Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel

Geschichten der Geschichte entgegensetzen

34:57 Minuten
Peter Bichsel sitzt am Tisch und zeigt in die Kamera
Schriftsteller Peter Bichsel war Mitglied der Gruppe 47. © Picture-Alliance/KEYSTONE
Von Matthias Kußmann |
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Peter Bichsel ist einer der bekanntesten lebenden Schweizer Schriftsteller. Für ihn ist Erzählen eine Lebensform. Auch in Büchern hat er sie praktiziert.
Peter Bichsel muss man nicht nach dem Erzählen fragen. Er erzählt gern vom Erzählen.

„Ich glaube, man kann das eigene Leben nur erzählend bestehen, sich selbst erzählend. Der Mensch, der in eine wirkliche Notsituation gerät, in ein Gefangenenlager, in eine Gletscherspalte oder weiß ich, wohin: Der Mensch, der in der Gletscherspalte an einem Seil hängt, bereitet bereits die Erzählung vor, die er dann erzählen wird am Stammtisch. Wenn er gerettet wird.“

Peter Bichsel

Schriftsteller statt Volksschullehrer

Seine Texte sind Klassiker der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Sie stehen in Schulbüchern und sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Peter Bichsel hat in vielen Ländern öffentlich gelesen und an Universitäten unterrichtet. Zudem streitet er, der sich einen Linken nennt, für soziale Ideen. In der Schweiz eine so geschätzte wie kritisierte öffentliche Figur. Aus dem Volksschullehrer, der er eigentlich bleiben wollte, ist früh ein Schriftsteller geworden, der auf ein bedeutendes Werk zurückblicken kann. Und sich manchmal wundert, wie das alles kam.

„Man kann zwei verschiedene Jugendzeiten, Kinderzeiten erleben, entweder in einer Familie, wo nicht gesprochen wird, oder in einer Familie, wo gesprochen wird. Sprechen heißt in diesem Fall, erzählen in der Familie. Das ist nicht nur eine Frage des Bildungsstands oder Sozialstands der Eltern. Es gibt auch reiche Familien, wo nicht gesprochen wird, wo nichts erzählt wird. Ich hatte das Glück, in einer Familie aufzuwachsen, wo erzählt wurde.“

Peter Bichsel

1960 veröffentlicht Bichsel eine Erzählung als Privatdruck. Dann besucht er einen Schreibkurs des kurz zuvor gegründeten „Literarischen Colloquiums“ in Berlin, wo Schriftsteller wie Günter Grass und Peter Weiss unterrichten. Das öffnet ihm die Tür zum Literaturbetrieb. 1964 nimmt Bichsel an einer Tagung der Gruppe 47 teil, der damals wichtigsten deutschsprachigen Autoren­vereinigung. Er liest kurze, intensive Geschichten aus dem Manuskript „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“. Die Gruppe 47 ist begeistert.

Lakonische Geschichten kleiner Leute

Bichsel erzählt auf knappstem Raum von sogenannten kleinen, einfachen Leuten und ihrem Alltag. Doch die lakonischen, vermeintlich schlichten Geschichten spiegeln allgemein menschliche Erfahrungen und Nöte: In der Erzählung „November“ ist es die existentielle Verlorenheit des namenlosen Mannes. Schon der Titel des Bichselschen Debüts „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen­lernen“, das kurz nach der Tagung der Gruppe 47 in der Schweiz erscheint, erzählt in nur sieben Wörtern eine Geschichte der Einsamkeit.

"Das war natürlich ein Böllerschuss! Dann kam dieser schmale Band heraus, da war er auf einen Schlag in allen deutschen Zeitungen groß besprochen. Und seither ist er berühmt."

Peter von Matt

Der Schweizer Germanist und der Schriftsteller lernen sich Mitte der 1960er-Jahre kennen.

"Die Kindergeschichten‘ waren der größte Erfolg. Das ist ja ein Evergreen geblieben. Auf der ganzen Welt werden sie gelesen, in Schulen und sonst wo."

Peter von Matt

Was wäre, wenn?

Peter Bichsel fragt immer wieder: „Was wäre, wenn?“ Eine scheinbar naive Kinderfrage, die Eltern an ihre Grenzen bringen kann. Was wäre, wenn es die Welt nicht gäbe? Oder wenn Menschen Katzen wären? Für Peter Bichsel ist „Was wäre, wenn?“, die Frage nach der Fiktion, der Ausgangspunkt aller Literatur.
Der Schweizer hat bis heute über 30 Bücher geschrieben. Manche sind durchaus sperriger als die erfolgreichen „Milchmann-“ und „Kindergeschichten“. Und nicht alle Erzählungen sind kurz. Doch Bichsel weiß sich mit ihnen in einer großen Tradition.

„Ich bin nicht der einzige Schweizer der kurzen Form. Wirkliche Romanciers gab es in der Schweiz wenige. Gottfried Keller etwa, dessen ‚Der grüne Heinrich‘ einer der großen Romane der deutschen Literatur ist, ein wunderbares Buch. Aber im Grunde genommen ist es eine Sammlung von Kurzprosa, wenn man das richtig anschaut, und kein durchkonzipierter Roman.“

Peter Bichsel

Die Crux mit der Heimat Schweiz

Über Jahrzehnte arbeitet sich Bichsel an der Schweiz ab, nicht anders als viele seiner Kollegen von Max Frisch über Friedrich Dürrenmatt bis Paul Nizon. Manche von ihnen haben das Land ihrer Geburt verlassen, für lange Zeit oder für immer. Auch Bichsel fuhr weg.

„Ich war natürlich viel unterwegs. Ich war einige Male in Amerika, längere Zeit, und hab da unterrichtet. Ohne das wär's nicht gegangen.“

Peter Bichsel

Dann kam er zurück. Bichsel lebt gern da, wo er Gesellschaft und Politik kennt und sich darüber aufregen kann, sagt er. Seit über 50 Jahren mischt er sich in die Politik der Alpenrepublik ein, nennt sich einen Linken und Sozialisten. In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren berät Bichsel den Sozialdemokraten Willi Ritschard und schreibt Reden für den Arbeiter, der bis zum Regierungsmitglied aufsteigt und beliebt ist. Beide sind vom Aufbruch der 68er-Jahre befeuert, sehen aber, dass sich die politisch konservative Schweiz nicht so einfach verändern lässt. Ritschard kann viele seiner Ideen nicht durchsetzen, zieht sich 1983 resigniert aus der Politik zurück und stirbt kurz darauf.

Erzählen, was ist das?

Peter Bichsel lebt bei Solothurn, raucht wie ein Schlot und trinkt mit Matthias Kußmann Rotwein.

„Die Frage, was ist das eigentlich, Erzählen, die hat mich wirklich schreibend ein Leben lang beschäftigt, und selbstverständlich weiß ich immer noch nicht, was es ist. Das Einzige, was ich weiß, das wusste ich aber zum Voraus: dass es was sehr Wichtiges ist.“

Peter Bichsel

(uck/pla)
Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.

Es sprechen: Frank Arnold und Tonio Arango.
Ton: Ralf Perz.
Regie: Klaus Michael Klingsporn.
Redaktion: Jörg Plath.
Deutschlandfunk Kultur 2022.

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