Wenn ein demokratisches Verfahren der Demokratie schadet
Das Minarett-Verbot oder das Begehren gegen kriminelle Ausländer: Es ist nicht das erste Mal, dass ein umstrittenes Schweizer Volksbegehren erfolgreich ist, meint der Musiker Thomas Bächli. Doch bei dem Votum gegen Einwanderung ist etwas Entscheidendes anders - und das könnte noch spannend werden.
Man hat sich vorgenommen, es nie wieder zu tun, und tut es doch immer wieder: sich für die eigene Nation schämen. Da lebt man als Schweizer seit vielen Jahren in Berlin, und niemand behauptet, man nehme ihm den Job weg. Und was Wohnraum und Gentrifizierung betrifft, so schimpfen die Berliner lieber auf die Schwaben, als auf Schweizer und andere Ausländer.
Doch was machen meine Landsleute daheim? Sie malträtieren ihre vorbildliche direkte Demokratie, indem sie eine xenophobe Initiative der Schweizer Volkspartei gegen alle Widerstände durchdrücken. Zieht man alle nachträglichen Rationalisierungen ab, bleibt als Begründung nur das Gefühl der Paranoia, die Angst, irgendjemand könnte dem reichsten Volk der Erde etwas wegnehmen.
Das zeigte schon das unsägliche Abstimmungsplakat, mit dem die Befürworter die Schweiz vollgepflastert haben: ein offensichtlich fremdländischer Obstbaum, dessen gierige Wurzeln der armen Schweiz den Lebenssaft absaugen.
Warum kommt der Aufschrei erst jetzt?
Was ist der Subtext dieser grobschlächtigen Karikatur? Ist es eine Anspielung auf den berühmten Satz von Martin Luther – etwa so: Wenn die ganze Welt an der Überfremdung zugrunde geht, pflanzen wir Schweizer keineswegs ein Apfelbäumchen – wir gehen lieber direkt in den Bunker.
Das ist alles ganz übel. Stutzig macht mich aber auch der plötzliche Aufschrei in den gutbürgerlichen Medien. Warum erfolgt er erst jetzt? Das ist doch alles nichts Neues. Vor vier Jahren lancierte die Schweizer Volkspartei eine Initiative, die ein Minarett-Verbot in der Verfassung verankern sollte, und sie siegte damit auf breiter Front.
In einem tadellos direktdemokratischen Verfahren wurde eine Grundvoraussetzung der Demokratie desavouiert, nämlich die Glaubensfreiheit. Das erstaunt in einem Land, wo sich Katholiken und Protestanten seit dem Sonderbundskrieg 1847 nicht mehr umbringen, was ja eigentlich eine kulturelle Leistung ist.
Kurze Zeit nach dem Minarett-Verbot folgte ein erfolgreiches Volksbegehren gegen kriminelle Ausländer. Was zunächst nach einem schneidigen Law-and-Order-Gesetz aussah, war in Wahrheit eine Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention. Aber so macht es erst richtig Spaß: Da zeigt man einmal diesen Menschenrechtlern, Weicheiern, Gutmenschen und Professoren, wo der Hammer hängt.
Doch was sagte das Schweizer Establishment dazu – die Parteien, Behörden und die Leitmedien? Sie bedauerten den schlechten Stil der Schweizer Volkspartei, sie waren besorgt um die ethischen Aspekte, und so wanderten diese Themen auf die Meinungsseiten und ins Feuilleton, wo sie noch eine Weile diskutiert wurden, selbstverständlich mit Pro und Contra.
Der freigelassene Hund ließ sich nicht mehr an die Leine nehmen
Insgeheim gab es auch Bewunderung für Christoph Blocher und seine Seilschaft, sei es, weil sie aussprachen, was so viele dachten, sei es, weil sie den Unterhaltungswert der Schweizer Politik gesteigert haben.
Doch bei diesem letzten Abstimmungskampf war plötzlich alles anders: Man fand immer höhere Zustimmungsraten unter den Stimmbürgerinnen und -bürgern für dieses Volksbegehren, das die Wirtschaftsbeziehungen zu EU-Ländern gefährdete. Nun versuchten Politiker und Wirtschaftsführer mit aller Kraft, die Stimmung noch zu wenden – vergeblich, dieser freigelassene Hund ließ sich nicht mehr an die Leine nehmen.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch ich empfinde dieses Resultat als Fehler, aber vom Standpunkt der Demokratie aus gesehen waren das Minarett-Verbot und die Abschiebungsinitiative viel gefährlicher. Warum also gerade jetzt diese Aufregung? Ganz einfach, weil sich die Folgen nicht auf Randgruppen beschränken, sondern direkt in der Mitte der wohlhabenden Schweizer Gesellschaft ankommen. Das könnte spannend werden.
Tomas Bächli wurde 1958 in Zürich geboren und studierte Musik am dortigen Konservatorium. Bis 1996 lebte er als Klavierlehrer und Konzertpianist in Zürich, anschließend in Brooklyn, 1999 zog er nach Berlin.
Ohne sich vollständig darauf zu spezialisieren, führt Tomas Bächli in seinen Konzerten vorwiegend Werke der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte auf; er experimentiert oft mit neuen Konzertformen, unterrichtet und veranstaltet Workshops.