Wenn Mama Mist gebaut hat
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Wenn Mütter oder Väter in Haft sind, leiden auch ihre Kinder darunter: Oft ist es für beide Seiten schwer, den Kontakt zu halten. Der offene Strafvollzug will das ändern – eine große Hilfe dabei sind Gefängnis-Seelsorger.
"Natürlich kann man es auch biblisch begründen. Jesus hat gesagt: 'Ich war im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.' Von daher finde ich, Gefängnis bedeutet immer in der Krise sein. Ist eine Lebenskrise. Und Menschen in Krisenzeiten zu begleiten, ein Stück des Weges, das finde ich eine selbstverständliche Aufgabe von Kirche."
In Deutschland haben alle Gefängnishäftlinge ein Recht auf Kontakt zu einem Seelsorger. Pastor Michael Waterbör besucht regelmäßig verschiedene Haftanstalten.
Angst, dass der Kontakt abreißt
Hanna B. kommt gerne in das Büro des Sozialdienstes der Haftanstalt, in der sie seit einem Jahr einsitzt. Die kräftige Frau war schon oft in dem kleinen Raum, in dem ihr immer wieder geholfen wurde. Damit hatte sie nicht gerechnet:
"Habe ich mir schwerer vorgestellt. Dass ich die Kinder gar nicht mehr sehe, 23 Stunden in der Zelle, eine Stunde Hofgang und eingesperrt."
Ihren richtigen Namen möchte die Mutter von drei Kindern nicht nennen. Ihr ältester Sohn ist fünfzehn Jahre alt. Die meisten dieser Jahre war Hanna alleinerziehend.
Bei Kindern löst eine Inhaftierung der Mutter ein Durcheinander der Gefühle aus: zwischen Sehnsucht und Wut, Trauer und Enttäuschung. Sie fragen sich: "Hat Mama denn nicht an mich gedacht, als sie diesen Mist gebaut hat? Liebt sie mich überhaupt – und darf ich sie noch lieben? Sie hat doch was Schlimmes getan."
"Ich habe sehr starke Kinder. Ich muss sagen, sie haben mich hier aufrecht gehalten, indem sie gesagt haben: 'Mama wir schaffen das. So lange ist auch nicht mehr.' Aber solange wie die merken, Mama ist trotzdem da, die erreichen mich jederzeit, wenn irgendwas ist. Die können hier im Büro anrufen. Das wird mir ausgerichtet. Dann kann ich zurückrufen. Und das haben die auch oft genutzt."
Familiensensibler Strafvollzug
"So soll es sein", freut sich die Juristin Kerstin Höltkemeyer-Schwick, seit vier Jahren Leiterin der größten offenen Vollzugsanstalt Deutschlands in Bielefeld-Senne mit 1400 Haftplätzen.
"Der Strafvollzug hat sich gewandelt im Laufe der Zeit und ein Schwerpunkt ist jetzt in letzter Zeit auch der familiensensible Strafvollzug. Das heißt, man guckt nicht nur auf die Inhaftierten, sondern auch auf ihre Familien und da besonders auch auf die Kinder."
Vierzig Prozent der rund 65.000 Strafgefangenen in Deutschland haben minderjährige Kinder. Deren Rechte müssen die Justizvollzugsanstalten im Blick behalten. Dabei werden sie von den Kirchen unterstützt.
"Seelsorge an der Front"
"Strafvollzug ist ein selbstverständlicher Ort, wo Kirche auch präsent ist."
Für den evangelischen Theologen Michael Waterbör ist Kirche im Strafvollzug nichts weniger als "Seelsorge an der Front".
"Da ist man nicht geschützt durch irgendwie eine gemeindliche Situation oder ein Gemeindebüro. Da wird man gefragt und da muss man antworten."
In Frauengefängnissen kommt die Sorge der Inhaftierten um ihre Kinder häufiger zur Sprache als im Männervollzug. Oft stellt sich heraus, dass Mütter die Gründe für ihre Haft oder die Haft selbst vor den Kindern verheimlichen. So wie Eva Meier. Auch sie möchte ihren wirklichen Namen nicht nennen.
Die Kinder wissen nichts von der Haft
"Die wissen gar nicht, dass ich hier bin. Ich habe das meinen Kindern gar nicht erzählt, weil die in Pflegefamilien untergebracht sind. Ich wollte sie einfach in dem Punkt schützen. Ist besser."
Pastor Waterbör respektiert die Entscheidung der Mütter, regt aber an, Ausreden und Heimlichkeiten nicht allzu lang aufrecht zu erhalten.
"Ich sage: 'Irgendwann werden Ihre Kinder das erfahren und ich wünsche Ihnen, dass, wenn sie's erfahren, sie es von Ihnen selber hören und nicht über Dritte. Denn wenn sie es über Dritte erfahren, dann wird die nächste Frage sein: 'Warum hast du mich belogen?' Und dann haben die ein neues Problem."
Eva Meier hat sechs Kinder. Noch fühlt sie sich nicht stark genug, ihnen von der Haft zu erzählen. Aber sie hat sich vorgenommen, nach einiger Zeit in der Therapie ihren Kindern gegenüber ehrlich zu sein. Macht ihr das keine Angst?
"Doch, aber dann bin ich besser gewappnet für Rede und Antwort, wie jetzt im Moment."
Schulabschluss und Arbeitsmöglichkeiten
Eva Meier ist Ende zwanzig. Im Gespräch blickt sie schüchtern auf ihre Hände oder kratzt sich nervös an den Armen. Erst als sie erwähnt, dass sie den Hauptschulabschluss geschafft hat, hebt sie den Kopf. Ein wenig Stolz blinkt in ihren Augen. Unter den Frauen auf ihrem Flur ist sie die einzige mit einem Schulabschluss. Alle haben ein Suchtproblem. Die meisten haben ihren Drogenkonsum durch Diebstahl und Prostitution finanziert.
"Beschaffungskriminalität. Habe dafür meine fast drei, dreieinhalb Jahre - knapp vier Jahre gekriegt und Bewährungswiderruf dazwischen."
Während der Haft wird den Frauen der Besuch einer Schule und legale Arbeit ermöglicht. Die meisten Inhaftierten im offenen Vollzug arbeiten in der Altenpflege, in einem Industriebetrieb oder im Büro. Eva Meier arbeitet als Gärtnerin, aber ihre Priorität sind die Kinder.
Besuche bei den Kindern werden unterstützt
"Mir wird in dem Punkt geholfen, dass ich weiter Kontakt zu meinen Kindern habe. Dass ich, wenn ich kein Geld für die Busfahrten habe, dass ich von hier die Busfahrkarten kriege. Dass ich dahin komme. Mir wurde jetzt sehr viel geholfen, dass irgendwie die Staatsanwaltschaft angeschrieben haben, dass ich Therapie machen darf."
Anfangs hatte Eva Meier keine Lust, eine Sucht- und Traumatherapie zu machen. Sie wollte einfach so bald wie möglich zurück in ihr altes Leben. Aber mit der Zeit hat sie ihre Haltung geändert.
"Dann führe ich ganz intensive Gespräche hier mit dem Pfarrer. Der kommt auch einmal die Woche, einfach wie ich ihn brauche. Ich rede mir alles von der Seele und er hört mir zu und gibt mir Ratschläge. Und er behält alles für sich."
Seelsorge als wertvoller Schutzraum
Für viele Inhaftierte sind solche Gespräche eine völlig neue Erfahrung. Nie zuvor haben sie mit einem unvoreingenommenen Menschen gesprochen, dem sie wirklich vertrauen können. Der Seelsorger Michael Waterbör weiß, dass es sehr lange dauern kann, bevor eine Gefangene ehrlich über ihre Sorgen spricht.
"Das passiert in erster Linie in der Seelsorge. In meinem Raum, in meinem Büro, an einem geschützten Ort, unter Schweigepflicht. Und das ist einen Raum, wo sich die Gefangenen öffnen können und erzählen."
Nicht nur weibliche Gefangene machen sich Sorgen um ihre Kinder. Auch viele männliche Gefangene sind Väter.
"Ich habe Männer, die bei mir im Büro sitzen und weinen. Draußen in der Anstalt sind ganz andere Bedingungen. Da gibt es natürlich Hackordnungen. Da will man sich keine Blöße geben. Aber sobald die in meinem Raum sitzen, ich eine Kerze anzünde, ein kleines Teelicht, das schafft schon eine Atmosphäre."
Hilfe für ein Leben danach
In Deutschland verdienen rund zehntausend drogenabhängige Frauen Geld mit Prostitution. Eva Meier will nach der Haft andere Wege gehen. Ohne die Unterstützung im Gefängnis wäre sie nie so weit gekommen.
"Ich glaube, ich hätte dann weiter gemacht wo ich damals aufgehört hätte, und nicht diese Einsicht, die ich jetzt habe, dass das so nicht weiterläuft wie es früher weitergelaufen ist. Sondern dass ich doch was ändern muss in meinem Leben und dass auch nach dieser Haft auch machen werde."