Schwindel! Hunger! Wut!

Von Elske Brault |
m Mittelpunkt des Sommerfestivals Laokoon in der Hamburger Kampnagelfabrik steht diesmal Kolumbien. "Colegio del Cuerpo", die Schule des Körpers, ist eine Tanzschule für Kinder aus Armenvierteln. "Schwindel! Hunger! Wut!", skandieren die jungen Tänzer auf der Bühne.
Sie sind jung, zwischen 17 und 25, sie sind selbstbewusst und stark. So stark, dass die Frauen die Männer für einen Moment auf den Armen halten. Die muskulösen Tänzer springen die Mädchen an, krümmen sich, kauern sich zusammen und bleiben auf ihren Armen wie auf einem Bett liegen, bis die Mädchen sie zu Boden werfen. Dann rollen die Tänzerinnen sich ihrerseits ein auf den Armen neuer Partner, bis auch sie zu Boden sinken. Und wieder eine Gruppe kommt hinzu, schubst die vorige beiseite.

Zwei Millionen Menschen hat der Bürgerkrieg in Kolumbien zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht. Gemeinsam mit den Tänzern hat Burgtheaterregisseur Nicolas Stemann ein eindrucksvolles Bild gefunden für eine harte soziale Wirklichkeit:

" In diesem Fall ist das so die Verdrängung, die Raumverdrängung in bestimmten Vierteln, die für bereits vertriebene Menschen irgendwie gegründet wurden, und wo diese Vertriebenen wieder von anderen Vertriebenen wiederum vertrieben werden."

In einem solchen Barrío ist die 17-jährige Tänzerin Viridiana Padia aufgewachsen:

" In die Angelegenheiten des Viertels mischt sich keiner von außen ein, es gibt dort keine Gerichtsbarkeit, keine Polizei. Die Leute im Viertel kümmern sich selbst um eine soziale Reinigung, das heißt, Huren oder Leute, die Marihuana rauchen, kommen auf schwarze Listen. Sie haben eine Woche Zeit, das Viertel zu verlassen, sonst werden sie erschossen. "

Tänzer skandieren in einer Art geschrieenem Flüstern:
"Mareo!" - "Ambre!" - "Rabia!" -


"Schwindel! Hunger! Wut!", skandieren die 16 Tänzer auf der Bühne. In Kolumbien wird ein junger Körper leicht zur tickenden Zeitbombe. Jair Luna und Jornais Chiogarcia waren 12 Jahre alt, als der Gründer des Colegio del Cuerpo, Alvaro Restrépo, an ihre Schule kam und zwei Wochen Tanzunterricht gab. Kurz bevor die Jugendlichen explodierten, bot er ihnen ein anderes Konzept: Tu cuerpo – tu casa. Dein Körper – dein Haus. Nach dem zweiwöchigen Kursus suchte Restrépo sich für seine erste Tanzklasse die Besten heraus: Jair war, wie er selbst sagt, klein und dick, und Jornais hatte ebenso wenig eine ideale Tänzerfigur:

" Beim Colegio ist das anders: Sie sehen, dass hier nicht alle schlank, muskulös und großgewachsen sind, die Körper sind ganz unterschiedlich. Um ein guter Tänzer zu sein, muss man grundsätzlich Lust darauf haben, man muss es fühlen und mit Liebe tanzen. Und das muss auf der Bühne zu spüren sein. Hier zählt mehr, ein guter Mensch zu sein, als ein guter Tänzer.
Die Arbeit hat mir beigebracht, anders zu sehen. Die Welt anders zu sehen, die Probleme in der Gesellschaft. Ich sehe plötzlich Dinge, die ich vorher nicht bemerkt habe. Auch bei scheinbar ganz normalen Menschen. "

Seit acht Jahren tanzen die 16 jungen Leute nun gemeinsam. Sie haben so viel Erfahrung, dass sie Theaterregisseur Nicolas Stemann, der nach eigenem Bekunden keine Ahnung von Choerographie hat, verschiedenste Bewegungen anbieten konnten für seine Ideen.

" Da merkt man, dass die unglaublich eingespielt sind aufeinander. Die sind sehr schnell, sehr kreativ, und sehr klar auch in ihren Angeboten, und da kann man dann als Regisseur sich verschiedene Bausteine raussuchen, um wiederum nen szenischen Vorgang draus zu bauen. "

Der Name einer deutschen Pharmafirma steht auf den Tanzshirts, sie ist einer von mehreren Sponsoren des Colegio. Staatliche Unterstützung gibt es zwar auch, aber bei jedem Regierungswechsel stoppt der Geldfluss, und Regierungswechsel sind in Kolumbien an der Tagesordnung.

Die Pharmafirma hat den Tänzern der Abschlussklasse ein Stipendium gegeben. So können sie in zwei Jahren an der Universität von Antiocha, die mit dem Colegio zusammenarbeitet, ihr Tanzdiplom machen. Und danach? Auf jeden Fall wollen die Freunde zusammenbleiben, sagt Alberto Barrioz, und eine eigene Kompagnie gründen. Sie hoffen auf Unterstützung durch das weltweite Netzwerk von Tanzschulen.

" Die große Frage ist, wovon werden wir leben. Wir wollen das Projekt an alle kolumbianischen Schulen und Universitäten bringen, aber dafür müssen wir raus, internationale Kontakte knüpfen. Weil man in Kolumbien mit Tanz kein Geld verdient. Aber was soll`s: Wenn du etwas willst, willst du es. "

Am Ende von Nicolas Stemanns Stück erheben die Tänzer sich auf die Zehenspitzen und breiten die Arme aus, als wollten sie abheben. Eine Minute lang halten sie diese Balance, eine Meisterleistung selbst für einen Profi. Sie haben einen Stolz gewonnen, den ihnen niemand mehr nehmen kann. Und niemand kann sie vertreiben aus diesem Haus, das ihnen überall zur Verfügung steht. Ihrem Körper.

Service:

Laokoon - Das Kampnagel Sommerfestival findet vom 17. August bis 3. September 2005 in Hamburg statt.