Schwerter zu Pflugscharen?
Wie immer zu Neujahr hatte der Probst in Nikolskoe, der kleinen Kirche hoch über dem Berliner Wannsee, viele Bitten an den lieben Gott. Natürlich auch die Bitte um Frieden. Dieses Mal fiel diese Bitte allerdings aus dem Rahmen: "Gib den deutschen Soldaten, die im Ausland eingesetzt sind, das Bewusstsein, dass sie auch dann als Friedensstifter wirken, wenn sie zur Waffe greifen!"
Ob dem lieben Gott dieses Gebet wohlgefällig war, bleibt offen. Wir aber, die Mitglieder der Gemeinde, waren – na, sagen wir mal: irritiert. Denn indirekt sprach der Probst ja mit uns. Mit uns als Teil der öffentlichen Meinung, die Einfluss darauf hat, mit welchem Bewusstsein die Soldaten in Afghanistan und an den afrikanischen Küsten zur Waffe greifen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg möchte man, dass sich Menschen, die zur Waffe greifen, nicht als Friedensstifter fühlen, sondern im Gegenteil als Friedensstörer, als Gewalttäter (womöglich als Mörder). Sie sollen sich schlecht fühlen. Durch diese Haltung gegenüber dem kriegerischen Geschehen hat sich das kollektive deutsche Gewissen von den Kriegsgräueln erholt. Eine Welt wurde angestrebt, in der die Menschen ihre Konflikte einvernehmlich und versöhnlich lösen. Gewalt löst immer nur Gegengewalt aus, war die Überzeugung. Frieden schaffen ohne Waffen, war die Forderung, und das Wort des Propheten Micha, Schwerter sollten zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, wurde die Parole der Friedensbewegung.
Ist der Probst an diesem Neujahrsmorgen aus der Reihe gefallen? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass er sich in dem großen Umdenkungsprozess befindet, der viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche erfasst hat – auch überzeugte Pazifisten. Denn die bisherige Perspektive war utopisch: die Perspektive, dass sich die Menschen überall auf dem Globus, in plötzlichem Einvernehmen, dem Friedensgebot beugen und die Waffen hinlegen. Diese Perspektive hat Konkurrenz bekommen durch eine aussichtsreichere, realistischere: die Vorstellung, dass sich eine Weltpolizei bildet, die den Frieden mit Gewalt herstellt, aber – nach Art der Polizei – mit deren minimalem Einsatz.
Haben wir uns nicht jahrzehntelang etwas vorgemacht, wenn wir meinten, politische Widersprüche mit Liebe und Güte lösen zu können – echte, harte Widersprüche, Widersprüche, die aus althergebrachter Ungleichheit, historisch tradiertem Unrecht, religiöser Differenz entstanden sind? Haben wir dabei nicht übersehen, dass es noch nie einen dauerhaften Frieden ohne Gewaltdrohung gegeben hat – und einen solchen Frieden nicht einmal in unserem eigenen netten Gemeinwesen gibt? Dass wir selber jede Nacht von Waffen beschützt werden – durch die Polizei? Wir denken nur im Notfall daran, aber dann fällt es uns auch sofort ein: Wir müssen nur 110 wählen, dann sind sie da, die Freunde und Helfer, und zwar bewaffnet. Selbstverständlich.
Sollte nicht die ganze Welt in dieser Art von Sicherheit leben dürfen? In einem inneren Frieden, der von einer zentralen Weltpolizei bewacht wird? Die selbstverständlich bewaffnet ist? Sieht man sich einmal genau an, welche Situation der Prophet Micha sich vorgestellt hat, wenn er die Schwerter in Pflugscharen verwandelt wissen wollte: Keineswegs hatte er die Illusion, dass sich Gleich und Gleich die Hände reichen. Sondern dass sich eine Herrschaft begründet. "In den letzten Tagen wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher denn alle Berge, und über die Hügel erhaben sein, und die Völker werden dazu laufen." Von einer Zentralisierung ist hier die Rede, von einem "Wort des Herrn der Heere", das für alle verbindlich ist.
Wenn man sich vorstellt, dass die Neujahrsbitte weniger an den lieben Gott als an die Träger der öffentlichen Meinung gerichtet ist, könnte man sie umformulieren: "Gebt den Soldaten das Bewusstsein, dass sie Weltpolizisten sind! Dass sie nicht für ihr Vaterland kämpfen, dass sie nicht siegen, dass sie keine Ehre erwerben, dass sie keinen Opfertod sterben, sondern Sicherheit und Ordnung schaffen – und zu diesem Zweck selbstverständlich unter Waffen stehen."
Sibylle Tönnies, Juristin, Soziologin, Publizistin, 1944 in Potsdam geboren, studierte Jura und Soziologie. Sie arbeitete zunächst als Rechtsanwältin und war Professorin im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bremen. Heute unterrichtet sie an der Universität Potsdam. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen die Bücher "Der westliche Universalismus", "Linker Salon-Atavismus" und "Pazifismus passé?"
Seit dem Zweiten Weltkrieg möchte man, dass sich Menschen, die zur Waffe greifen, nicht als Friedensstifter fühlen, sondern im Gegenteil als Friedensstörer, als Gewalttäter (womöglich als Mörder). Sie sollen sich schlecht fühlen. Durch diese Haltung gegenüber dem kriegerischen Geschehen hat sich das kollektive deutsche Gewissen von den Kriegsgräueln erholt. Eine Welt wurde angestrebt, in der die Menschen ihre Konflikte einvernehmlich und versöhnlich lösen. Gewalt löst immer nur Gegengewalt aus, war die Überzeugung. Frieden schaffen ohne Waffen, war die Forderung, und das Wort des Propheten Micha, Schwerter sollten zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, wurde die Parole der Friedensbewegung.
Ist der Probst an diesem Neujahrsmorgen aus der Reihe gefallen? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass er sich in dem großen Umdenkungsprozess befindet, der viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche erfasst hat – auch überzeugte Pazifisten. Denn die bisherige Perspektive war utopisch: die Perspektive, dass sich die Menschen überall auf dem Globus, in plötzlichem Einvernehmen, dem Friedensgebot beugen und die Waffen hinlegen. Diese Perspektive hat Konkurrenz bekommen durch eine aussichtsreichere, realistischere: die Vorstellung, dass sich eine Weltpolizei bildet, die den Frieden mit Gewalt herstellt, aber – nach Art der Polizei – mit deren minimalem Einsatz.
Haben wir uns nicht jahrzehntelang etwas vorgemacht, wenn wir meinten, politische Widersprüche mit Liebe und Güte lösen zu können – echte, harte Widersprüche, Widersprüche, die aus althergebrachter Ungleichheit, historisch tradiertem Unrecht, religiöser Differenz entstanden sind? Haben wir dabei nicht übersehen, dass es noch nie einen dauerhaften Frieden ohne Gewaltdrohung gegeben hat – und einen solchen Frieden nicht einmal in unserem eigenen netten Gemeinwesen gibt? Dass wir selber jede Nacht von Waffen beschützt werden – durch die Polizei? Wir denken nur im Notfall daran, aber dann fällt es uns auch sofort ein: Wir müssen nur 110 wählen, dann sind sie da, die Freunde und Helfer, und zwar bewaffnet. Selbstverständlich.
Sollte nicht die ganze Welt in dieser Art von Sicherheit leben dürfen? In einem inneren Frieden, der von einer zentralen Weltpolizei bewacht wird? Die selbstverständlich bewaffnet ist? Sieht man sich einmal genau an, welche Situation der Prophet Micha sich vorgestellt hat, wenn er die Schwerter in Pflugscharen verwandelt wissen wollte: Keineswegs hatte er die Illusion, dass sich Gleich und Gleich die Hände reichen. Sondern dass sich eine Herrschaft begründet. "In den letzten Tagen wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher denn alle Berge, und über die Hügel erhaben sein, und die Völker werden dazu laufen." Von einer Zentralisierung ist hier die Rede, von einem "Wort des Herrn der Heere", das für alle verbindlich ist.
Wenn man sich vorstellt, dass die Neujahrsbitte weniger an den lieben Gott als an die Träger der öffentlichen Meinung gerichtet ist, könnte man sie umformulieren: "Gebt den Soldaten das Bewusstsein, dass sie Weltpolizisten sind! Dass sie nicht für ihr Vaterland kämpfen, dass sie nicht siegen, dass sie keine Ehre erwerben, dass sie keinen Opfertod sterben, sondern Sicherheit und Ordnung schaffen – und zu diesem Zweck selbstverständlich unter Waffen stehen."
Sibylle Tönnies, Juristin, Soziologin, Publizistin, 1944 in Potsdam geboren, studierte Jura und Soziologie. Sie arbeitete zunächst als Rechtsanwältin und war Professorin im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bremen. Heute unterrichtet sie an der Universität Potsdam. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen die Bücher "Der westliche Universalismus", "Linker Salon-Atavismus" und "Pazifismus passé?"