Sechs Geschichten, sechs Helden
Susanne Röckels "Vergessene Museen" geht um sechs miteinander verwandte Geschichten mit sechs fragewürdigen Helden. Stets kommen Museen darin vor. Es ist ein Erzählband, der es in sich hat.
Dieser Erzählband hat es in sich. Geschrieben in einer Sprache von nahezu klassischer Eleganz, führt er den Leser sechsmal schleichend fort vom stabilen Boden, hinein in unheimliches Gelände, wo die Koordinaten des zivilisierten Lebens sich auflösen und namenlose Abgründe einen Sog auf Menschen ausüben, die zuvor befestigte Existenzen schienen. Auch wenn die 1953 geborene Susanne Röckel keine Jungautorin mehr ist und bereits auf eine Reihe von Veröffentlichungen zurückblicken kann: Dieses Buch ist eine Entdeckung.
"Vergessene Museen" - ein klangvoll-poetischer und spannungsreicher Titel. Denn Museen sind Orte der bewahrten Erinnerung, und wenn sie selbst der Erinnerung verloren gehen, so handelt es sich offenbar um potenziertes Vergessen. Das doppelt und dreifach Vergessene ist denn auch das Thema Röckels: merkwürdige Kulte und Mythen, archaische Schrecken und Albträume brechen ein in die helle Tageswelt.
Da stranden ein paar erschöpfte Rucksacktouristen in "Loon Bay", einem unwirtlichen, windschiefen, aus allen Reiseführern gefallenen Kaff irgendwo am Rand der Arktis. Es gibt nur eine Kneipe mit dämmernden Gestalten und ein Museum, dessen Schauwerte sich auf alte Harpunen und Angelhaken zu beschränken scheinen. Dann aber entdecken die Reisenden ein paar vergilbte, nie abgeschickte Briefe – vor 100 Jahren schrieb sie ein im Eis überwinternder Polarforscher namens Franz Buri an seine brave Verlobte. Bald verlieren sich die Reisenden in den Berichten Buris.
Zu lesen ist in ihnen, wie der große Entdeckerehrgeiz der Verstörung weicht. Eine abendländische Persönlichkeit löst sich auf, im frostigen Herz der Finsternis. Und auch in Buris Erinnerung an die geordneten Verhältnisse daheim schleicht sich der Wahn ein, wenn etwa der autoritäre Schwiegervater dem Polarreisenden selbst wie eine finstere Gottheit erscheint: "O Herr Schwiegervater! Wir kriechen im Staub vor Dir, beten Dich an und empfangen demütig die Gaben aus Deiner Hand!"
In "Die Erlösten" geht auf einer Osteuroparoute ein Lastwagenfahrer mit seinem Fahrzeug verloren. Wer sich jedoch auf die Spuren des Verschollenen macht, gerät selbst in den Bann des Schreckens. Das namenlose Dorf, wo der Mann zuletzt gesehen wurde, erweist sich als böse verwunschenes Gelände. Längst vergangene Geschehnisse melden sich hier zurück, Weltkriegsschrecken ebenso wie die grässlichen Riten einer Sektierergruppe aus dem 17. Jahrhundert.
In "Miljenik" bekommen wir es mit dem pensionierten Gefängniswärter Hans Strubel zu tun, der dem Ort seines Wirkens treu bleibt, indem er ein anstaltseigenes Museum aufbaut, eine Art Kuriositätenkabinett, wo die selbstgebastelten Hilfsmittel der Gefangenen bei Ausbruchsversuchen ausgestellt werden. Darüber kommt die Geschichte einer spektakulären Flucht in Gang. Von drei jugoslawischen Brüdern ist die Rede, die ebenfalls eine Rückkehr in archaische Zustände erlebten: im Bürgerkrieg der neunziger Jahre, wo aus gewöhnlichen Kleinkriminellen vaterländisch beseelte Massenmörder wurden.
Es gelingt der Geschichte, den Sog zu zeigen, der von der Kriegswirklichkeit auch auf die Menschen fern vom Schuss ausgeht; eindrucksvoll werden die verwüsteten Regionen beschrieben. Es ist harter Realismus, den Röckel zugleich doppelt und dreifach mythisch unterfüttert, wie auch in der faszinierenden Geschichte "Carla Lacerta" aus einer lateinamerikanisch anmutenden Diktatur. Eine Gruppe junger Leute aus verschonten Kreisen gerät hier in den Strudel revolutionärer Ereignisse, deren ebenso beklemmende wie befreiende Atmosphäre grandios vermittelt wird. Sie geraten in die Fänge des Geheimdienstes; aber was sie in den unterirdischen Folterkammern des Regimes erleben, erweist sich als Reflex viel älterer mythischer Zeremonien.
Wie eine Infektion kommt der Virus der Unwirklichkeit über Röckels Figuren und entrückt sie ihrem eingespurten Alltag: "Seit Wochen gelinge es ihm nicht mehr, an die Dinge zu glauben, die sein Leben ausmachten. Es komme ihm vor, als wäre er Darsteller in einem Film, als würde er von unbekannten Kräften gelenkt. Alles sei starr und leer, leblos, bis ins kleinste von etwas Schrecklichem, Namenlosen beherrscht, das Ende unausweichlich." So könnten alle Hauptfiguren dieser Erzählungen sprechen.
Röckels Geschichten bieten jedoch keine auflösbaren Allegorien, vieles bleibt rätselhaft, auch wenn die Sprache sich nie im Nebulösen verliert. Im Gegenteil: Die Autorin stellt lupenscharfe Formulierungskraft unter Beweis, ihre kunstvoll geschriebene Prosa verfügt zudem über komische Untertöne, die im Kontrast zu den düsteren Mythisierungen stehen.
Es sind keine beiläufigen kafkaesken Metamorphosen, die sich in diesen Geschichten ereignen, eher denkt man an die Schrecken aus der Tiefe bei Lovecraft oder Poe. Und an die Lust, mit der Borges metaphysische Geheimlehren und Hinterwelten inszeniert – nicht gerade Traditionslinien, die man bei einer deutschen Gegenwartsautorin erwarten würde. Und deshalb um so bemerkenswerter. Röckels Museen der Angst sind ein literarisches Ereignis.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Susanne Röckel: Vergessene Museen. Erzählungen
Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2009
306 Seiten, 28 Euro
"Vergessene Museen" - ein klangvoll-poetischer und spannungsreicher Titel. Denn Museen sind Orte der bewahrten Erinnerung, und wenn sie selbst der Erinnerung verloren gehen, so handelt es sich offenbar um potenziertes Vergessen. Das doppelt und dreifach Vergessene ist denn auch das Thema Röckels: merkwürdige Kulte und Mythen, archaische Schrecken und Albträume brechen ein in die helle Tageswelt.
Da stranden ein paar erschöpfte Rucksacktouristen in "Loon Bay", einem unwirtlichen, windschiefen, aus allen Reiseführern gefallenen Kaff irgendwo am Rand der Arktis. Es gibt nur eine Kneipe mit dämmernden Gestalten und ein Museum, dessen Schauwerte sich auf alte Harpunen und Angelhaken zu beschränken scheinen. Dann aber entdecken die Reisenden ein paar vergilbte, nie abgeschickte Briefe – vor 100 Jahren schrieb sie ein im Eis überwinternder Polarforscher namens Franz Buri an seine brave Verlobte. Bald verlieren sich die Reisenden in den Berichten Buris.
Zu lesen ist in ihnen, wie der große Entdeckerehrgeiz der Verstörung weicht. Eine abendländische Persönlichkeit löst sich auf, im frostigen Herz der Finsternis. Und auch in Buris Erinnerung an die geordneten Verhältnisse daheim schleicht sich der Wahn ein, wenn etwa der autoritäre Schwiegervater dem Polarreisenden selbst wie eine finstere Gottheit erscheint: "O Herr Schwiegervater! Wir kriechen im Staub vor Dir, beten Dich an und empfangen demütig die Gaben aus Deiner Hand!"
In "Die Erlösten" geht auf einer Osteuroparoute ein Lastwagenfahrer mit seinem Fahrzeug verloren. Wer sich jedoch auf die Spuren des Verschollenen macht, gerät selbst in den Bann des Schreckens. Das namenlose Dorf, wo der Mann zuletzt gesehen wurde, erweist sich als böse verwunschenes Gelände. Längst vergangene Geschehnisse melden sich hier zurück, Weltkriegsschrecken ebenso wie die grässlichen Riten einer Sektierergruppe aus dem 17. Jahrhundert.
In "Miljenik" bekommen wir es mit dem pensionierten Gefängniswärter Hans Strubel zu tun, der dem Ort seines Wirkens treu bleibt, indem er ein anstaltseigenes Museum aufbaut, eine Art Kuriositätenkabinett, wo die selbstgebastelten Hilfsmittel der Gefangenen bei Ausbruchsversuchen ausgestellt werden. Darüber kommt die Geschichte einer spektakulären Flucht in Gang. Von drei jugoslawischen Brüdern ist die Rede, die ebenfalls eine Rückkehr in archaische Zustände erlebten: im Bürgerkrieg der neunziger Jahre, wo aus gewöhnlichen Kleinkriminellen vaterländisch beseelte Massenmörder wurden.
Es gelingt der Geschichte, den Sog zu zeigen, der von der Kriegswirklichkeit auch auf die Menschen fern vom Schuss ausgeht; eindrucksvoll werden die verwüsteten Regionen beschrieben. Es ist harter Realismus, den Röckel zugleich doppelt und dreifach mythisch unterfüttert, wie auch in der faszinierenden Geschichte "Carla Lacerta" aus einer lateinamerikanisch anmutenden Diktatur. Eine Gruppe junger Leute aus verschonten Kreisen gerät hier in den Strudel revolutionärer Ereignisse, deren ebenso beklemmende wie befreiende Atmosphäre grandios vermittelt wird. Sie geraten in die Fänge des Geheimdienstes; aber was sie in den unterirdischen Folterkammern des Regimes erleben, erweist sich als Reflex viel älterer mythischer Zeremonien.
Wie eine Infektion kommt der Virus der Unwirklichkeit über Röckels Figuren und entrückt sie ihrem eingespurten Alltag: "Seit Wochen gelinge es ihm nicht mehr, an die Dinge zu glauben, die sein Leben ausmachten. Es komme ihm vor, als wäre er Darsteller in einem Film, als würde er von unbekannten Kräften gelenkt. Alles sei starr und leer, leblos, bis ins kleinste von etwas Schrecklichem, Namenlosen beherrscht, das Ende unausweichlich." So könnten alle Hauptfiguren dieser Erzählungen sprechen.
Röckels Geschichten bieten jedoch keine auflösbaren Allegorien, vieles bleibt rätselhaft, auch wenn die Sprache sich nie im Nebulösen verliert. Im Gegenteil: Die Autorin stellt lupenscharfe Formulierungskraft unter Beweis, ihre kunstvoll geschriebene Prosa verfügt zudem über komische Untertöne, die im Kontrast zu den düsteren Mythisierungen stehen.
Es sind keine beiläufigen kafkaesken Metamorphosen, die sich in diesen Geschichten ereignen, eher denkt man an die Schrecken aus der Tiefe bei Lovecraft oder Poe. Und an die Lust, mit der Borges metaphysische Geheimlehren und Hinterwelten inszeniert – nicht gerade Traditionslinien, die man bei einer deutschen Gegenwartsautorin erwarten würde. Und deshalb um so bemerkenswerter. Röckels Museen der Angst sind ein literarisches Ereignis.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Susanne Röckel: Vergessene Museen. Erzählungen
Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2009
306 Seiten, 28 Euro