"Schwierigkeiten mit Rechtsstaat" in Rumänien absehbar

Heinrich August Winkler im Gespräch mit Joachim Scholl |
Den aktuellen Machtkampf in Rumänien sieht der Historiker Heinrich August Winkler vor dem Hintergrund der fehlenden demokratischen Tradition auf dem Balkan. Viel überraschender findet er den Demokratieabbau in Ungarn, das stärker mit dem Westen Europas verbunden sei.
Joachim Scholl: Gestern fand in Rumänien eine ominöse Volksabstimmung über die Amtsenthebung des rumänischen Präsidenten statt, ins Werk gesetzt von Regierungschef Ponta, der schon zuvor die Rechte des Verfassungsgerichts beschnitten hatte. Zukünftig darf es die Entscheidungen des Parlaments nicht mehr beurteilen. Die Europäische Union hat scharf protestiert, sieht die Demokratie in Rumänien akut gefährdet.

Und ganz ähnliche Reaktionen hat die politische Entwicklung in Ungarn gezeitigt in den letzten zwei Jahren. Dort regiert Viktor Orbán mit seiner Partei quasi als Alleinherrscher und nach und nach werden immer mehr demokratische Prinzipien über Bord geworfen. Und wenn wir in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion gehen, haben wir die intensiven Debatten gut im Ohr vor und während der Fußballeuropameisterschaft in der Ukraine, als es um den wenig demokratischen Umgang mit der früheren Regierungschefin Timoschenko ging.

Wie sind diese Entwicklungen insgesamt einzuschätzen, was geht hier vor sich? Das wollen wir jetzt von Heinrich August Winkler erfahren. Er ist einer der bedeutendsten deutschen Historiker und jetzt am Telefon, ich grüße Sie, Herr Winkler!

Heinrich August Winkler: Guten Tag!

Scholl: Wie groß waren die Hoffnungen, die Erwartungen, die Versprechen auch auf Freiheit und Demokratie, als 1989, 90 die Diktaturen des Ostens zusammenbrachen und eine neue Zeit sich ankündigte! Erleben wir jetzt, Herr Winkler, gut 20 Jahre später, einen Rollback antidemokratischer Ideen?

Winkler: So weit würde ich nicht gehen, weil es sehr unterschiedliche Entwicklungen in den neuen Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union gibt. Es gibt ja ausgesprochen erfreuliche Entwicklungen, wenn ich an Polen denke. In den letzten Monaten würde ich auch ähnlich von der Slowakei sprechen, wo es zeitweilig große Besorgnisse um die Demokratie gegeben hatte. Insgesamt ist auch die Entwicklung in den baltischen Staaten sehr erfreulich. Es gibt keine Gefährdung der Demokratie in Tschechien oder Slowenien, obwohl auch da immer wieder Berichte kommen, dass die Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie noch stark seien.

Es geht in der Tat im Augenblick um die Fälle Ungarn und Rumänien. Dabei ist eines bemerkenswert: Ungarn gehört zu den Neuaufnahmen von 2004. 2004 wurden acht ostmitteleuropäische Staaten in die Europäische Union aufgenommen, die zum alten Westen, zum lateinischen Westen gehörten, zu jenem Teil Europas, der seit dem Mittelalter die Tradition der Gewaltenteilung kennt, beginnend mit der Tradition der Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt.

Und deswegen erstaunt es, dass in Ungarn die Demontage der Demokratie in den letzten Jahren solche Ausmaße angenommen hat. Ungarn ist sehr viel mehr mit dem Westen Europas verbunden gewesen, als das etwa für Bulgarien und Rumänien gilt, die 2007 aufgenommen wurden, zwei Länder des byzantinisch-orthodoxen Europas, in denen diese Tradition der Gewaltenteilung so nicht existierte, wo geistliche Gewalt immer der weltlichen Gewalt untergeordnet blieb, wo die ganzen Ideen der europäischen Moderne von der Renaissance über die Reformation bis zur Aufklärung ausgesperrt blieben, was auch an der osmanischen Fremdherrschaft lag.

Also, dass es in Rumänien und Bulgarien Schwierigkeiten mit Rechtsstaat und Demokratie geben würde, das war absehbar und das ist auch das, was von der Europäischen Kommission immer wieder in den Fortschrittsberichten moniert wird.

Scholl: Sie haben in Ihrem großen Werk "Geschichte des Westens" diese europäischen Strukturen der Geschichte nachgezeichnet und ihre Entwicklung auch hin zur Demokratie. Was war denn im alten lateinischen Westen, wenn ich Ihren Begriff aufgreifen darf, Herr Winkler, geschichtlich so viel anders als im Osten, dass sich demokratisches Wesen, demokratische Staatsführung und Mentalität anscheinend doch in manchen Regionen, in manchen Ländern so wenig ausgebildet haben?

Winkler: Es gibt zwei vormoderne Gewaltenteilungen. Das eine ist die ansatzweise Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt. Die andere vormoderne Gewaltenteilung ist die zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt, Stichwort Magna Charta in England 1215. In Ländern, die diese frühen, vormodernen Formen von Gewaltenteilung kannten, haben sich dann die großen Emanzipationsbewegungen der Neuzeit entfalten können, von der Renaissance über die Reformation bis hin zur Aufklärung.

An diesen Entwicklungen konnte weder Russland teilhaben noch der byzantinisch geprägte Balkanraum. Da blieben autoritäre Verhältnisse an der Tagesordnung, da hat es weder die moderne Gewaltenteilung gegeben, die sich im Westen allmählich durchgesetzt hat, noch die Emanzipationsbewegungen, von denen ich eben sprach, Humanismus, Renaissance, Reformation, Aufklärung. Das blieb alles beschränkt auf gewisse Oberschichten, die diese westlichen Ideen rezipierten. Das alles wirkt bis heute nach.

Und was wir im Augenblick in Rumänien erleben, ist in der Tat ein tief erschreckender Abbau von westlichen Errungenschaften, die offensichtlich nur sehr oberflächlich zunächst rezipiert worden sind.

Scholl: Osteuropa und die Demokratie, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Heinrich August Winkler. Wenn wir jetzt gerade diese jüngsten Entwicklungen in Rumänien und Ungarn anschauen, Herr Winkler, immerhin zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die deren demokratische Regularien ja zum Teil mit Füßen treten: Die Europäische Kommission kritisiert, protestiert massiv und in Permanenz, anscheinend bewegt sich nichts! Was könnte hier passieren?

Winkler: Einiges bewegt sich schon. Und wenn es den Druck der Europäischen Kommission nicht gäbe, dann wäre vieles sehr viel schlimmer. Immerhin ist es dem Druck der Europäischen Kommission zuzuschreiben, dass für die Volksabstimmung in Rumänien die Mehrheit der Wahlberechtigten schließlich maßgebend war für das Ergebnis, und nicht ein sehr viel geringeres Quorum unterlegt werden konnte, wie das die Regierung Ponta beabsichtigt hat. Ähnliches kann man mit Blick auf die Revision bestimmter Gesetze in Ungarn sagen.

Aber richtig ist: Die Parteifamilien reagieren sehr unterschiedlich. Je nachdem, ob eine Familie des eigenen Parteienverbundes an der Regierung ist oder nicht. Die Europäische Volkspartei hat sehr verhalten auf den Abbau von Demokratie in Ungarn reagiert und ich hätte mir auch von der Sozialdemokratie sehr viel deutlichere Töne mit Blick auf das gewünscht, was unter Victor Ponta an Demokratieabbau sich in Rumänien vollzieht.

Scholl: Der ja eine sozialistische Regierung vertritt. Was uns natürlich auch verblüfft, Herr Winkler, ist die jeweils doch schwache Reaktion der Bevölkerung auf diese Entwicklungen. Als in Ungarn etwa die skandalösen Mediengesetze beschlossen wurden, gingen nur wenige auf die Straße. Wie bedeutsam ist diese bei den Menschen anscheinend noch wenig ausgebildete demokratische Mentalität für die aktuelle Entwicklung?

Winkler: Vergessen wir nicht, es gab auch in Deutschland einen langen Prozess der Eingewöhnung in die westliche Demokratie. Nach 1918 war diese Staatsform bei vielen verpönt als die Staatsform der Niederlage. Und nach 1945 hat es auch eine Weile gedauert, bis die westliche Demokratie in Deutschland völlig akzeptiert worden ist. Es gibt eben sogar im alten Westen einen Teil von Staaten oder eine große Zahl von Staaten, die die Errungenschaften des späten 18. Jahrhunderts – unveräußerliche Menschenrechte, repräsentative Demokratie, Mehrheitsherrschaft – nur sehr mühsam sich angewöhnt haben.

In der Zwischenkriegszeit gab es viele neue Demokratien, von denen 20 Jahre später nur noch die wenigsten existierten. Im Grunde waren 1938 nur noch die Tschechoslowakei und Finnland demokratisch verfasste Staaten zu nennen unter denen, die erst nach dem Ersten Weltkrieg zu einer demokratischen Staatsform gefunden hatten. Und das zeigt: Die Demokratie ist in Europa sehr unterschiedlich entwickelt.

Es gibt alte Demokratien, wo die Krise nach 1930 die Demokratie nicht zerstören konnte – ich denke an Großbritannien, an die Beneluxstaaten, an Frankreich, auch an die skandinavischen Staaten –, und es gibt die neuen Demokratien, die sich nach dem Ersten Weltkrieg wieder abschafften, darunter eben auch Deutschland. Also, man braucht Zeit, damit die Demokratie Wurzeln schlagen kann.

In Polen ist das nach 1989 sehr viel rascher geschehen, was auch an der großen Freiheitstradition liegt. Man darf nicht vergessen: Die friedliche Revolution beginnt 1980 mit der Gründung von Solidarnosc in Polen. Das war das ausschlaggebende Signal für die mitteleuropäische Revolution der Jahre 1989, 90. Also, es gibt sehr unterschiedliche Entwicklungen, aber da, wo die Demokratie in Gefahr geraten ist – und das ist jetzt vor allem so in Ungarn so und in Rumänien –, da muss von europäischer Seite geholfen werden, da muss Einfluss genommen werden.

Das gilt eben vor allem auch für die Parteien, die mit den jeweils Regierenden in einer Art Parteienverbund liiert sind.

Scholl: Ist die Demokratie in Osteuropa gefährdet? Wir haben dazu den Historiker Heinrich August Winkler gehört. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Winkler!

Winkler: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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