Das Lager von Rivesaltes
Erstmals erinnert Frankreich am Nationalfeiertag nicht nur an den Sturm auf die Bastille, sondern auch an die Befreiung von der Nazi-Herrschaft 1944. Zu den Gedenkorten soll künftig auch das lange vernachlässigte ehemalige Lager von Rivesaltes gehören.
Eine karge Landschaft in Südfrankreich. Die Ebene breitet sich zwischen dem Mittelmeer und den Pyrenäen aus. Die spanische Grenze ist nicht weit.
"Hier befinden Sie sich mitten drin, in diesen berühmten 612 Hektar des 'Kamp Joffre'".
Nathalie Fourcarde lenkt die Besuchergruppe auf das Gelände. Von der Autobahn, die sich am Küstenstreifen Richtung Süden schlängelt, geht es vorbei an mittelständischen Betrieben, einem Ausbildungszentrum, an Windrädern, dann: private Parzellen in einem staatlichen Gelände, militärisches Sperrgebiet.
"Sie sehen, bis auf das Gelände für die Erinnerungsstätte, das der Region gehört, und diesem Gewerbegebiet und dem Ausbildungszentrum, ist der Rest Militärzone. Wir sind umgeben von dieser Militärzone."
Der Bus holpert über die ausgetrockneten Wege. Absperrungen machen Umwege nötig.
Nathalie Fourcarde ist im Leitungsteam für ein Erinnerungsprojekt der Region Languedoc-Roussillon, das lange undenkbar war. Nicht zuletzt, weil das Gelände jenseits der Stacheldrahtzäune Militärgelände ist und bis heute von französischen Spezialeinheiten für Übungen genutzt wird.
Kein Wein und keine Helden
Das Erinnerungsprojekt gilt dem Lager, das auf einem Teil der weiten Fläche in den späten dreißiger Jahren eröffnet wurde unweit des Örtchens Rivesaltes. Dort, wo eigentlich berühmter Wein vermutet wird, wo der Held des Ersten Weltkrieges, General Joffre, geboren wurde.
Hier aber, wo Weinanbau unmöglich ist, weil glühende Hitze im Sommer und beißende Kälte im Winter keine Pflanze gedeihen lässt, wo Fallwinde von mehr als 100 Stundenkilometern von den Bergen der Pyrenäen für extremste Bedingungen sorgen, mussten Menschen leben.
"Hier haben sich an ein und demselben Ort nacheinander die drei großen Augenblicke der französischen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert abgespielt", erklärt Denis Peschanski, Historiker und wissenschaftlicher Leiter der Erinnerungsstätte von Rivesaltes: "Die Flüchtlingsbewegung aus Spanien, der Zweite Weltkrieg, die Folgen des Algerienkrieges."
1939 wird das Lager von Rivesaltes in der Ödnis unweit von Perpignan aus der Taufe gehoben, als Militärlager zunächst. Wenig später ist es Durchgangslager für die Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs: bis Ende 1942, bis auch der Süden Frankreichs von den Nazis besetzt wird, Hauptinternierungslager für Juden und Zigeuner.
Nach der Befreiung Frankreichs 1944 werden zunächst Vichy-Kollaborateure, dann, ab 1945, Kriegsgefangene in den Barracken untergebracht, Deutsche und Österreicher vor allem. Fast zehntausend sind es bis zur Vorläufigen Schließung des Lagers.
Nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich schließlich, 1962, bringt die französische Republik die Harki und ihre Familien in die einfachen Baracken und Zelte. Die überwiegend muslimischen Algerier also, die auf Seiten Frankreichs gekämpft hatten, von de Gaulle aber fallen gelassen wurden, als Frankreich Algerien in die Unabhängigkeit entließ. Obwohl Rivesaltes für die "Harki" nur als Transit- und Durchgangslager gedacht war, bleiben viele jahrelang.
"Diese Bevölkerungsgruppen wurden gezwungen dort zu leben. Das ist der rote Faden, alle wurden zum Aufenthalt in Rivesaltes gezwungen."
Gezwungen zum Leben unter schwierigsten Bedingungen. In Barracken und einfachsten Behausungen in der menschenleeren Ebene am Fuße der Pyrenäen.
"Dieser Bereich hier, das war das Internierungslager, mit zwei Blöcken für die Logistik und fünf für die Unterbringung."
Halb zerfallene Baracken ragen in den strahlend blauen Himmel.
"2313 Juden wurden von hier aus in den Tod transportiert. Die Juden, die in der nichtbesetzten Zone zusammengetrieben wurden, wurden hierher gebracht und dann deportiert."
Außerdem 600 Zigeuner, überwiegend aus der Region Elsaß-Lothringen.
Militär, Kriegsgefangene, Juden, Algerier
"Von Januar 1941 bis November 1942 waren hier 21.000 Menschen interniert."
Die pralle Sonne über der Ebene, die eiskalten Nächte im Winter, die undichten Baracken und Zelte tun ihr Übriges, um Rivesaltes zu einem Ort des Elends zu machen .
Nicht nur in der Zeit, als Rivesaltes Kriegsgefangenenlager war, starben die Menschen an den katastrophalen hygienischen Bedingungen, die hier herrschten.
"In Folge einer Epidemie gab es viele Tote. Die Gefangenen wurden zunächst auf dem Gelände beerdigt. Später, in den 50er, 60er Jahren wurden die Körper nach Deutschland gebracht und von den Familien dort bestattet."
Die verfallenen Baracken sollen, so weit möglich, gerettet und rekonstruiert werden, sie stehen unweit der Großbaustelle:
"Hier sehen Sie das Hauptgebäude der Erinnerungsstätte, die im Januar 2015 eröffnet werden wird."
Das Gebäude duckt sich in die rötliche Erde dieser wüstengleichen Landschaft.
"Das ist ein Gebäude, das unterirdisch beginnt und sich langsam erhebt, aber niemals höher sein wird als die Barackendächer. Ein Gebäude, das sich in die Landschaft fügt, das nicht durch seine Architektur erdrückt, nicht die noch stehenden Baracken erdrückt , nicht die Erinnerung erdrückt, das den Ort respektiert. Der Ort an dem dieses Internierungslager stand, soll für sich sprechen."
1000 Quadratmeter Ausstellungs-Fläche für Dauer- und 400 Quadratmeter Wechsel Ausstellungen, ein Kinoraum für Vorführungen, Säle für pädagogische Veranstaltungen. Wenn im Januar 2015 die Eröffnung gefeiert wird, liegt ein langer und steiniger Weg hinter den Verantwortlichen.
In den Schulen der Region, berichten Lehrer und Zeitzeugen, sei nie über den Ort gesprochen worden. Rivesaltes, das war Militärgelände, da war die Schweigsamkeit groß. Die französische Armee trägt nicht zufällig den Spitznamen "La Grande Muette."
In den Schulen der Region, berichten Lehrer und Zeitzeugen, sei nie über den Ort gesprochen worden. Rivesaltes, das war Militärgelände, da war die Schweigsamkeit groß. Die französische Armee trägt nicht zufällig den Spitznamen "La Grande Muette."
"Wenn Sie nach Rivesaltes kommen, haben Sie das Zerstörerische vor Augen, diese Barracken, die vermitteln, was es bedeutet, interniert zu sein, deportiert zu werden. Welche große und zugleich dramatische Chance"; sagt der Historiker. Aber es dauerte, bis diese Chance genutzt wurde. Das Schweigen über das Lager von Rivesaltes war "national", die Tür für die Erinnerungsarbeit musste erst aufgestoßen werden.
Hilfreich war da die Arbeit lokaler Initiativen. So der Verein "Trajectoire", der sich seit Jahren um Zeitzeugenberichte bemüht, Dokumente sammelt und bis heute mit pädagogischen Projekten am Erhalt des Erinnerungsortes beteiligt ist. Die lokalen Vereine waren es auch, die erste Kontakte über die Grenzen hinweg knüpften, die auf internationalen Menschenrechtskonferenzen das Bewusstsein für diesen in der Geschichte Europas einzigartigen Ort schärften.
Für den Weg von den vergessen Barracken, die in der Witterung untergingen, bis zum Mémorial, der Erinnerungsstätte, die nun aus dem steinigen Boden wächst, fehlte aber vor allem eines, sagt der wissenschaftliche Leiter des Projektes: "Es brauchte eine politische Entscheidung, politische Beteiligung."
Vergessen statt gedenken
Die kam mit dem ebenso eigenwilligen wie zähen Christian Bourquin ins Spiel. Der Sozialist kämpfte 16 Jahre gegen lokale und regionale Widerstände, gegen die Konkurrenz der unterschiedlichen Opfer-Gruppen, gegen Ablehnung auf den verschiedenen politischen Ebenen:
"Keiner wollte was von dem Projekt hören, keiner!"
Rivesaltes - mit dem Namen verbinden sich schmerzhafte Etappen der französischen Geschichte, deren Aufarbeitung Jahrzehnte brauchte und in Teilen bis heute nicht abgeschlossen ist. So gab es Widerstand gegen die Erinnerungsstätte bis hinauf zur Staatsspitze. Im Präsidentenpalast in Paris, sei ihm Desinteresse begegnet, sagt der Präsident der Region Languedoc-Roussillon: "Ich war allein gegen alle und habe mich schon gefragt, ob ich mich irre."
Bourquin ist recht eitel, aber eben auch entschlossen, sein Projekt voranzutreiben. Zunächst sei es darum gegangen, die Barracken, die bei Wind und Wetter verfielen, zu retten. Zwölf Jahre dauerte dieser politische Kampf. Denn das Gelände für die Erinnerungsstätte musste aus dem militärisch genutzten Bereich gleichsam herausgeschnitten werden. Dabei ging es auch um Geld.
"Das sollte die Nachwelt wissen, für Erinnerungsarbeit muss man hier zahlen."
Der damalige Staatspräsident Sarkozy ließ sich das Gelände bezahlen, bevor dort die historische Arbeit aufgenommen werden konnte. Der Sozialist Bourquin lässt heute kein gutes Haar an seinem konservativen Verhandlungspartner von einst- Sarkozy habe von einer Gedenkstätte zunächst nichts wissen wollen, erst im Wahlkampf 2012 habe er Rivesaltes für sich entdeckt und für ein paar werbetaugliche Fotos am Rande einer Stippvisite genutzt.
"Ich denke, ganz klar, dass er persönlich ein Problem mit Erinnerungsarbeit hat."
Allerdings war der Weg keineswegs frei, als in Paris die politische Farbe wechselte und die Sozialisten ans Ruder kamen. Auf den Fluren des Elysée seien ihm dieselben Beamten begegnet, die das Projekt schon seit Jahren blockiert hätten, weil es zu viele Wunden der französischen Geschichte aufzureißen drohte.
Aber auch daheim, in der Region Languedoc-Roussillon habe es immer wieder den ein oder anderen gegeben, der gesagt habe: Lasst uns das heiße Eisen Rivesaltes nicht gerade jetzt anpacken.
"Ich habe gekämpft, habe Widerstand geleistet", klopft sich Bourquin auf die Schulter, der sich jetzt, da die Erinnerungsstätte genehmigt und im Bau befindlich ist, mit seinem Team an die internationale Arbeit machen will.
"Jetzt gibt es viel Arbeit, die vor uns liegt. Mit Spanien, mit Deutschland, mit der Schweiz, Israel, den USA."
Da im Laufe der langen Geschichte des Lagers Menschen aus 16 Nationen in Rivesaltes untergebracht waren, gibt es viele Archive zu durchforsten, Namenslisten zu vergleichen, Dokumente zu sammeln. Die Forscher stehen in mancherlei Hinsicht noch am Anfang ihrer Arbeit.
Die Bevölkerung ist inzwischen mit großer Mehrheit für die Erinnerungsstätte. Aus Spanien kommen bereits Schulklassen über die Berge in die Gegend. Die pädagogische Arbeit hat begonnen. Anders als andere Lager in Frankreich soll Rivesaltes nicht vergessen werden.
"Es gab bei der Befreiung Frankreichs 1944 natürlich die Spuren der Internierungslager. Aber die wurden schnell vergessen, vor allem die, die auf Initiative des französischen Staates unterhalten und errichtet worden waren."
Der Regionalpräsident der Region Languedoc-Roussillon lehnt sich zurück und sagt: "Wenn die Erinnerungsstätte erst einmal eröffnet ist, kann keiner mehr sagen 'Ach, erklär mir das mit dem Lager doch später!' Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge, Juden, Algerien-Kämpfer, deutsche und österreichische Kriegsgefangene, jeder könne in Rivesaltes , an ein und demselben Ort vom anderen lernen , sagt Historiker Peschanski.