Sebastian Guhr: „Chamissimo“
© Marix
Zwischen Fantasie und Forschung
06:43 Minuten
Sebastian Guhr
ChamissimoMarix, Wiesbaden 2022208 Seiten
22,00 Euro
Sebastian Guhr hat einen Roman über den Naturwissenschaftler und romantischen Dichter Adelbert von Chamisso geschrieben. Der Autor findet für das Leben Chamissos eine angemessene literarische Form und schreibt dabei auch über die Gegenwart.
In „Chamissimo“ von Sebastian Guhr geht es nicht immer mit rechten Dingen zu: Da ist sich der Protagonist nicht ganz sicher, ob er fünf Finger an der Hand hat oder vielleicht doch sechs, ob er märchenhafte Wesen oder unbekannte Tierarten erblickt und wer eigentlich alles mit dunklen Mächten im Bund ist. Immer wieder verschwimmt die Grenze von Realität und Fantasie. Aber wie sonst sollte man einen Roman über das Leben von Adelbert von Chamisso schreiben, der sowohl Naturwissenschaftler als auch romantischer Dichter war?
Flucht nach Deutschland
Das bewegte Leben Chamissos ist an sich schon ein idealer Stoff für diesen fünften Roman von Sebastian Guhr: Der 1781 als französischer Adeliger geborene Adelbert von Chamisso floh im Kindesalter mit seiner Familie vor der französischen Revolution nach Deutschland, kämpfte später als preußischer Soldat gegen die französische Armee Napoleons. Als Autor des Märchens „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ wurde Chamisso ein gefeierter Dichter der Romantik und umsegelte als Naturforscher die Welt.
Dieses ereignisreiche Leben hat Sebastian Guhr nicht in der Form eines auf Handlung und Spannung ausgerichteten Historienschmökers verarbeitet. Der Fokus des Romans liegt vielmehr auf dem Denken und Empfinden dieses Wanderers an den Grenzen von Wissenschaft und Fantasie, von Deutschland und Frankreich, von altem Adel und neu entstehendem Bürgertum.
Wahn und Wirklichkeit
So verschwimmen all diese Grenzen auch im Roman, etwa wenn aus der Kindheit Chamissos erzählt wird: „Er schlief und träumte von einer Welt, in der sich Erwachsene wie Kinder verhielten, und die Kinder wie Erwachsene. Eine Welt, in der die Erwachsenen kreischend über die Straßen rannten und sich prügelten, Angst hatten und sich Märchen erzählten.“
Als Erwachsener wird die Romanfigur Chamisso eine solche Welt erleben: In der Zeit kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Frankreich wird er aufgrund seines französischen Akzents von Deutschen verprügelt, in der Zeit der Restauration bespitzelt man sich gegenseitig, sodass jeder in Angst lebt, und während all dieser Zeit erzählen Erwachsene, einschließlich Chamisso selbst, Märchen. Nicht immer ist sich der Autor dabei sicher, ob es die fantastischen Wesen und dunklen Mächte, von denen er erzählt, nicht doch wirklich gibt. Selbst die blaue Blume der Romantiker scheint in Guhrs Roman ganz real.
Ausbeutung und Kolonialismus
Gleichzeitig wird deutlich, wie eng zentrale heutige Fragen mit der Zeit der Romantik verbunden sind: So stellt sich nicht nur für Adelbert von Chamisso selbst schon die Frage nach seiner Identität, ist er doch nach seiner Flucht in Frankreich wie in Deutschland fremd. Vor allem aber beobachtet er im Roman auf seiner Weltreise die fatalen Folgen des Kolonialismus und einer beginnenden Ausbeutung der Natur durch das entstehende kapitalistische Wirtschaftssystem.
Selbst damit, wie sich die Profiteure kolonialer Ausbeutung weigern, sich für Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung zu entschuldigen, muss Chamisso Erfahrungen machen. So ist „Chamissimo“ von Sebastian Guhr ein Roman, der nicht nur für das Leben des titelgebenden Romantikers eine angemessene literarische Form findet. Er lässt den Lesenden in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch die Gegenwart nicht vergessen.