auf der Strecke bleibt."
Christian Bader nickt zustimmend. Der 67-Jährige trägt Bart und Pferdeschwanz, er ist Jazzmusiker, sein Einsatz für Ecopop rein ehrenamtlich.
"Weil ich an die Sache glaube, weil ich das Gefühl habe, das wäre wirklich ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung. Ein Schritt, auf den ich schon seit 40 Jahren eigentlich warte. Seit ich die ´Grenzen des Wachtsums` des Club of Rome gelesen habe, ist mir die Problematik bewusst. Seit ich auf der Welt bin, hat sich die Schweizer Bevölkerung verdoppelt, die Weltbevölkerung verdreifacht. Und ich habe miterlebt, dass eben nichts wirklich dagegen unternommen wird. Dass es immer noch ein Tabuthema ist."
Christian Bader hat selbst keine Kinder. Nach der Lektüre des Wachstumsberichts von 1972 ließ er sich sterilisieren. Einst politisiert hat ihn die Anti-AKW-Bewegung der Siebziger, auch er hat lange grün gewählt.
"Ich bin in den letzten 15, 20 Jahren vor allem enttäuscht gewesen, dass Linke und Grüne nicht wirklich mehr Themen anpacken, die ich substantiell wichtig finde. Und genau das Zuwanderungsthema ist der rechten Ecke kampflos überlassen."
Um das zu ändern, stellt sich der Jazzmusiker persönlich auf die Straße und verteilt Flugblätter. Auch beim Unterschriftensammeln für die Ecopop-Initiative war er schon dabei. Nicht selten beschimpfen ihn Passanten als fremdenfeindlich.
"Da macht man halt sehr unterschiedliche Erfahrungen von Beschimpfungen bis Leute, die sagen: Ja, genau das finde ich auch, hier unterschreibe ich. Das ist so. Breites Spektrum."
Dabei wirkt Christian Bader eher schüchtern – er ist nicht jemand, dem es leicht fällt, direkt auf die Menschen zuzugehen.
"Nein. Ich zwinge mich. (lacht) Ich bin nicht gewohnt, politisch zu argumentieren. Als Musiker. Ich kann auf der Bühne stehen und Musik spielen. Wenn ich mit dem Publikum reden muss, wird es schon schwieriger."
Die meisten Passanten fühlen sich belästigt, machen eine abwehrende Geste oder reagieren überhaupt nicht. Vermutlich denken sie, dass die beiden Männer mit den Infoblättern ihnen etwas verkaufen wollen. Einige werden wütend, als sie das Wort Ecopop hören. Nur jeder Zehnte nimmt überhaupt ein Infoblatt mit. Christian Bader und Andreas Thommen sind ernüchtert.
"Wir verteilen keine Zehntausend heute. Das ist ja sinnlos, sich hier auf der Straße mit einzelnen Leuten auf eine Diskussion einlassen. – Was machen wir mit den Dingern? Werfen wir sie noch ein? – Ja, ja. – Scheißdemokratie, das ist schon beim Unterschriftensammeln obermühsam. Da siehst du so viele Leute, denen geht das am Arsch vorbei."
Also beschließen sie, die restlichen Infobroschüren in Briefkästen hinterm Bahnhof zu verteilen.
Den Glauben an grüne Politik verloren
Auch Benno Büeler reist in diesen Tagen durch die Schweiz, um Stimmen für Ecopop zu sammeln – allerdings konzentriert sich der Präsident des Initiativkomitees dabei eher auf die Ostschweiz bzw. auf jene Kantone, in denen bereits die "Masseneinwanderungsinitiative" der rechten SVP im Februar Mehrheiten erzielt hat. Der 52-Jährige studierte erst Agrarwissenschaften, dann Mathematik, heute arbeitet er als selbständiger Finanzberater, hat drei Kinder. In die Öffentlichkeit wollte Benno Büeler eigentlich nie, Politiker hält er für strohdoof, den Glauben an grüne Politik hat er längst verloren.
"Die Appelle, die in der Politik ja schon seit vielen Jahren wohlfeil geboten werden: Bitte verhaltet euch ökologisch, kauft nur Bio und so weiter, verbraucht weniger Energie, braucht euer Auto nicht etc. Leider muss man einfach quantitativ feststellen, es wirkt nicht. Wenn der Wohlstand zunimmt, wenn die Leute mehr Geld zur Verfügung haben, um es auszugeben, dann tun sie es auch."
Benno Büeler sitzt im Nadelstreifenanzug vor der Caféteria der Hochschule St. Gallen. Auf einer Podiumsdiskussion an der Wirtschaftseliteuni soll er heute Abend die Ecopop-Überzeugungen verteidigen – gegen eine grüne Nationalrätin und den Arbeitgeberpräsidenten. Der Wirtschaft, wie der gesamten Schweizer Elite, wirft Benno Büeler Wachstumswahn vor: Auf Kosten der einheimischen Bevölkerung hole sie immer mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland in die Schweiz.
"In der Schweiz ist das Bevölkerungswachstum zu achtzig Prozent durch die Migration. Das heißt, wenn wir in der Schweiz das Bevölkerungswachstum bremsen möchten, ist es letztlich nur eine Frage der Migration."
Deshalb, so die Bilanz von Ecopop, sind die Zuwanderer auch zu achtzig Prozent für die heutige Zersiedelung der Schweiz, für Umweltbelastung und Dichtestress verantwortlich. Dass eine Zuwanderungsbegrenzung gegen die Personenfreizügigkeit verstößt – also das Ende für die bilateralen Verträge mit der EU bedeutet – nehmen die Ecopop-Initianten bewusst in Kauf. Mit ihren Forderungen gehen sie sogar noch weiter als die rechte SVP. Deren Parteispitze fürchtet die neue Konkurrenz und hat sich gegen Ecopop ausgesprochen.
Ein Wochenabend im Kulturlokal "Coq d’Or" in Olten, auf halber Strecke zwischen Basel und Bern. Sonst finden hier Konzerte und Partys statt, heute Abend liest der grüne Nationalrat Balthasar Glättli aus seinem Buch über die Geschichte und Hintergründe der Ecopop-Bewegung, mit dem er in diesen Tagen durch die Schweizer Kleinstädte tourt. Tische und Stühle sind gerade mal zur Hälfte besetzt, die Zuhörer mehrheitlich Intellektuelle und Leute aus dem alternativen Umfeld.
"Die unheimlichen Ökologen“ haben Balthasar Glättli und sein Co-Autor Pierre-Alain Niklaus ihr Buch über Ecopop genannt, im Untertitel stellen sie die zentrale Frage der Debatte: "Sind zu viele Menschen das Problem?"
Balthasar Glättli:"Was unser Problem in der Schweiz ist, das ist die Einfamilienhaus Pest. Das heißt, wir haben in der Schweiz sehr lange keine raumplanerischen Maßnahmen ergriffen, um den beschränkten Boden auch zu schützen. Spannend ist ja, dass diese Zersiedlung am stärksten fortgeschritten ist im Jahrzehnt zwischen 1972 und 1982. Und das ist zugleich das Jahrzehnt, wo aufgrund der Erdölkrise mehr Ausländer die Schweiz verlassen haben als zugewandert sind."
Angewiesen auf ausländische Fachkräfte
Heute jedoch steht außer Frage, dass die Schweizer Wirtschaft auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Rund 73.000 Menschen kommen jedes Jahr zusätzlich in die Schweiz, das entspricht knapp einem Prozent der Wohnbevölkerung. Das ist viel. Im Durchschnitt ist die Netto-Zuwanderung in der EU mit 0,4 Prozent nicht mal halb so groß. Auch der Ausländeranteil in der Schweiz ist höher als anderswo. Er beträgt heute 23 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind es gerade mal 10 Prozent. Und die Umweltbelastung ergibt sich nun mal aus dem Ressourcenverbrauch pro Kopf mal Anzahl Köpfe. Je weniger Menschen in die Schweiz kommen, umso besser also für die Umwelt, argumentiert Ecopop. Balthasar Glättli widerspricht:
"Die Haupteinwanderung in die Schweiz ist im Rahmen der Personenfreizügigkeit. Das heißt, aus anderen europäischen Ländern. Und da sage ich immer, einfach formuliert: Der Umwelt ist es gleich, ob ein Deutscher in Konstanz oder in Kreuzlingen rumfährt."
Vielen Schweizern aber ist es nicht gleich, ob ein Deutscher mit ihnen im Zug sitzt bzw. im Stau steht: Sie empfinden ein diffuses Unbehagen gegenüber der hohen jährlichen Zuwanderung, das hierzulande als "Dichtestress" bezeichnet wird – selbst wenn die Züge im Durchschnitt unter 50 Prozent belegt sind. "Aber auch Phantomscherzen können wehtun", fasste das Phänomen ein Schweizer Kommentator zusammen. Und auch der grüne Abgeordnete Balthasar Glättli hört diese Sorge an jedem Abend, bei jeder Lesung, erzählt er:
"Das ist die Frage, die mir als Kritiker von Ecopop immer wieder gestellt wird: Wie viele Leute erträgt die Schweiz denn? Es ist ja klar: Irgendwann ist Schluss. Ich sage immer, es hängt extrem davon ab, welchen Lebensstil wir pflegen. Also es hat in der Schweiz eigentlich schon heute nicht Platz für so viele Leute, wenn wir so leben, wie wir das heute tun. Dann müsste zwei Drittel der Bevölkerung der Schweiz eliminiert werden. Umgekehrt: Wenn wir einen vernünftigen Lebensstil pflegen, dann haben problemlos auch zwölf Millionen Menschen in der Schweiz Platz."
Bleibtdie Frage nach der Weltbevölkerung. Der zweite Teil der Initiative will das Schweizer Entwicklungshilfeministerium per Verfassungsänderung dazu verpflichten, zehn Prozent seiner Gelder in "freiwillige Familienplanung" zu investieren – also in Aufklärungskampagnen und die Finanzierung von Verhütungsmitteln oder Sterilisierungsmaßnahmen. Das Argument: Jedes Jahr würden achtzig Millionen Frauen ungewollt schwanger. Die Folgen laut Ecopop: Armut, Übernutzung der Böden, Rodung der Wälder, Migrationsdruck. Alliance Sud, die Lobbyorganisation der großen Schweizer Hilfswerke hält dagegen, dass Kinder in Entwicklungsländern oft eine Absicherung gegen die Armut darstellten. Und die Geburtenrate mit Bildung und sozialer Absicherung automatisch sinke. David Schäfer, einer der Zuhörer im Publikum, findet den entwicklungspolitischen Aspekt der Initiative aus einem anderen Grund fragwürdig:
"Den armen Menschen südlich der Sahara zu erklären, sie dürfen jetzt keine Kinder mehr haben, ist schwierig. Weil um die geht’s. Denn ansonsten gehen die Geburtenzahlen ja zurück. Und ein Schweizer Kind wird das Hundertfache an CO2 produzieren als ein armes Kind in einem Dorf in Schwarzafrika jemals nur die Gelegenheit haben wird zu produzieren. Also machen wir in der Schweiz eine Ein-Kind-Politik! Das wäre Umweltschutz. Und nicht in Schwarzafrika denen erklären, was sie zu tun haben."
Kein Wort zum Ressourcenverbrauch der Schweiz
Tatsächlich erwirtschaftet die Schweiz ein höheres Bruttoinlandsprodukt als die 34 ärmsten Länder der Welt zusammen, in denen rund 850 Millionen Menschen leben. Zum Ressourcenverbrauch der Schweiz aber findet sich kein Passus im Initiativtext von Ecopop. Sabine Wirth kann diesen Einwand nicht mehr hören. Ungeduldig schüttelt sie ihre langen, offenen Haare.
"Die Ecopop war früher eine Arbeitsgemeinschaft für Bevölkerungsfragen, sie hat sich auf das spezialisiert. Und in eine Initiative können Sie natürlich nicht sämtliche Probleme der Menschheit packen. Das wird uns jetzt immer vorgeworfen."
Sabine Wirth ist Co-Vizepräsidentin von Ecopop. Die Hausfrau und vierfache Mutter ist extra mit dem Auto aus dem Kanton Schaffhausen in der Ostschweiz nach Liestal im Kanton Basel-Land angereist, um bei der Juso-Versammlung das Wort zu ergreifen für das Menschenrecht auf Familienplanung – und die Selbstbestimmung von Frauen.
"In unseren Augen eine Win-win-Situation: Weil man könnte viel Leid vermeiden. Ungewollte Schwangerschaften bedeuten Leid. Für die Mütter, die Kinder und die Väter. Das ist uns allen klar. Win-win auch für die globale Umwelt. Die Umwelt kommt nämlich in diesen armen Ländern auch unter Druck. Obwohl die Menschen auf einem niedrigen Fußabdruck leben. Aber sie brauchen ihre eigenen Ressourcen, sie übernutzen das Land."
Ihr Auftritt vor den Jusos in Liestal ist mutig – weiß sie doch, dass die meisten jungen Leute hier vermutlich gegen die Initiative stimmen werden. Bei der Vorstellung wirbt sie für sich mit ihrer Weltläufigkeit.
"Sabine Wirth, Jahrgang 1955, ich sag jetzt nicht, in Afrika wäre ich schon Urgroßmutter. Habe eine Lehre gemacht, bin viel rumgereist als junge Frau, war in Indien, Afrika als Tramperin, habe in Australien gearbeitet, in England, in Israel. War dann bei der Swiss Air als Hostess und habe dann einen Pilot geheiratet. Seitdem bin ich eigentlich nur noch Hausfrau, habe aber immer in der Gemeinde Funktionen gehabt."
Schon nach der Begrüßung aber ist spürbar, dass sich die jungen Frauen im Raum nicht mit diesem Lebenslauf identifizieren können. Bei der anschließenden Fragerunde konfrontiert eine junge Frau mit kurzen Haaren und Piercing die Ecopop-Vizepräsidentin.
"Sabine, wie kannst du das verantworten?“
Sabine Wirth aber kann mit der Frage nichts anfangen, spricht etwas wirr über die Flüchtlingspolitik der Schweiz, ihre Stimme hebt sich. Nach und nach stehen Zuhörer auf und verlassen den Raum. Auch Tatjana Bärtschi schüttelt verständnislos den Kopf und greift zu ihrer Jacke.
"Die Idee ist ja schon gut: Man soll der Umwelt etwas Gutes tun. Aber man setzt am falschen Punkt, also der Migration, an. Das ist falsch, weil wir haben einen großen ökologischen Fußabdruck, was wir ändern müssen. Aber wir bestrafen Leute aus anderen Ländern dafür."
Tatjana Bärtschi ist 17 und geht in Liestal aufs Gymnasium. Am schlimmsten findet sie an der Ecopop-Initiative, dass sich nach der rechten SVP nun auch noch Grüne für eine Begrenzung der Zuwanderung aussprechen. Im Namen der Umwelt.
"Ehrlich gesagt frage ich mich immer wieder: Wenn man eine Bildung hatte, wie man einen so logischen Gedankengang einfach falsch machen kann. Ich glaube, es ist wirklich, dass eben die verzweifelten, alten Grünen, die einfach ihr Leben lang etwas ändern wollten und es nicht geschafft haben, nun an diesem Punkt anknüpfen. Weil sonst müsste man am Luxus der Leute anknüpfen. Und das würde ja niemand unterstützen."
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