Neal Stephenson: Amalthea
Übersetzung von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl
Manhattan, München 2015
1056 Seiten, 29,99 Euro
Die Helden der Moderne sind Nerds
Neal Stephenson feiert in seinem Science-Fiction-Roman "Amalthea" über das Überleben der Menschheit im All die Hingabe und den Erfindungsgeist der Techniker. Und er macht das so anschaulich, dass der Leser am Ende fast das Gefühl hat, selbst ein Raumschiff steuern zu können.
"Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund." So beginnt Neal Stephensons literarische Versuchsanordnung. Schell ist klar: die lunaren Bruchstücke werden auf die Erde stürzen und dort alles Leben für tausende von Jahren unmöglich machen. Die Politik beschließt, die internationale Raumstation auszubauen um das Erbe der Menschheit retten. Zum Glück ist "Izzy" gerade an dem Asteroiden Amalthea angedockt, der schnell lebensrettend wird, als Rammbock und Rohstoffquelle.
Die Ereignisse überschlagen sich sowohl auf technischer, wie auf gesellschaftlicher Ebene. Neal Stephenson ist ein Nerd, ist fasziniert von Details, und er versteht es, diese Details Handlungsentscheidend zu machen. Deshalb folgt man auch gerne seinen Exkursen zur Orbitalmechanik oder dem Problem des Masseverlustes der Triebwerke. Am Ende hat der Leser fast das Gefühl, selbst ein Raumschiff steuern zu können. Auf dieser Ebene gleicht das Buch "Apollo 13" oder "Der Marsianer", es feiert die Hingabe und den Erfindungsgeist der Techniker. Noch spannender sind aber die sozialen Konflikte. Neal Stephenson folgt einem Dutzend Personen durch die Katastrophe. Dabei ist er weniger an ihren persönlichen Entwicklungen interessiert, als an der gesellschaftlichen Dynamik. Während die Politik auf der Erde noch versucht, die Kontrolle aufrecht zu erhalten, beginnen die Astronauten, bereits sich zu lösen. "Wir kriegen alle Ärger… mit einem Haufen toter Leute" sagt irgendwann die Ingenieurin Dinah.
... und die Erde verbrennt
Dann fällt tatsächlich der rote Meteoritenregen, die Erde verbrennt. Im zweiten Teil des Buches beschreibt Stephenson, wie die rund 1500 Überlebende im All versuchen, eine stabile Zivilisation aufzubauen. Was schief gehen kann, geht schief und dann noch etwas mehr. Vor allem fehlt Wasser, deshalb will eine kleine Expedition einen Kometen einfangen. Während sie weg sind, entwickeln sich politische Kämpfe. Eine sozusagen sozialistische Fraktion macht sich mit einem Schwarm kleiner Kapseln selbstständig, während die Zentralisten auf Izzy Zuflucht inmitten der Mondbruchstücke suchen. Technische und soziale Entwicklungen bleiben eng verwoben. "Euer Aopgäum ist eindeutig sublunar. … Das ist gigantisch, … Es wird das Bild politisch verändern". Solche Sätze machen in "Amalthea" tatsächlich Sinn und Vergnügen.
Am Ende überleben sieben Frauen. Es kann nicht anders sein, denn auf lange Sicht sind Männer verzichtbar. Und Neal Stehpenson ist an der langfristigen Perspektive interessiert. Im Schlussteil des Buches macht er einen Zeitsprung von 5000 Jahren. Dank der Reproduktionstechnik sind aus den sieben Evas sieben Völker entstanden. Lesen sich die beide ersten Teile wie ein Actionfilm, ähnelt der Schluss einem Schaukasten: so könnte die Raum-Gesellschaft aussehen, wenn sie zurück zur Erde kehrt. Neal Stephenson lässt seiner technischen Fantasie hier freien Lauf, leider ohne sie weiter so eng an die menschliche Dynamik so koppeln. Das Buch verliert hier eindeutig an Dampf. Trotzdem, "Anmalthea" ist Science Fiction im besten Sinne, lotet mögliche Welten aus, um unsere Welt zu erhellen. Und nebenbei wird klar: die Helden der Moderne, das sind die Nerds.