Schwerpunkt Quantified-Self

"Der Missbrauch liegt ganz nahe"

Albrecht Beutelspacher im Gespräch mit Christopher Ricke |
Es ist nicht immer sinnvoll, viele Einzeldaten in einer Zahl zu bündeln, sagt Albrecht Beutelspacher. Ein Aktienindex könne zum Beispiel nicht den Zustand der ganzen Wirtschaft beschreiben, erläutert der Mathematiker.
Christopher Ricke: Maßeinheiten sind ja heute viel eindeutiger, als sie früher mal waren. Ein Meter ist eben ein Meter, während eine Elle bei kurzarmigen Schneidern früher viel weniger Stoff bedeutete als bei langarmigen. Maßeinheiten und Zahlen gibt es in Kolonnen, Tabellen, Statistiken, und doch sind sie nicht immer so eindeutig, wie sie vorgeben. Es gilt das Churchillwort: Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe. Wobei Statistik, Maßeinheit und Zahl natürlich drei verschiedene Dinge sind. Ich spreche jetzt mit dem Mathematiker Albrecht Beutelspacher, dem Gründer und Direktor des Mathematikums in Gießen. Beutelspacher hat ein erklärtes Ziel: Mathematik einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu vermitteln. Guten Morgen, Professor Beutelspacher!
Albrecht Beutelspacher: Guten Morgen!
Ricke: Wir berichten ja gerade in diesen Tagen ausführlich über die Selbstvermessung der Menschen und das Diktat der Zahl, dem sich die Selbstvermesser freudig unterwerfen. Hat das für einen Mathematiker besonderen Charme?
Beutelspacher: Na ja, Zahlen waren schon immer dazu da oder wurden dazu benutzt, die Welt zu beschreiben. Wir haben ganz zu Beginn, vor vielen Tausend Jahren schon Anzahlen gezählt, Längen gemessen, Zeit gemessen. Und insofern dient die Zahl, natürlich ist es das Instrument, um Phänomene der Welt, auch Phänomene in uns, an uns zu messen.
Ricke: Eine weitere Zahl, die heute sehr wichtig wird, ist der Deutsche Aktienindex am letzten Handelstag. Börsenindizes gehören zu den meist beachteten Zahlen, doch sie blenden auch. Wie vorsichtig muss man denn beim Umgang mit Zahlen sein?
Beutelspacher: Es gibt verschiedene Verführungen, die Zahlen in sich tragen. Das eine ist, dass wir eigentlich alles durch eine Zahl darstellen wollen, wie etwa den Aktienindex, und wir denken, damit ist die gesamte Wirtschaft beschrieben. Aber es gibt natürlich andere Zahlen, die auch die gesamte Wirtschaft beschreiben wollen: das Bruttosozialprodukt, den Handelsüberschuss, den Innovationsindex und so weiter. Da werden ja immer viele, viele, viele Einzeldaten in einer Zahl gebündelt. Manchmal ist das sinnvoll und manchmal muss man damit sehr vorsichtig sein.
Ricke: Werden solche Zahlen auch missbraucht?
Beutelspacher: Der Missbrauch liegt ganz nahe, der liegt auch in der Verführung der Zahl. Die zweite Verführung ist, dass wir mit Zahlen furchtbar gerne rechnen. Wir haben irgendwelche Zahlen, die zunächst nur etwas codieren. Denken Sie an Schulnoten, ich habe in Mathe eine Eins, in Deutsch eine Drei. Da ist es verführerisch, sind wir geradezu angetan, den Durchschnitt auszurechnen, obwohl ... dass ich im Durchschnitt gut bin. Dafür in Mathe sehr gut, in Deutsch nicht ganz so gut. Das reduziert die Information, die wir haben, enorm, und manchmal verfälscht es sie sogar.
Ricke: Bleiben wir mal bei den Schulkindern und den Schulnoten. Jedes Schulkind weiß: Die Notengebung in einer Mathematikaufgabe ist leichter zu verstehen als zum Beispiel im Deutschaufsatz, weil man binär codiert, richtig oder falsch. Beim Deutschaufsatz geht es dann um Interpretation und Einschätzung. Sind Zahlen einfach die reineren und klareren Messwerte?
Beutelspacher: Sie sind die reineren und klareren Messwerte, aber gleichzeitig reduzieren sie oft die Information. Denn wenn ich unter meinen Deutschaufsatz noch einen zehnzeiligen Kommentar meines Lehrers, meiner Lehrerin bekomme und die dann gezwungen ist, das letztendlich in einer Zahl zu konzentrieren, dann sagt natürlich dieser zehnzeilige Kommentar viel, viel mehr als letztlich die Zahl drei.
Ricke: Zahlen müssen also interpretiert und eingeordnet werden.
Beutelspacher: Genau. Und man muss immer auch daran denken, Zahlen bergen viel Information in sich, sie können aber auch Information verlieren und Information reduzieren, sogar falsche Information geben.
Ricke: Schauen wir uns mal die Einschätzung von Zahlen an! Wenn ich jetzt sage, ich nehme jetzt die Zahl zwei, verbinde sie mit Liter Milch. Das kann viel sein, wenn ich das heute beim Frühstückskaffee trinken soll, wenn ich den ganzen Tag allerdings ein Straßencafé damit betreiben soll, ist es wieder sehr wenig. Also, wie viel Interpretation und Einschätzung brauche ich?
Beutelspacher: Na klar, eine Zahl an sich ist zwar mathematisch sehr interessant, da ist zwei eine hochinteressante Zahl. Aber wenn ich in der Welt bin und mit Größen arbeite, dann kommt es ganz auf den Kontext an. Natürlich sind zwei Liter Milch zum Trinken sehr viel, da wird es mir wahrscheinlich schlecht werden, wenn ich die auf einmal trinke. Aber in anderen Kontexten ist es ganz wenig. Also, man muss immer genau gucken, über welche Größen rede ich, über welchen Kontext rede ich.
Ricke: Es gibt ja auch Zahlen, die an sich für Mathematiker sehr reizvoll sind, und es erreicht auch die normale Menschheit, wenn mal wieder eine Meldung kommt, dass wieder von Pi eine weitere Nachkommastelle ausgerechnet worden ist oder eine weitere Primzahl mit irgendeinem Superrechner errechnet worden ist. Was macht das Forschen an der Zahl so interessant?
Beutelspacher: Das geht schon ganz lange zurück, eigentlich auf die Pythagoreer, 600 vor Christus, die waren die Ersten, die sich für Eigenschaften von Zahlen interessiert haben. Die haben also nicht gesagt, zwei Liter Milch ist mehr als einer, sondern die haben sich gefragt, zwei ist eine gerade Zahl, eine Zahl, die man ohne Rest durch zwei teilen kann, und fünf ist eine ungerade Zahl, weil beim Teilen durch zwei der Rest eins entsteht. Und dann haben die Gesetze aufgestellt wie ungerade plus ungerade ist gerade, solche wichtigen ersten mathematischen Sätze aufgestellt. Und die Eigenschaften, solche Eigenschaften von Zahlen zu erkunden ist wirklich eine Hauptleidenschaft und Hauptarbeit der Mathematiker. Und ganz besondere Zahlen sind natürlich die Primzahlen, die wirklich seit Tausenden von Jahren die Menschheit faszinieren, Mathematiker und Nichtmathematiker, und auch einzelne Zahlen wie etwa die Zahl Pi.
Ricke: Stößt die Mathematik irgendwann an die Grenzen oder findet sie immer wieder etwas Neues?
Beutelspacher: Die stößt ganz definitiv nicht an ihre Grenzen, das kann man praktisch sehen. Es werden jährlich immer mehr mathematische Arbeiten veröffentlicht, die jeweils mindestens ein neues Ergebnis haben. Ob das wichtig ist, ist eine andere Frage. Und man kann sogar theoretisch, logisch beweisen, dass die Mathematik nie aufhören wird. Das ist ein offenes System, das System unserer Logik, unserer Gedanken. Es wird immer wieder neue Fragen geben, die wir herausgefordert sind zu beantworten.
Ricke: Holen wir diese reine, klare Mathematik noch mal in die Niederungen der Wirtschaft! Da ist man ja auch zahlengläubig, es gibt betriebswirtschaftliche, volkswirtschaftliche Kennzahlen zuhauf. Da sind aber nicht immer Mathematiker am Werk. Wie kann man denn die Nichtmathematiker zum Beispiel in einer Geschäftsführung für Zahlen begeistern?
Beutelspacher: Na, ich glaube, jeder, der ein Unternehmen führt oder in einem Unternehmen in einer entscheidenden Position ist, der weiß genau um den Wert von Zahlen. Da will man sehr genau wissen, sozusagen auch im kleinsten Bereich, wie entwickelt sich der Umsatz, wie entwickeln sich die Verkaufszahlen, wie entwickelt sich das und das, um möglichst früh gegensteuern zu können oder einen Trend verstärken zu können. Also, das kann man, glaube ich, wird jedem, der praktisch arbeitet, der weiß, Zahlen sind wichtig und mit Zahlen kann ich ganz vieles ausdrücken und ganz vieles sehr präzise beobachten.
Ricke: Wenn ich jetzt feststelle, dass wir beide knapp sieben Minuten miteinander gesprochen haben, dann weiß ich, die Sieben ist eine Primzahl und meine Wahrnehmung ist, es war kurzweilig. Aber was sagt der Mathematiker dazu?
Beutelspacher: Sieben ist eine wunderbare Zahl, eigentlich die erste richtige Primzahl, an der man ganz, ganz viel erkennen kann. Merkwürdigerweise kommt sie in der Natur überhaupt nicht vor, aber dafür mental ganz häufig, im Märchen, die sieben Tage der Woche und so weiter.
Ricke: Der Mathematiker Albrecht Beutelspacher. Vielen Dank, Professor Beutelspacher!
Beutelspacher: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema