Sechs Monate mit zwei Klimaaktivisten

Plötzlich politisch

29:23 Minuten
Fridays For Future: Demonstration für den Klimaschutz am 22.11.2019 in Hamburg.
Ein Jahr Protest: Am 22. November sind wieder zahlreiche junge Menschen in Hamburg im Zuge von Fridays For Future auf die Straße gegangen. © imago / Jannis Große
Von Axel Schröder |
Audio herunterladen
Julia und Kristjan sind Teil der Fridays for Future-Bewegung. Beide sind fast über Nacht politisiert worden und versuchen jetzt, den Spagat zwischen Ausbildung und Aktivismus hinzubekommen. Wie weit würden sie für mehr Klimaschutz gehen?
Es ist Freitag und die Erde brennt, rote Flammen schlagen aus der Weltkugel. Mitte Mai bemalen zwei Dutzend Jugendliche das Kopfsteinpflaster auf dem Hamburger Uni-Campus mit bunter Kreide, schneidern Transparente aus alten Laken, entwerfen Protestplakate.
Kristjan sitzt im Schneidersitz auf dem Pflaster. Blonder Kurzhaarschnitt, Halstuch, nackte Füße. Neben ihm, einen Pinsel in der Hand, arbeitet Julia an ihrem Plakat, langes braunes Haar, zum Zopf gebunden.
"Ich mal ein Plakat, da steht drauf: 'Niemand hat die Absicht, Euch die Zukunft zu verbauen!'. Denn ich finde es so absurd, was so geredet wird von wegen: 'Ja, ist alles super! Wir halten unsere Klimaziele ein!' – Also entweder wissen Entscheidungsträger einfach nicht Bescheid, was wirklich auf dem Spiel steht. Oder sie handeln halt trotzdem gegen den gesunden Menschenverstand. Und ich weiß nicht, was ich erschreckender finde."

Im Dezember 2018 meldet Julia ihre erste Demo an

Julia ist 17, Kristjan schon 22 Jahre alt. Beide sind Teil der noch jungen, aber unglaublich erfolgreichen Hamburger Fridays for Future-Bewegung. Julia geht noch zur Schule und macht nächstes Jahr Abitur. Den Stoff, den sie freitags verpasst, holt sie auf eigene Faust nach. Kristjan studiert Elektrotechnik an der Technischen Universität. Und beide erleben wie im Zeitraffer, wie ihre Bewegung wächst. Im Dezember 2018 meldet Julia ihre erste Demo an.
"So 50 ungefähr. Ich hab, glaube ich, 15 angemeldet und war schon richtig begeistert, dass da so viele Leute aufgetaucht sind. Und als wir dann das nächste Mal auf dem Rathausmarkt waren, waren wir fast 2000! Das war schon ein tolles Gefühl! Und am 15. März haben wir dann die 10.000 nicht ganz geknackt. Aber 10.000 waren es schon."
Der 15. März, ein Freitag, gibt der Hamburger Fridays for Future-Bewegung einen besonderen Schub. Trotz frostiger Kälte ist der Gänsemarkt schon morgens früh um acht rappelvoll. Schülerinnen und Schüler, dick eingepackt, halten ihre Schilder hoch, können es kaum erwarten, loszulaufen. Alle wissen: Heute ist Greta Thunberg in der Stadt. Die Schwedin, die für die Schülerschaft Vorbild ist, deren damals noch einsamer Klimastreik in Stockholm junge Menschen auf der ganzen Welt politisch aufgeweckt hat. An diesem Freitag zeigt sich: Die jungen Leute sind nicht allein. Im Demozug marschieren auch einige Eltern und Großeltern mit.
"Ich bin total beeindruckt von der Greta Thunberg und von diesem ganzen Protest. Ich finde das sensationell, dass die jungen Leute für ihre Zukunft streiten!"
Dass die Kinder und Jugendlichen für ihren Protest die Schule schwänzen, sei völlig ok, erklärt die ältere Dame. Eine bessere Schule für’s Leben könne es doch gar nicht geben.

Greta spricht nur kurz – die Schüler sind begeistert

Der Demozug setzt sich in Bewegung. Es geht einmal um die Binnenalster, über die Kennedy-Brücke, dann durch die Mönckebergstraße, zum Rathausplatz. Der ist eine Viertelstunde später brechend voll. Gefordert werden ein schneller Kohleausstieg, ein effektiver Emissionshandel, mehr Respekt vor der Natur. Die Polizei geht von 3800, die Veranstalter von 10.000 Demonstrierenden aus. Bevor Greta Thunberg auf die Bühne kommt, spielt eine Schulband, sprechen Schüler aus Pinneberg, Lüneburg und Berlin Grußworte.


Dann kommt der Redebeitrag von Greta Thunberg. Mit weißer Pudelmütze steht die Schwedin auf der Bühne, begrüßt die Schülerschaft mit einem knappen "Moin", macht klar, worum es ihr geht.
Klimaaktivistin Greta Thunberg am 1. März bei der Fridays For Future Demonstration in Hamburg. Ein Mädchen steht mit einem Mikrofon auf einer Bühne und spricht zu Demonstrierenden.  
Klimaaktivistin Greta Thunberg am 1. März bei der Fridays For Future Demonstration in Hamburg.© picture alliance / dpa / Daniel Dohlus
"The politicians and the people in power have gotten away of doing anything to fight the climate crisis. But we will make sure, that they will not get away with it for any longer. We will continue to school strike until they do something!"
Greta Thunberg hält eine kurze Rede, keine zehn Minuten. Die Schülerinnen und Schüler sind trotzdem begeistert.
"Ich finde sie mutig, dass sie das alles für uns macht! Und ich bin auch froh, dass sie sich für etwas einsetzt und ich finde es auch schön, dass so viele Leute sie unterstützen. Ich finde, sie kann stolz auf sich sein und wir auch, dass wir sie unterstützen!"

Einladung zu Markus Lanz

Zurück auf dem Uni-Campus, beim Plakatemalen, bei Kristjan und Julia, knapp zwei Monate nach Gretas Thunbergs Auftritt in Hamburg. Dass die Zahl der Klimaprotestler in so kurzer Zeit von 50 auf 10.000 angewachsen ist, macht beiden Mut.
"Ich glaube, wenn man länger dranbleibt, wenn man das jetzt noch ein halbes Jahr durchzieht – irgendwann ist die Politik gezwungen, zu reagieren. Man kann nicht jede Woche, wenn Hunderte und Tausende von Menschen auf der Straße sind, dann kann man das nicht ignorieren, als Politik einfach zuschauen. Irgendwann muss man was machen!"
Für Julia und Kristjan ist klar: Es läuft zu viel schief auf dem Globus. Die Politiker reden nur vom Klimaschutz und tun viel zu wenig.


Der Erfolg der Bewegung macht die Medien immer neugieriger. Ende März hat Julia ihren ersten großen Fernsehauftritt. Bei Markus Lanz gibt sie der FDP-Politikerin Katja Suding Kontra. Ganz unaufgeregt, in Jeans, Turnschuhen und Kapuzenjacke. Vor Publikum zu reden, fällt ihr nicht schwer, erzählt Julia auf dem Uni-Campus. Mit einer Berufspolitikerin von der FDP über Klimaschutz zu diskutieren, aber schon.
"Das Seltsamste, was ich von ihr gehört hab, war: 'Ja, aber wir können das nicht umsetzen. Die Politik kann das nicht umsetzen. Das müssen die Ingenieure machen!' Wo ich mir so denke: Wofür haben wir denn ein Parlament, wenn es keine Gesetze schreibt? Genauso wie mir ja jemand vorschreiben kann, bei Rot bleibst Du stehen und bei Grün gehst Du über die Ampel, kann mir ja jemand sagen: 'So viele Treibhausgase gehören in die Luft und dann ist Schluss!'"

Das Studium kann warten

Die Demo, für die Julia, Kristjan und ihre Mitstreiter die Plakate gemalt haben, startet am 24. Mai am Millerntor. Die Sonne scheint, immer mehr junge Menschen strömen auf die von der Polizei gesperrte Kreuzung. Ein großer Lautsprecherwagen rollt langsam in Position. Mitten im Trubel kümmert sich Julia darum, dass genügend Ordner den Zug begleiten. Hinten am Lautsprecherwagen winkt eine der Organisatorinnen. Julia muss los, mit anpacken. Mittendrin steht auch schon Kristjan neben seinen Kommilitonen. Vor sich ein breites Transparent aus einem alten, weißen Bettlaken.
"Wir haben jetzt die letzten vier, fünf Tage noch plakatiert und geflyert überall. Und ich war an drei von fünf Tagen dabei. War schon viel zu tun."
"Das mit der Regelstudienzeit war, glaube ich, sowieso schon durch, oder?"
Kristjan lacht, schüttelt den Kopf. Für ihn ist klar: Im Moment steht sein Klimaprotest ganz oben. Ganz egal, ob er am Ende zwei, drei Semester länger studieren muss als geplant.
Nur im Demozug durch die Innenstadt zu laufen, unter dem Dach von Fridays for Future? Kristjan reicht das nicht. Also steht der Student im Sommer an einer Straßenkreuzung in Hamburg-Harburg, ganz in der Nähe seiner Uni. Etwa zwei Dutzend Aktivisten von Extinction Rebellion, zu deutsch etwa "Rebellion gegen das Aussterben", wollen einen Nachmittag lang mit einer Aktion im Straßenraum auf ihre Anliegen aufmerksam machen. Ein kleiner Mannschaftswagen der Polizei ist vor Ort.


Die Ampel springt auf Grün für die Fußgänger, schon macht sich der kleine Trupp auf den Weg, versperrt die Fahrbahn. Vier Aktivistinnen und Aktivisten gehen von Auto zu Auto, bieten ihre Kekse an, verteilen ihre Flugblätter durch die heruntergelassenen Fenster. Ganz vorn hält ein Protestierer sein Schild in die Höhe: "Noch fünf Minuten!" Die Reaktionen fallen ganz unterschiedlich aus.
Straßenblockade der Klimabewegung Extinction Rebellion im Sommer 2019 in Hamburg. Menschen blockieren mit Plakaten in der Hand eine Straße. 
Kristjan (r) bei der Straßenblockade der Klimabewegung Extinction Rebellion im Sommer 2019 in Hamburg.© Deutschlandradio / Axel Schröder
Nach fünf Minuten ist die Aktion vorbei, der Verkehr rollt wieder. Am Straßenrand steht Kristjan, sehr zufrieden mit der Aktion. Gegründet wurde Extinction Rebellion im Mai 2018 von britischen Aktivisten. Kristjan erklärt, warum ihn gerade deren Protest-Philosophie so begeistert.

Kritik von den Großeltern

"Ich glaube, das waren vier Leute, die das gegründet haben. Die haben halt drei Jahre lang recherchiert, sich mit Bewegungen auseinandergesetzt, die ganzen Regeln aufgestellt, mehrere Handbücher geschrieben, wie man so was alles aufbaut. Das ist halt ganz angenehm, dass man einfach quasi Teil davon wird und schon Strukturen da sind, weil die sich schon ausgedacht wurden. Und bei Fridays for Future ist halt das Spannende, dass man da halt diese Strukturen selber aufbauen muss und sich selber Gedanken darüber machen muss. Was natürlich auch anstrengend ist, weil es kräftezehrender ist als quasi aufgenommen zu werden."
Zu den Regeln von Extinction Rebellion gehören das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit, die Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam, dazu, zu den eigenen Aktionen zu stehen, Gesicht zu zeigen. Auch wenn sein Protest strikt gewaltfrei abläuft, auch wenn die Aktion in Harburg angemeldet, unter den Augen der Polizei ablief – Kristjan muss sich dafür scharfe Kritik anhören. Ausgerechnet von seinen Großeltern, die ihn, sagt Kristjan, erst zu einem politisch denkenden Menschen gemacht haben.

Die beiden leben in Hamburg-Bergedorf, ernähren sich vegetarisch, haben schon vor Jahren ihr Auto verkauft und erfreuen sich am Wildwuchs, an den Vögeln in ihrem Garten. Bevor Kristjan in sein Studentenzimmer zog, hat er einige Jahre mit ihnen zusammen im Einfamilienhaus gelebt. Auf dem Esstisch stehen Kaffee und Kuchen bereit. Und die Debatte über das Für und Wider von Kristjans Protest lässt nicht lange auf sich warten.
Oma: "Sitzblockaden und sich wegtragen lassen, finde ich nicht ok. Eine Sitzblockade machte er zur gleichen Zeit, als unsere Tochter ein Kind kriegte, wirklich in der Entbindung stand. Und ich hab zu ihm gesagt: 'So, jetzt kann die Hebamme nicht zu Dagmar kommen! Weil Du auf der Straße sitzt! Findest Du das ok?`"
Kristjan: "Ich halte zivilen Ungehorsam, also das Blockieren von Straßen und anderen Zufahrtswegen für legitim, weil halt die Sache das erfordert! Und es geht ja auch darum: Mit Demonstrationen erreicht man nicht so viel Aufmerksamkeit, wie wenn Du Leute blockierst!"
Oma: "Ich bin generell nicht der Meinung, dass sich jeder seine eigenen Regeln machen kann. Zumindest nicht in einer Demokratie. Und wenn wir damit nicht mehr einverstanden sind, müssen wir andere Gesetze machen. Aber solange es diese Gesetze gibt, müssen sich dran halten und ich kann nicht sagen, um des guten Zwecks Willen, mache ich das nicht."

Wieviel ziviler Ungehorsam ist erlaubt?

Was aber tun, wenn die Regierung sich nicht die Regeln hält, fragt Kristjan. Wenn die im Pariser Abkommen vereinbarten Klimaziele nicht eingehalten werden? Dann müssen, findet er, von den Klimaaktivisten auch Grenzen überschritten werden. Klar ist dabei: Für all seine Aktionen gelten klare, nicht verhandelbare Grenzen.
"Infrastruktur beschädigen, oder allgemein: Irgendwelche Gegenstände beschädigen oder irgendwelche Läden oder was auch immer, oder Menschen verletzen, das ist die Grenze. Das würde ich nie tun. Ist einfach völliger Schwachsinn, Gewalt anzuwenden. Das funktioniert nicht."
Kristjans Großmutter nickt. Und macht dann noch einen Vorschlag, der vielen jungen Protestierern vermutlich kaum gefallen wird.
"Fridays for Future könnte zum Beispiel sagen: 'Wir machen ein Wochenende lang keinen Handyverkehr!' Was das an Strom sparen würde! Das ist bestimmt schon messbar! Aber das ist eine Einschränkung. Und diese Menschen heute sind nicht mehr bereit, sich einzuschränken."
Kistjan verschränkt die Arme vor der Brust, grinst und verweist auf seine vegane Ernährung, darauf, dass er bewusst keinen Führerschein macht und alle Wege mit Bus oder Bahn, mit dem Fahrrad zurücklegt. Die Debatten mit seinen Großeltern werden weitergehen.
Julia steht vor einem der Tagungsräume im Hotelhochhaus am Dammtor-Bahnhof. Inzwischen ist es Mitte Juni. Überall diskutieren die Besucher der Konferenz, auf der sich alles um Protestbewegungen dreht. Trinken Kaffee im Stehen, suchen im Programmheft nach der nächsten spannenden Debatte. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat die Aktivistin eingeladen. Julia soll unter dem Titel "Nur noch kurz die Welt retten…" zusammen mit Mitstreiterinnen aus ganz Deutschland über ihre Eindrücke von den Klimaprotesten berichten.
"Ist das so, dass Du jetzt viel auf solchen Podien sitzt?"
"Ach, ich weiß es ehrlich gesagt gar nicht. Es passieren gerade so viele Sachen auf einmal, dass ich da so gar nicht mehr richtig ein Gefühl für habe. Das letzte halbe Jahr ist einfach so schnell vorbeigegangen! Aber es ist ganz cool so, andere Leute, die was organisieren kennenzulernen und sich auszutauschen. Wie funktioniert das, was machen die so und so weiter."

Julia und die Elemente

Mitgekommen zur Tagung ist auch Julias Mutter. Eigentlich, sagt sie, möchte sie gar nicht viel zum Engagement ihrer Tochter sagen. Das spreche doch für sich. In einem noch leeren Konferenzraum erzählt sie, wie sie als Mutter Julias Auftritte erlebt. Drückt sie die Daumen, wenn ihre Tochter beim Talk bei Markus Lanz sitzt?
"Das ist eigentlich ambivalent. Natürlich sehe ich auf der einen Seite unsere Tochter und freue mich, dass sie so engagiert und auch so gefestigt ist in der Sache, die sie vertritt. Ansonsten bin ich sehr zuversichtlich, dass sie ihre Sache macht und kann und versuche da einfach Zuversicht auszustrahlen. Ich finde das toll und wir unterstützen das!"


Aber woher kommt der Antrieb ihrer Tochter, sich für den Klimaschutz, gegen die Zerstörung der Umwelt einzusetzen? Eine klare, einfache Antwort auf die Frage gibt es nicht, sagt Julias Mutter. Vielleicht waren es die Urlaube der Familie, die Naturverbundenheit der Eltern.
Demonstration von Fridays for Future im März 2019 in Hamburg. Junge Menschen halten Plakate in die Luft.
Demonstration von Fridays for Future im März 2019 in Hamburg.© imago images / Chris Emil Janßen
"Ich glaube, ganz viel kommt auch daher, die Natur einfach mal erlebt zu haben, vielleicht auch als kleineres Kind die Gelegenheit gehabt zu haben, einfach Draußen zu sein und ein Bewusstsein dafür zu bekommen, wie schön Natur ist, wie großartig. Und mit den Elementen mal umgegangen zu sein."
Der Saal ist voll, rund 80 Menschen hören zu. Zum Einstieg will der Moderator von Julia wissen, was sie von den oft quälend langen Entscheidungsprozessen in Bundestag und Landtagen hält, davon, dass dabei oft nur der kleinste gemeinsame Nenner auf dem Weg zu einem effektiven Klimaschutz gefunden werden kann.
"Wie lange wollt Ihr das aushalten? Glaubt Ihr, Ihr erlebt es noch?"
"Ich finde, Klimaschutz ist einfach etwas, was wir nicht verhandeln können. Wissenschaftliche Fakten sind nichts, was wir verhandeln können. Das funktioniert halt nicht so, dass die Kohlelobby sagt: ‚Wir würden hier gerne noch bis 2080 das Kraftwerk anlassen‘. Und die Wissenschaft sagt: ‚2030 ist der allerletzte Moment, das Kraftwerk abzuschalten oder wir gehen hier alle baden!‘ – Dann kann man nicht sagen: ‚Wir nehmen die Mitte!‘ Ich glaube, wer das sagt, hat irgendwie noch nicht so wirklich verstanden, worum es geht."

"Wie können wir noch mehr nerven?"

Aber wie soll die Bewegung wachsen?, will der Moderator wissen. Die letzte Demonstration von 10.000 Schülerinnen und Schülern war zwar eindrucksvoll. Mehr Erwachsene und auch die Scientists for Future waren dabei. Aber wie sollen noch mehr Verbündete gewonnen werden?
"Es ist tatsächlich so, dass wir schon auch zumindest hier in Hamburg auf jeden Fall mit anderen Gruppen aus der Klimabewegung im Austausch stehen und uns ganz gut verstehen."
…und natürlich werde darüber gesprochen, gemeinsame Aktionen auf die Beine zu stellen, erklärt Julia. Und auch innerhalb der Fridays for Future-Aktivisten-Szene wird diskutiert, wie der Schwung der Bewegung erhalten bleiben kann. Auch über die Sommerferien hinaus. Die Strategie ist einfach: Der Druck auf die Politik muss steigen.
"Klar! Wie können wir noch mehr nerven? Streikt man vielleicht mal eine ganze Woche? Oder haben nicht auch mal arbeitende Menschen Lust, sich dem Streik anzuschließen? Und ansonsten, denke ich, sehen wir uns auch ein bisschen mehr als den Einstieg für Leute, die sich dann vielleicht noch weiter woanders engagieren bei Bewegungen, die zum Beispiel wie ’Ende Gelände‘ vielleicht Kohleinfrastruktur blockieren."
Die Ende Gelände-Aktivistinnen legen mit ihren gewaltfreien Aktionen seit 2015 immer wieder Kohlegruben still. Und weil dabei auch Mitglieder der radikalen Interventionistischen Linken mitmachen, taucht Ende Gelände auch in den Berichten des Bundesamts für Verfassungsschutz auf.

Immer nur Schule schwänzen reicht nicht mehr

Nach der Veranstaltung steht Julia noch mit ihren Mitdiskutanten zusammen, knüpfte Kontakte, lässt sich erklären, wie andernorts politischer Protest organisiert wird. Draußen auf dem Gang des Tagungshotels ist auch Dieter Rucht unterwegs. Der Soziologie-Professor aus Berlin, Spezialgebiet: "Soziale Bewegungen und politischer Protest" muss eigentlich zum Zug, zurück in die Hauptstadt, aber es bleibt noch Zeit für ein kurzes Interview. Gab es in der Geschichte der Bundesrepublik schon einmal eine ähnlich breite Jugendbewegung?


"Ähnlich breit nicht. Es gab schon Demonstrationen, Kampagnen, die gut bestückt waren mit Jugendlichen: Irak-Krieg 1991. Es gibt in den USA die Jugendlichen-Bewegung gegen die Waffengesetze in den USA und ´s gab immer mal wieder Einzelproteste, wo Jugendliche stärker vertreten waren. Aber sozusagen als reine Form, die auch getragen wird von sehr jungen Leuten, ist es eigentlich schon neu."
Fridays for Future: Schülerinnen und Schüler demonstrieren im Mai 2019 in Hamburg für den Klimaschutz. 
Und wieder auf der Straße: Schülerinnen und Schüler demonstrieren im Mai in Hamburg.© picture alliance/dpa/Daniel Bockwoldt
Aber die jungen Klimaschützer müssten sich etwas Neues einfallen lassen. Immer nur die Schule zu schwänzen, wird auf Dauer zum Ritual. Die Medien würden sich schnell abwenden, glaubt Rucht, das Interesse zurückgehen.
"Eine Möglichkeit wäre, dass sie auch offensiver werden. Es ginge dann in Richtung ziviler Ungehorsam – in welcher Form auch immer –, der definitionsgemäß strikt gewaltfrei ist. Aber es ist ein sehr, sehr heikles Thema. Denn da kann man eigentlich nicht die gesamte Öffentlichkeit dafür gewinnen. Man spaltet vielleicht auch Teile der Bewegung, die sagen: ‚Das geht mir zu weit!‘ Es könnte funktionieren, aber da gibt es keine Garantie."
Dieter Rucht schaut auf die Uhr. Höchste Zeit. Den ICE nach Berlin will er nicht verpassen.

24 Stunden am Tag mit Protest beschäftigt

Um 7.47 Uhr an einem Montag im September schickt Kristjan eine SMS. In einem kleinen Waldstück in Hamburg-Wilhelmsburg gibt es eine Baumbesetzung. Kristjan schickt die Koordinaten. Die Polizei ist schon vor Ort. Sperrt den Weg zum Wäldchen mit rot-weißem Flatterband ab. Schon Tage vorher hatten die Aktivisten ihr Baumaterial im Wald deponiert und dann am helllichten Tag ein erstes Baumhaus in die Wipfel gehängt. Die Polizei-Spezialtruppe für Höhenrettung ist unterwegs und Kristjan schon seit zwölf Stunden auf den Beinen. Ziemlich müde, aber voller Elan.
"Dieser ganze große Wald hier, drei Hektar groß soll gerodet werden für Wohnflächen – gegen Wohnungen haben wir nichts, deswegen sind wir nicht hier – sondern wir sind einfach dagegen, dass der Wald gerodet wird, weil auch Hamburg Grünflächen braucht und nicht alles versiegelt werden darf!"
Die Situation ist entspannt. Statt Helm tragen die Polizisten Baseballkäppis, besprechen sich mit den Protestlern, die unten geblieben sind.


Kristjan ist jetzt öfter unterwegs. Bei Aktionen, Vorgesprächen, beim Flugblattschreiben. Wieviel Stunden steckt er in den Protest? Einschließlich der ewiglangen, zähen Plenumsdiskussionen?
Mehrere zehntausend Menschen beteiligen sich am 20.9.2019 am internationalen Klimastreik in der Hansestadt Hamburg. Auf einem Plakat steht "Alle für das Klima von Hamburg bis Lima".
Internationaler Klimastreik am 20.9.2019 in Hamburg.© imago images/Michael Trammer
"Ja: 24/7 im Moment. Ich studiere quasi faktisch gar nicht. Und habe jeden Abend irgendetwas vor und dann halt mittags, nachmittags auch schon Sachen. Teilweise haben wir jetzt auch Plenum von neun bis zwölf Uhr oder so. Morgens. Eigentlich ist der Tag ganz gut gefüllt."
Mit seinen Großeltern, erzählt Kristjan, werden die Debatten nicht einfacher. Jetzt geht es nicht mehr um die grundlegenden Fragen rund um den zivilen Ungehorsam. Jetzt geht es ums Geld. Darum, dass Kristjans Eltern ihm jeden Monat Geld für’s Studieren überweisen. Während er sich ganz dem Klimaprotest widmet. Wissen seine Eltern denn Bescheid? Kristjan zögert kurz.
"Ja, ich glaube, dass sie noch nicht das Ausmaß kennen. Ab dem nächsten Semester wird das auch ein bisschen anders. Da muss ich mehr studieren, damit das wieder in die Gänge kommt."

"Man hat uns unterschätzt"

Erstmal aber ist Kristjan wieder dabei, als zwei Wochen später die bislang größte Fridays for Future-Demonstration durch die Hamburger Straßen zieht. Die Polizei zählt 70.000, die Veranstalter 100.000 Menschen. So oder so: Es ist die größte Demonstration in der Hamburger Geschichte beim größten Klimastreik weltweit. Allein in Deutschland gehen1,4 Millionen Menschen auf die Straße.
In Hamburg marschieren alle Altersgruppen zusammen. Menschen ohne und mit Protesterfahrung, aber immer mit einer Meinung zum derzeitigen Klimaschutz in Deutschland.
"Ich verstehe auch nicht, dass diese alten Politiker, ich sag mal: Diese alten Säcke – die haben doch Kinder und Enkel und Kindeskinder. Wie blind muss man sein? Oder wie verbissen muss man sein? Oder wieviel Dollarzeichen in den Augen haben? Ich weiß es nicht, was das ist."
"Ich sag mal: ‚Wir haben das versaut!‘ Und müssen sehen, dass wir die jungen Leute unterstützen!"
"Ich war in Brokdorf dabei. Ich weiß, was es heißt, gegen diese Scheiß-Staatsgewalt mal aufzustehen."
Oben auf der Bühne, die braunen Haare wie immer zum Zopf gebunden, steht Julia. Breites Lächeln im Gesicht:
"Ich kann mich noch erinnern, wie wir vor ein paar Monaten, kurz vor der Europawahl alle dahinter standen. Und wir waren 25.000 Leute und wir konnten alle überhaupt nicht glauben, was da gerade passiert ist. Das hat uns nämlich vorher niemand geglaubt. Niemand hätte geglaubt, dass überhaupt mehr als nur ein paar Handvoll Leute Gretas Aufruf folgen. Und dass wir dann hunderte, tausende, zehntausende Leute auf der Straße werden. Man hat uns nämlich unterschätzt."
Und vielleicht unterschätzt die Politik die Beharrlichkeit der Jugend noch immer. Solange die Regierungen nur sehr teure, aber kaum wirksame Klimapakete auf den Weg bringen, werden die Proteste weitergehen. Julia und Kristjan sind dabei.
Mehr zum Thema