Sebastião Salgado: Exodus
Taschen-Verlag, Neuausgabe 2016
432 Seiten, mit zahlreichen Fotos und Begleitheft, 49,99 Euro
Den Flüchtlingen ein Denkmal gesetzt
Sie reisen in Viehwaggons oder maroden Booten, stranden in Lagern oder in den Slums der Großstädte: Der Fotoband "Exodus" von Sebastião Salgado widmet sich dem globalen Thema Flucht. Ein wuchtiger und tief beeindruckender Bildband, meint Susanne Billig.
Der Mann ist nur ein schmaler Schatten, der in der Weite des mexikanischen Ödlands seinem Traum von Amerika entgegen rennt. Längst ist ihm der Jeep des Wachpersonals auf den Fersen. Verloren, mit erloschenem Blick liegt ein Teenager auf dem Rücksitz eines kaputten Autos irgendwo im Nichts, gestrandet zwischen Afrika und Europa. Immer wieder auch Leichen. Am Strand, angeschwemmt zwischen Bootstrümmern und Unrat. Im Slum, zusammengeschoben von einem Bagger. So viele Menschen sterben an Hunger und Infektionen, dass man die Toten anders nicht begraben kann.
In seinem wuchtigen Bildband "Exodus", den der Taschen-Verlag zehn Jahre nach dem ersten Erscheinen neu herausgebracht hat, setzt der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado den Menschen auf der Flucht ein würdevolles und trotz allen Elends, das aus den grobkörnigen Schwarzweißbildern mit ihren harten Kontrasten spricht, auch tief beeindruckendes Denkmal.
Slums neben hypermodernen Finanzquartieren
65 Millionen Menschen haben weltweit alles hinter sich gelassen. Sie schlagen sich durch, um irgendwo auf dieser Erde einen Platz zu finden, an dem sie überleben können. Dieses Thema nimmt der Bildband in vier Teilen in den Blick. Teil 1 zeigt die Wirrnisse der erzwungenen Reisen. Menschen in winzigen Booten, auf Viehwaggons, zu Fuß in der Wüste und dort, wo sie in den allermeisten Fällen auf ihrem Weg stranden: in Lagern eingepfercht. Teil 2 zeigt das Elend der Flüchtlinge in Afrika und hier vor allem die Folgen des Völkermordes in Ruanda. Teil 3 lenkt den Fokus auf Südamerika, die scharenweise Landflucht und das Chaos in den Slums der ausufernden Städte. Teil 4 schließlich führt in die Länder Asiens, wo hypermoderne Finanzquartiere in die Höhe schnellen und sich gleich daneben Elendsviertel ausbreiten.
Ein Begleitheft zum Buch erklärt die Umstände, unter denen die Fotografien entstanden, und skizziert die politischen Ursachen des Elends – zum Beispiel die Landlosigkeit der Armen Südamerikas, wo wenige reiche Familien und Firmen den Boden unter sich aufteilen.
Lager hinter Stacheldraht und Betontürmen
Sebastião Salgado kennt das Leben als Migrant aus eigener Erfahrung: Schon als Kind zog er mit seinen Eltern in Brasilien vom Land in die Stadt; später ließ er sich in Europa nieder. Seine Fotografien führen die globale Massivität der Wanderungsbewegungen und deren unerbittliche Härte schonungslos vor Augen.
Wer sich diese Fotografien zumutet, begreift unmittelbar: Der Westen wird sich auf Dauer dem Elend der armen Länder, den unser Reichtum mit verursacht hat, nicht verschließen können. Niemand macht eine solche Flucht freiwillig mit. Alle diese Menschen sind arm und entrechtet: Der einbeinige Mann auf der Ladefläche eines Frachtzuges, der durch einen Schlitz in der Waggontür etwas frische Luft zu erhaschen versucht. Die vietnamesischen Kinder hinter Türmen von Stacheldraht und Beton in einem trostlosen chinesischen Lager. In dem sie leben, seit sie denken können.
Alle Menschen im Exil und auf der Flucht, betont Sebastião Salgado, verdienen Respekt: "Jeder ist ein unverzichtbarer Teil unserer Geschichte."