Sioux-Chef und Spitzenkoch
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Dekolonialisierung geht durch den Magen
07:09 Minuten
Sean Sherman, Beth Dooley
Der Sioux-Chef: Indigen kochenKanon Verlag, Berlin 2023232 Seiten
38,00 Euro
Der Spitzenkoch Sean Sherman setzt auf Traditionen der indigenen Küche. Er holt damit ein Stück des vernichteten Kulturguts dieser Völker zurück ins Bewusstsein. Sein politisches Kochbuch zeigt: Essen ist eine Identität verleihende Kraft.
Nicht nur die Liebe – auch die Dekolonialisierung geht durch den Magen! Davon ist Küchenmeister Sean Sherman von den Oglala Lakota Sioux fest überzeugt. Er wandelt auf den kulinarischen Spuren seiner Vorfahren, vermeidet möglichst alles, was die Kolonialherren in die Heimat seiner Stammesfamilie, der Sioux, und anderer indigenen Gruppen in Nordamerika an Einflüssen ins Essen gebracht haben und kommuniziert – auf seine ganz eigene Art mit und durch Ernährung.
„Wir bedienen uns des Essens als Sprache, denn Essen verbindet uns Menschen überall“, sagt er. Und zwar über ganze Generationen hinweg: Für Sean Sherman ist Essen vor allem eine treibende, Identität und Struktur verleihenden Kraft. Nicht jedes Essen, versteht sich.
Auf der Suche nach dem kulinarischen Erbe
Milchpulver, Dosenfleisch, Dosenobst und Dosengemüse, von der US-Regierung subventionierte Lebensmittel, prägten seine Kindheit im Pine Ridge Indianerreservat. Solche Lebensmittel waren und sind verantwortlich für Fettleibigkeit und Diabetes vieler Indigener.
Als Teenager fing Sean Sherman an, für seine alleinerziehende berufstätige Mutter und seine Schwester zu kochen. Später führte er mehrere Restaurants für wenig Geld, zog sich nach einem Burn-out an die mexikanische Pazifikküste zurück, entdeckte die dortige indigene Kultur und fand zu seinen eigenen Wurzeln zurück.
„Ich entdeckte viele Gemeinsamkeiten in der Kunst, in den Rhythmen, der Musik, bei der Kleidung – und das verband mich mit den Indigenen dort“, erinnert er sich. „Da wurde mir klar, dass ich mich mit allen möglichen Kulturen weltweit befasst hatte, Hunderte Rezepte aus Europa in den entsprechenden Sprachen auswendig kannte, aber kaum etwas über mein eigenes kulinarisches Erbe wusste, und so begann mein Weg der Wiederentdeckung.“
Zutaten aus der Zeit vor der Kolonialisierung
Der führte ihn zunächst zurück in das Pine Ridge Reservat. Wilde Beeren, verschiedenste Kürbisse, Mais, wilder Reis und Knoblauch, Bohnen, Pilze und Kräuter aus der Heimat, Bison-, Wild- und Entenfleisch: Lokal und nachhaltig muss es sein, ausschließlich Zutaten aus der Zeit vor der Kolonialisierung. Auf Rohrzucker, Weizenmehl, Proteine von aus Europa eingeführten Tieren wie von Hühnern, Schweinen und Rindern verzichtet der mittlerweile 49- jährige Sean Sherman ganz in seiner Küche.
Natürlich hat er seine Entdeckungsreise nicht auf sein Volk, das der Sioux beschränkt: Das Rezeptbuch mit dem Titel „Indigen Kochen“ des Sioux Küchenchefs enthält eine breite Palette originärer nordamerikanischer indigener Gerichte. Puffer aus Prärie-Rüben und mit Zedern geschmorte Bohnen, gebratene Entenbrust mit Apfelsaft Glacé, Bisonrippchen, Kürbis Suppe mit Apfel und Cranberry Sauce, gebratener Maispilz mit frischem Mais und frittiertem Salbei, Zedern Tee… Läuft Ihnen schon das Wasser im Munde zusammen?
Weit über hundert Rezepte enthält das bereits 2017 auf Englisch erschienene Kochbuch von Sean Sherman. Die kulinarische Reise geht quer durch Nordamerika, variiert entsprechend nach Regionen: mit Fisch an der Pazifikküste, Bison aus den Prärien, Wildkräutern und Pflanzen aus den Wäldern: „Wir haben uns vorgenommen, die unglaubliche Vielfalt indigener Speisen und des indigenen Ernährungssystems vor allem in Nordamerika aufzuzeigen. Nordamerika betrachten wir dabei von Mexiko bis Alaska - ohne die kolonialen Grenzen nach Mexiko oder Kanada. Damit eröffnet sich eine riesige Vielfalt. Denn in den USA gibt es 574 indigene Völker, 622 in Kanada, 30 Prozent der Mexikaner betrachtet sich als indigen, und es gibt viel indigenes Leben da draußen.“ Und das, obwohl sich vor allem die weißen Amerikaner nach Kräften bemüht hatten, die Ureinwohner auszurotten.
Auf die Philosophie kommt es an
Shermans Stamm, die Lakota Sioux, kämpften bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg gegen Truppen der US-Regierung und Siedler. Gerade einmal zwei Prozent der US-Amerikaner sind Indigene. Ihr Erbe wiederzuentdecken, zu bewahren, haben sich Sean Sherman und seine Mitstreiter vorgenommen. Nicht nur die kulinarische Hinterlassenschaft inklusive der gesamten Nahrungsmittelkette und der nachhaltigen Lebensmittelproduktion soll zu neuem Leben wiedererwachen, auch die Sprache und Kultur der Völker. „Das Kochbuch ist lediglich Schaufenster einer ganzen Philosophie. Wir wollen Geschichten erzählen, damit auch die Menschen in Deutschland anfangen nachzudenken, wie sich die Kolonialisierung nicht nur in der Vergangenheit auf die Indigenen ausgewirkt hat, sondern sich in geringerem Umfang immer noch auswirkt.“
Im Grunde ist Sean Shermans Kochbuch, wo Ahornsirup Zucker ersetzt und Mais sowie Süßkartoffeln die Sättigungsbeilagen bilden, ein hochpolitisches Buch. Es geht ihm darum, ein Stück von dem vernichteten Kulturgut der Völker zurück ins Bewusstsein zu holen. „Es zeichnet sich ab, dass wir demnächst wieder die Wahl zwischen Trump oder Biden bekommen. Das ist alles andere als perfekt. Wir müssen deshalb eng mit der Politik in unseren Regionen zusammenarbeiten, um unsere Kultur zu retten und die Schönheit indigener Kultur – ja aller Kulturen – in einer kulturell gespaltenen Welt zu zeigen“, so Sherman. „Wir müssen die Vielfalt zelebrieren und wir hoffen, dass Essen eine Sprache ist, die den Menschen hilft zu verstehen, denn Essen verbindet uns alle.“
So mag der deutsche Leser und Hobbykoch zwar hierzulande nicht unbedingt sämtliche Zutaten für Sean Shermans Rezepte finden. Die Philosophie einer nachhaltigen, an lokalen Zutaten orientierten, zucker- und salzarmen Kost lässt sich sicher aber auch hierzulande praktizieren, ohne gleich zu versuchen, Rezepte der alten Germanen zu finden.