Eine Begegnung im Moment größter Einsamkeit
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Die Migrationskrise werde oft wie die "Zombieapokalypse" dargestellt, sagt der Regisseur Sebastian Schipper. In seinem Film "Roads" wolle er das Zusammentreffen eines Ausreißers aus England und eines Flüchtlings aus dem Kongo auf Augenhöhe erzählen.
Susanne Burg: "Victoria" war ein großes Experiment, ein 140-minütiger Film in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht. Dass dieses Experiment auch an den Kinokassen gut funktionieren würde, da war sich Sebastian Schipper anfangs nicht ganz sicher.
Vier Jahre später läuft nun ein neuer Film von Sebastian Schipper im Kino: "Roads", ein Buddy-Movie über den 18-jährigen Gyllen aus London, der dem Familienurlaub in Marokko entflieht, indem er das Wohnmobil seines Stiefvaters entwendet – und der zufällig auf den gleichaltrigen William aus dem Kongo trifft, der versucht, nach Europa zu fliehen. Ein Roadtrip über Grenzen hinweg beginnt.
Weltpremiere hatte "Roads" in New York beim Tribeca Filmfestival. Und als ich Sebastian Schipper danach in Berlin zum Interview getroffen habe, habe ich ihn darauf angesprochen, wie es für ihn war, den Film im Heimatland der Roadmovies zu präsentieren.
Sebastian Schipper: Das war ganz toll, das da zu sehen und auch die Gespräche zu führen. Da ist natürlich politisch in den USA – auch mit der mexikanischen Grenze – ganz viel los, und es geht um ganz viel Lebenswirklichkeit, die sowohl in Europa, als auch auf der Welt, als auch in den USA stattfindet. Und klar, da sind wir natürlich auch auf eine Art exotisch. In der Art und Weise, wie wir dann vielleicht den Film erzählt haben, dass wir so eine langsame, emotionale Art haben, diese Geschichte dieser beiden Freunde zu erzählen.
"Ich wollte immer diesen Sommerfilm drehen"
Burg: Genau, es ist ja die Geschichte zweier Menschen, die sich treffen auf ihrem Weg, der eine fährt mit dem Wohnmobil von Marokko nach Europa. Der andere ist aus dem Kongo. Über Marokko will er flüchten, um seinen Bruder zu finden. Die treffen sich dann und reisen gemeinsam. Das erste Mal, als Sie angefangen haben, an dem Drehbuch zu arbeiten, war 2015 – das war natürlich gerade das Jahr, in dem auch dieser Flüchtlingsstrom in den Medien immer präsenter wurde. Was war der Ausgangspunkt für die Idee und wie sehr hat sich dann die Idee vielleicht auch mit dieser zunehmenden Berichterstattung, die ja bei Ihnen – also, diese Flüchtlingsgeschichte spielt ja im Hintergrund durchaus immer eine Rolle –, wie weit hat sich das auch verändert?
Schipper: Ich wollte immer einen Film darüber machen, wie zwei Freunde einen Sommer zusammen verbringen, weil das hat für mich so eine Entsprechung zu: Ich verbringe mit Freunden eine Nacht, was ja so ein Blueprint war, wenn man so will, für "Victoria", aber auch für "Absolute Giganten".
Ich wollte immer diesen Sommerfilm drehen, weil diese ersten Urlaube, die man ohne die Eltern macht und mit dem besten Freund, für mich auch so eindrücklich waren. Aus diesem Impuls ist überhaupt erst eine Filmidee geworden in dem Moment, wo wir gesagt haben, ja, wir wollen aber nicht, dass das in irgendeinem Sommer spielt, der irgendein Drehbuch-Filmland-Sommer ist, sondern wenn, dann wollen wir schon, dass das in der Lebenswirklichkeit stattfindet, die uns umgibt. Sonst wird es ja nur Schmalz oder Eskapismus oder was auch immer.
Und dann ist aus den beiden 18-Jährigen, die mit einem geklauten Auto durch Europa fahren, daraus ist dann geworden, dass der eine aus London kommt und der andere aus dem Kongo. Und ab dem Moment haben wir uns total erschrocken, weil wir gedacht haben, wir sind ja keine politischen Aktivisten, wir wollen auch keine Message nach vorne treiben, aber wir haben gleichzeitig gemerkt, diese Herausforderung setzt uns total unter Druck, das in dem Europa spielen zu lassen, wie wir es heute erleben. Aber das ist eigentlich auch der einzige Grund, der wirklich zwingend ist, diesen Film zu machen.
Burg: Die beiden nähern sich ja an, und das ist ja aus der Perspektive von Gyllen erzählt ...
Schipper: Nee, ich nehme das schon so wahr, dass auf Augenhöhe das erzählt wird. Natürlich bin ich ein westlich-privilegierter Filmemacher, und das wird auf jeden Fall auf irgendeine Art eine Rolle spielen bei diesem Film. Aber die Perspektive war erst mal so oder die Erzählweise war so, dass wir wollten, dass das auf Augenhöhe erzählt wird.
Größte Einsamkeit als verbindendes Element
Burg: Ja, dann ist das die zweite Perspektive, die vielleicht wichtig ist. Genau, weil Gyllen selber hat ja einen relativ – weil er noch jung ist, das erste Mal richtig weg ist – naiven Blick auf diese politische Situation. Ihm widerfährt ja quasi, dass da plötzlich auch Flüchtlinge in das Wohnmobil einsteigen. Beide sind ja im Prinzip auf der Suche nach ihrer Familie: Gyllen auf der Suche nach seinem Vater, William auf der Suche nach seinem Bruder. Inwieweit haben Sie es auch als Gefahr erachtet, diese beiden Suchen gleichzusetzen, denn der eine kommt natürlich aus dem privilegierten Europa, der andere hat eine Fluchtgeschichte aus dem Kongo hinter sich.
Schipper: Gleichsetzen kann man das überhaupt nicht. Bei dem einen geht es um Leben und Tod. Das Privileg des anderen zeichnet sich dadurch aus, dass der mit einem geklauten Auto und ohne Führerschein durch die Gegend fahren kann, und das Schlimmste, sind wir mal ganz ehrlich, was ihm drohen kann, ist, dass er zu Hause einen Heidenärger kriegt.
Bei dem anderen steht dessen Existenz und zwar dessen Leben auf dem Spiel. Das ist auch etwas, woran wir uns total abgearbeitet haben. Und trotzdem muss man sagen, das, was die beiden verbindet, ist, dass sie sich im Moment ihrer größten Einsamkeit begegnen – und zwar beide. Und das ist auch für den Privilegierten aus dem Westen schlimm.
Und ich glaube, dass man dann auch irgendwie einen Fehler macht, das gegeneinander aufzurechnen, denn ehe man sich versieht, beginnt man so ein Leidens- und Schmerzmonopoly, wer es denn noch schlimmer hat. Und das ist ja auch etwas, was William im Verlauf des Films anspricht, dass er sagt, na ja, mein Schicksal ist schlimm, aber es können jetzt genauso Leute neben mir stehen die sagen: Was soll denn an deinem Schicksal schlimm sein? Ich habe viel schlimmere Sachen erlebt als du.
"Flüchtling ist ja kein Beruf"
Burg: Weil Sie von Herausforderungen sprachen: Eine Herausforderung als Filmemacher ist ja auch, Sie haben das Genre des Roadmovies gewählt, und Roadmovie ist natürlich auch durch Bewegung gekennzeichnet. Und die beiden nehmen ja im Prinzip die Flüchtlingsroute von Marokko über Spanien, Frankreich. Und die Herausforderung für Flüchtlinge ist ja, sie würden sich gerne bewegen, aber sie hängen überall fest. Indem Sie jetzt William ins Wohnmobil mit setzen, besteht ja die Herausforderung, wie Sie dieser politischen Realität gerecht werden. Wie haben Sie sich diese Frage gestellt oder beantwortet?
Schipper: Na ja, ich mache halt keinen Film über die Flüchtlingskrise. Ich mache einen Film über William, und der ist Flüchtling. Und das ist seine Geschichte, weil, Flüchtling ist ja kein Beruf, das ist ja auch keine Gattung. Das sind Leute, die haben ein Leben und die haben eine Familie und die haben Brüder und die haben Träume und die sind alle unterschiedlich. Und ganz genau, was mich erschreckt, ist, dass es in einigen Filmen oftmals wirkt, die Art und Weise, wie die Migrationssituation, die Migrationskrise dargestellt wird, sieht aus wie die Zombieapokalypse.
Aber das ist genau das, wo ich keinen weiteren "Tagesthemen"-Beitrag machen wollte oder wie auch immer. Dass wir sagen, wir erzählen jetzt mal die Geschichte von diesem einen, und der fährt mit diesem anderen einen durch Europa. Und wir erheben auch keinen Anspruch darauf, dass das gerecht wird für alle. Und wir wissen ganz genau, dass die Gefahr, dem nicht gerecht zu werden, immanent ist in dem Moment, darüber einen Film zu machen.
Es war einfach eine ganz große inhaltliche Herausforderung, die uns gereizt hat und uns überfordert hat. Und da gab es eine ganz komische Parallelität zu "Victoria", da ging es immer darum, ob wir es verdammt und zugenäht hinkriegen, tatsächlich diesen Film in einer Einstellung zu drehen. Das Eis war dünn bei "Victoria" ob der Frage: Kriegen wir das überhaupt hin oder scheitern wir nicht krachend?
"Ich wusste nicht, ob Leute das gucken wollen"
Bei "Roads" war das technische Eis normal dick, aber das inhaltliche extrem dünn. Schaffen wir das, darüber einen Film zu machen, den man ernst nehmen kann, der dem Thema auf Augenhöhe begegnet, ohne dass wir belehrend sind, ohne dass wir schlauer werden, als die Polizei erlaubt, und dass wir einen Film erzählen über Freundschaft, der eben trotzdem kurzweilig ist und so, wie wir eben leben? Und das, kann ich nur sagen, hat mich nachts teilweise mindestens genauso wachgehalten mit Zweifeln und Sorge wie damals bei "Victoria".
Und auch jetzt wieder, bevor "Victoria" ins Kino gekommen ist, wusste ich nicht, ob Leute das gucken wollen. Die gleichen Sorgen habe ich jetzt auch wieder. In diesem Punkt, als Macher, dass ich was riskiere, dass ich mich zu weit aus dem Fenster lehne, dass ich mit einer gewissen Naivität in ein Projekt hineinbegebe und mittendrin – und auch nachdem es fertig ist – dann einfach hoffe, dass das überhaupt jemanden interessiert.
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