Janine Bahn-van Gemmert führt durch die Ausstellung in ihrem Robbenzentrum auf Föhr. Die Tierärztin zeigt hier, wie Seehunde und Kegelrobben in der Nordsee leben und welchen Gefahren sie ausgesetzt sind.
Die zierliche Frau Mitte 50 hat sich ganz dem Tierschutz verschrieben. Sie sammelt kranke und verletzte Seehunde ein und pflegt sie in einem abseits gelegenen Raum im Robbenzentrum gesund. Darin sind vier Aufzuchtbecken mit je einer Liegefläche.
„Die kann man ausdehnen, indem man eine Abdeckung über den sogenannten Pool packt. Da kommt der Seehund in der Regel zuerst hin, wenn es ihm nicht gut geht oder wenn er sehr klein ist. Denn viele sind dann auch unterkühlt. Und dann haben wir ein Becken, damit der Seehund auch dran gewöhnt wird, ins Wasser zu gehen.“
Lachsemulsion für die Gesundheit
Mit einer Wathose, Überziehern für die Schuhe und Gummihandschuhen betritt die Tierärztin zusammen mit einem Mitarbeiter den Aufzuchtraum. Dort befindet sich ein junger Seehund, den Janine Bahr-van Gemmert und ihre Helfer eingesammelt und in die Station gebracht haben. Er bekommt mehrmals täglich aufgetauten Fisch. Außerdem wird ihm über einen Schlauch eine Lachsemulsion und Medizin gegen die Lungenwürmer verabreicht.
Janine Bahr-van Gemmert bugsiert mithilfe ihres Kollegen den Seehund auf eine Waage. Das Tier wehrt sich und schnappt nach ihr – Seehunde sind Raubtiere.
Nach dem Wiegen kniet sie sich rittlings über der Robbe, um sie zu fixieren. Dann führt sie einen Schlauch in den Hals des Tiers ein, durch einen Trichter fließt jetzt die mit der Entwurmungskur versetzte Lachs-Emulsion direkt in den Magen.
Der Seehund wehrt sich – ein gutes Zeichen
Am Ende der Prozedur ist die Tierärztin zufrieden: Dass der Seehund sich nach Kräften gewehrt habe, sei ein gutes Zeichen, sagt sie.
„Man muss ein bisschen aufpassen. Das ist ein riesiger Unterschied zu den Heulern, die noch nicht diese Zähne haben. Aber im Grunde ist das ein total gutes Gefühl, wenn der sich wehrt und er Distanz hat, das braucht er draußen auch wieder. Am Anfang ist man reingegangen, der hat überhaupt nicht reagiert, und das ist mal gerade so eine Woche her. Von daher muss ich sagen, ist es wirklich schön anzusehen.“
Hilfe für Robben in Not bietet die Auffangstation auf der Insel Föhr.© Deutschlandradio / Jörn Schaar
Allerdings: Das, was sie hier macht, darf sie eigentlich gar nicht, es wird vom Land lediglich geduldet. Zuständig für hilflose und kranke Robben sind allein die vom Land bestellten Seehundjäger und die
Seehundstation in Friedrichskoog in Dithmarschen.
Zum Auswildern nach Friedrichskoog
Dort muss Janine Bahr-van Gemmert die Seehunde eigentlich spätestens nach 24 Stunden abgeben. Diese Frist überschreitet die Föhrer Tierärztin regelmäßig, weil die Tiere nach ihrer Einschätzung oft so geschwächt sind, dass sie die Fahrt nicht überleben würden.
Der Seehund in ihrem Aufzuchtbecken lebt zum Zeitpunkt unseres Gesprächs bereits eine Woche dort. Sie wird ihn einige Tage später zum Auswildern zur Seehundstation nach Friedrichskoog fahren. Von Wyk auf Föhr aus ist das eine dreistündige Autofahrt.
„Für uns ein unnötiger Stress, wo wir immer sagen, das wäre absolut vermeidbar. Aber wir werden wirklich gezwungen, das so zu tun. Das finde ich immer schade. Aber okay, wir machen das, auch weil wir den Tieren weiterhin helfen wollen. Aber an dem System muss ganz viel verändert werden.“
Seehundjäger sollen nicht alleine entscheiden dürfen
Mit „System“ meint sie die gesetzlichen Vorgaben des Landes. Ein Seehundjäger hätte das Tier vermutlich erlöst, denkt sie. Mit einer Petition will Janine Bahr-van Gemmert erreichen, dass nicht mehr nur allein Seehundjäger entscheiden dürfen, ob ein Seehund überlebt oder nicht.
Eine angestellte Tierarzthelferin darf kein Tier euthanasieren, aber ein Seehundjäger ist berechtigt, ein Tier zu töten, nur weil es sich ‚Wildtier‘ nennt oder ‚jagdbares Wild‘. Ich finde, da muss mal ordentlich was geschehen, und die Seehundpolitik, das Seehundmanagement in Schleswig-Holstein muss wirklich überdacht werden.
Janine Bahr-van Gemmert, Tierärztin auf Föhr
Janine Bahr-van Gemmert bestreitet, dass die Ausbildung der Seehundjäger wirklich ausreicht. Mit Mühe habe sie sich das Programm einer Seehundjäger-Schulung erstritten. Sie ist der Meinung, dass Seehundjäger nicht qualifiziert genug seien, um über Leben und Tod einer Robbe zu entscheiden, und findet die bisherige vierstündige Schulung unzureichend: ein bisschen Kaffee trinken, einen Vortrag hören und vielleicht mal einer Robben-Obduktion beiwohnen.
Sie fragt sich: „Was ist daran eine Fortbildung und Qualifikation, um den Gesundheitszustand eines Tieres festzustellen?“
Heger statt Jäger
Diese Frage beantwortet jemand auf dem Festland, der es wissen muss: Armin Jeß arbeitet bei der Nationalparkverwaltung im Robbenmanagement und koordiniert dort die Seehundjäger und ihre Ausbildung. Im Ehrenamt ist er selbst Seehundjäger. Den Begriff findet er aber missverständlich.
„Früher gab es eine Jagd auf Seehund. Der Seehund ist aber seit 1974 geschont, das heißt, es findet keine Jagd mehr statt. Der Name ist aber beibehalten worden, die Seehundjäger machen heute Hege. Sie kümmern sich um die Seehunde, die sie an den Küsten hier finden.“
Pflichtfortbildung für Seehundjäger
Armin Jeß sagt: „Auch ein Tierarzt wird nicht in Meeressäugern geschult im Rahmen seines Studiums und deshalb haben wir diese Spezialschulung, wo wir alle Einzelfragen, die es dann so gibt, Jahr für Jahr schulen: Transportfragen, wir haben viele Lungenwurmfälle, das heißt, es gibt immer jedes Jahr zu einem Thema eine Fortbildung unter dem Motto 'Heute gucken wir uns mal den Ernährungszustand an'."
Für die Seehundjäger ist die Teilnahme an den Fortbildungen Pflicht. Dabei lernen sie etwa, typische Krankheitsbilder zu erkennen oder worauf es im Umgang mit den Tieren ankommt.
Werden sie zu einem Tier gerufen, bringen sie es in die Seehundstation Friedrichskoog, wo es aufgepäppelt und ausgewildert wird. Einige Tiere müssten allerdings auch erlöst werden, weil sie zu krank seien und ihre Überlebenschance zu klein sei, so Jeß.
Kein Mensch schießt gerne Robben tot ohne Sinn und Verstand. Wir machen das nicht so aus dem Bauch heraus, sondern wir haben Meldebögen mit bestimmt zehn Kriterien, die man nacheinander durchgeht und guckt: Welche Krankheiten hat das Tier?
Armin Jeß, Robbenmanager und Seehundjäger
Die Fragen aus dem Meldebogen umfassen offensichtliche Verletzungen und den allgemeinen Gesundheitszustand: Hat das Tier Durchfall, ist es apathisch oder hat es Einschränkungen bei der Atmung?
Kritik an Seehundjägern
Anhand dieser Hinweise treffen die Seehundjäger ihre Entscheidung. In 95 Prozent der Fälle seien die Erfahrungen der Seehundjäger und dieser Meldebogen ausreichend, ist sich Armin Jeß sicher. Für alle anderen Fälle können er und seine Kollegen sich schnell Hilfe holen – etwa beim ITAW, das per Notfalltelefonnummer erreichbar ist.
Kritik von Tierschützern und Urlaubern an der Hegearbeit der Seehundjäger gebe es immer wieder, sagt Jeß, und das schmerze: „Keiner lässt sich gern ungerechtfertigt beschimpfen, zumal ich reinen Gewissens bin, weil ich es ja nach bestem Wissen und Gewissen und auch meine Arbeit mit einer gehörigen Portion Sachverstand mache und mir an sich nichts vorzuwerfen habe.
Nicht jeder Veterinär kennt sich aus
So sieht es auch Katharina Weinberg von der
Schutzstation Wattenmeer im Husumer Hafen. Der Naturschutzverein betreibt mehrere Infozentren an der Nordseeküste, kartiert das Watt und bietet naturkundliche Führungen an. Katharina Weinberg arbeitet dort im Meeressäugerschutz und sie sagt, auch Tierärzte hätten nicht automatisch das nötige Fachwissen, wenn es um Seehunde geht.
Jeder, der mit Wellensittich, Hamster und Co. in der Regel zu tun hat, hat nicht unbedingt Ahnung von Robben, das ist tatsächlich so. Das ist anders, das ist ein großes Tier, das schnell ist, das unfassbar bissig ist und das auch Parasiten an sich dran hat. Das ist nicht ganz ungefährlich. Insofern kann ich auch nicht jeden x-beliebigen Herrn Schmidt-Meyer-Schulze anrufen: Kommse doch mal! Und der sagt: Moment, ich setz den Hamster mal eben weg. Das klappt nicht, dafür braucht man qualifizierte Leute und das können die Seehundjäger sehr gut.
Katharina Weinberg, Schutzstation Wattenmeer in Husum
Für sie ist klar, dass man ein sterbendes Tier auch mal sterben lassen muss, denn im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer gilt der Grundsatz „Natur Natur sein lassen“. Auch andere Wildtierarten hätten eine Sterblichkeit von 50 bis 70 Prozent im ersten Lebensjahr. Natürlich könne man kranke oder verletzte Tiere auch wieder aufpäppeln, das sei allerdings eine Abwägungssache.
„Nehme ich es jetzt auf, päppel‘ ich es, verursache ich Stress ohne Ende? Oder ist es tatsächlich ein Tier, wo man auch sagt, nur die Fittesten sind in der Population auch sinnvoll. Und dann ist es vielleicht auch besser für all die anderen, wie den Seeadler zum Beispiel, oder auch andere Aasfresser, wenn das Tier verstirbt, dass man es dann tatsächlich auch versterben lässt.“
40.000 Seehunde in der Nordsee
Die Seehundjäger des Landes waren in 2020 rund 2.300-mal im Einsatz. Nach Angaben des Umweltministeriums haben sie rund 1.600 tote Tiere geborgen und 441 erlegt. 188 Tiere wurden in die Seehundstation nach Friedrichskoog gebracht, 70 mussten sich einfach nur ausruhen.
Im Moment leben etwa 40.000 Seehunde in der Nordsee – so viele wie noch nie. Während in den 1980er-Jahren jährlich bis zu 50 Seehunde in Friedrichskoog zum Bestandsschutz aufgepäppelt wurden, werden dort heute zwischen 170 und 300 Tiere pro Jahr behandelt.