Sehn Se dit is Berlin ...

Von Markus Rimmele |
Am 17. September wählt Berlin ein neues Abgeordnetenhaus. Klaus Wowereit (SPD) will Regierender Bürgermeister bleiben. Friedbert Pflüger (CDU) will es werden. Wahlkampf in der Hauptstadt. Grund genug, einen Blick in die Stadt zu werfen, Menschen zu präsentieren, die in Berlin leben und arbeiten, die das heutige Berlin sind: Manche, die es sehr schwer haben.
Manche, für die Berlin angesagter ist als jeder andere Ort. Manche, die hier ihre wirtschaftliche Chance sehen und an der Zukunft basteln. Berlin im Sommer 2006 - das ist nicht mehr die selbst ernannte Weltmetropole mit Hang zum Größenwahn. Es ist die Stadt der neuen Nüchternheit, die ihre Probleme endlich wahrnimmt. Und eine Stadt mit Möglichkeiten.

Unter der Erde mischt sich alles. 1400 gelbe U-Bahn-Waggons unterqueren die Bezirke, fahren durch die Tunnelverästelungen: gute Viertel, schlechte Viertel, laute, leise, Parks und Autobahnen. Neun Mal um den Globus, jeden Tag. Auf den buntgesprenkelten Polstern sitzen all die Stadtbewohner nebeneinander. Oft gar nicht so gern. Hier ein Naserümpfen, da ein verwunderter Blick. Doch immerhin: sie sitzen zusammen. Hier in der U-Bahn bilden sie eine Einheit. Gemeinsam sind sie Berlin.

Die Menschen passen zu den Stationen, an denen sie aussteigen. Kurfürstenstraße zum Beispiel. U 1. Nachts ist hier der Straßenstrich, das heißt ein Drogenstrich. Tagsüber so genanntes Multikulti. Bürgerliche Menschen kennen die Gegend nur von unten aus der U-Bahn-Perspektive oder aus dem Autofenster. Der Potsdamer Platz ist gar nicht weit. Räumlich ganz nah. Die Menschen in den Cafés im Sony-Center aber ahnen nichts von der Welt in der Kurfürstenstraße, 700 Meter Luftlinie südwestlich.

Heute gab’s Ravioli in Schinken-Sahnesauce mit Salat. Mittagessen drei Euro. Kaffee und Kuchen für ein paar Cent. ABM-Kräfte kochen, spülen ab, bedienen. Der Nachbarschaftstreff. Eine Sozialeinrichtung, in der sich Menschen aus dem Viertel treffen, denen es nicht so gut geht. Etwa ein Dutzend meist älterer Leute sitzt heute an den Tischen.

"Berlin ist eben eine arme Stadt. Ich möchte sagen, in Teilen sogar das Armenhaus Deutschlands."

Hilmar Janke hat langes graues Haar, einen Bart. Er ist Pensionär, ehemaliger Finanzbeamter und allein stehend. Der Nachbarschaftstreff ist gut für ihn, sagt er. Da muss er kein Bier trinken wie in der Kneipe. Und es ist billig hier. Seit 30 Jahren lebt er nebenan in der Potsdamer Straße, der großen Verkehrsachse, die durch das Viertel führt.

"Mich stört, dass ich beispielsweise gehe, auf der Straße von einer Prostituierten angesprochen werde mit der üblichen Floskel, na Kleener, und so weiter. Und dass mir dann unter Umständen eine Bierflasche halb ins Kreuz fliegt, wenn ich dran vorbei gehe und gesagt wird, mach, dass du wegkommst, du Schwuler, weil ich auf das Angebot nicht eingegangen bin."

Das Viertel ist Quartiersmanagement-Gebiet, so wie 15 weitere Gegenden der Stadt, die umzukippen drohen. Quartiersmanagement heißt Hilfe zur Selbsthilfe, Verbesserung des Wohnumfelds, Bildungsangebote, Vernetzung der Bewohner. Hier im Kiez rund um die Kurfürstenstraße leben achteinhalbtausend Menschen, berichten die Sozialarbeiter.

32 Prozent davon haben keinen deutschen Pass, in den Schulen sind deutsche Kinder eine kleine Minderheit. Die Familien der Mittelschicht sind weggezogen. Viele alte Menschen mit sehr kleinen Renten sind übrig geblieben. Soziale Verwahrlosung, Alkoholismus. Das Übliche eben. Es gibt viele solcher Viertel in Berlin. Was in der Kurfürstenstraße und drum herum täglich gelebt wird, ist natürlich auch wissenschaftlich untersucht. Karl Brenke vom DIW, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:

"In den letzten zehn Jahren ist Berlin, was die Wirtschaftsleistung anbelangt, immer eines der Schlusslichter in Deutschland gewesen unter den einzelnen Bundesländern. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt mittlerweile von Transfers. Und die Zahl der Transferbezieher ist höher als die Zahl der Personen, die erwerbstätig sind. Und inzwischen ist es so, dass diese sozialen Transfers, also Wohngeld, Rente, Arbeitslosengeld und weiteres über 40 Prozent der Einkommen der privaten Haushalte der Stadt ausmachen."

In der Berliner U-Bahn sind selten Anzüge zu sehen. Eigenartig für eine Metropole. Wenig Geschäftswelt, wenig Hektik. Manche nennen Berlin eine Weltstadt. Doch dafür geht’s viel zu gemütlich zu.

20 Minuten dauert die Fahrt Richtung Nordosten, zum Alexanderplatz und weiter. U-Bahnhof Weinmeisterstraße, Berlin-Mitte. Aus dem Menschenpool im Waggon steigen vor allem die jungen Leute aus. Modisch gekleidet, hip.

"Das ist mein zweites Album, was jetzt im Mai rausgekommen ist."

DJ Miss Yetti, bürgerlich Henrietta Schermall.

"Berlin hat auch so eine Avantgarde-Position eingenommen. Also, es ist wirklich so: Das was hier als erstes Trend ist, wirkt sich dann auf den Rest von Deutschland aus und dann auf Europa und weltweit, so würde ich sagen in elektronischer Musik. Berlin ist im musikalischen Bereich gefragter denn je."

Henrietta Schermall ist auch sehr gefragt. Letztes Wochenende hat sie in Griechenland aufgelegt, kommendes in Barcelona. Nächste Woche Kiew, dann Pamplona, erzählt sie. Anfang 2007 geht sie auf Südamerika-Tour. So wie sie machen es viele Berliner DJs. Schermall ist 34, seit 14 Jahren als DJ tätig, seit 12 Jahren in Berlin. Nebenher betreibt sie ihr eigenes Plattenlabel. Davon gibt es 500 in der Stadt, berichtet die Berliner Wirtschaftsbehörde. Musik. Eine der Boombranchen sei das. Schermall nickt. Wenn sie im Ausland auflegt, sagt sie, verdient sie zwar zehnmal so viel wie in einem der 250 Berliner Clubs, weil hier eben keiner Geld hat. Aber trotzdem muss sie in Berlin präsent sein, allein schon fürs Renommee. Die Stadt ist kreativ und dafür in der Welt bekannt.

"Sehr international. Und vor allem kriege ich das auch immer mehr mit, dass besonders Künstler aus den USA hier hinziehen oder aus England und so, weil hier einfach die Bedingungen anders sind, weil man eben zu guten Konditionen leben kann. Und als Künstler ist es ja wurst, wo in Europa man wohnt. Und da ist Berlin natürlich ideal."

Für die Ankömmlinge aus den großen Weltmetropolen ist Berlin extrem günstig, sagt Schermall, eine einzigartige Kombination: eine europäische Metropole der Hülle nach, aber mit billigen Altbauwohnungen, mit billigem Bier. Dazu frei, ohne strenge Konventionen oder Moral. Mit einer hoch entwickelten Kulturszene, einem sehr guten Nachtleben.

"Ich lebe natürlich und bin natürlich auch mit meinem Label lieber an einem kreativen Standort als an einem wirtschaftlich stärkeren. Was macht das für mich als Label für Unterschiede? Ich habe doch hier alles, was ich brauche."

Ein Ort zum Gutleben. Die Stadt zieht eine junge Boheme aus der ganzen Welt an. Das Landesamt für Statistik hat für das vergangene Jahr errechnet: 8 Prozent mehr Franzosen mit Wohnsitz in Berlin, 11 Prozent mehr Spanier, 6,5 Prozent mehr Brasilianer, vier Prozent mehr Briten. Es scheinen besondere Jahre für Berlin zu sein. Wer weiß, wie lange das so weiter geht. Vermutlich so lang, wie Berlin arm bleibt. Die Musikszene boomt, die Kunstszene boomt, die Modeszene boomt. Und der Wissenschaftler Karl Brenke spricht von innerdeutscher Arbeitsteilung:

"Um das salopp zu formulieren: Berlin wird nie die deutsche Bankenstadt werden, sondern da sind die Karten verteilt. Aber man kann natürlich in Bereiche gehen, wo man annehmen kann, dass hier zusätzliche Wirtschaftsleistungen und zusätzliche Beschäftigung in der Zukunft entstehen werden. Das sind eben kreative Bereiche, das sind wissensintensive Bereiche. Es sind natürlich günstige Bedingungen für eine große Stadt, wenn sie junge Leute und qualifizierte Leute anzieht."

"Wenn ich so höre von vielen, sieht es nicht besonders gut aus. Es sind viele Leute, die wirklich gerade man, wenn überhaupt, über die Runden kommen. Das ist leider Gottes so. Viele Arme, mehr Arme wie alles andere eigentlich. So empfinde ich das jedenfalls."

Renate Büchner. Stammgast im Nachbarschaftstreff. Seit 35 Jahren lebt sie in der Gegend. Was sie täglich wahrnimmt, deckt sich mit der Statistik. 14.738 Euro standen jedem Berliner im Jahr 2004 zur Verfügung, 3000 Euro weniger als dem durchschnittlichen Deutschen. Der Abstand vergrößert sich.

"Ich war mal Firma Bosch tätig. Aber leider Stellenabbau. Jetzt bin ich leider arbeitslos. Bei Bosch war ich acht Jahre. Die haben zugemacht. Die haben die Produktion verlagert nach, ich glaube Portugal war das, glaube ich, hat sich das alles verlagert. Ich bin jetzt sechs Jahre arbeitslos. Eigentlich habe ich das da noch positiv gesehen, weil ich dachte, man kriegt noch Arbeit, kein Problem. Aber: zu alt, nichts gelernt, viele Firmen haben wir ja nicht mehr groß in Berlin. Die sind ja alle abgewandert. Na, und jetzt ist Hartz IV. Leider. Das viele Los der anderen auch."

Früher am Fließband, heute Hartz IV. Eine typische Berliner Laufbahn. Seit 1990 sind mehr als 200.000 Industriearbeitsplätze verschwunden. Berlin. Die große Verliererin der deutschen Geschichte. Nach dem Krieg zog alles weg, wegen der Teilung: die Banken, die Unternehmen, die Medien. Als mit der Mauer auch die Subventionen fielen, wurden auch noch die großen Fabrikationsstandorte abgezogen. Bis heute noch. 3,4 Millionen Menschen an einem Ort mit kaum Industrie. 17-18 Prozent Arbeitslose. So etwas heißt dann: strukturelles Problem. Rund um die Kurfürstenstraße führt dieses Problem zu sozialer Verwahrlosung. Die Wahl am 17. September?

"Was man alles gewählt hat oder nicht gewählt hat. Im Grunde genommen hat sich nichts gebessert, also von meiner Warte aus. Die versprechen, wir schaffen Arbeit, und es gibt so viele Arbeitslose."

"Auf absehbare Zeit erwarte ich nicht, dass wir die Arbeitslosigkeit in starkem Maße reduzieren können, zumal wir das Phänomen haben, dass viele der Arbeitslosen in Berlin wenig qualifiziert sind. Und es entstehen eben relativ wenig Arbeitsplätze für diese, sondern wenn Arbeitsplätze entstehen, dann in Bereichen, wo schon mehr an Qualifikation gefragt ist. Unter dem Strich meine ich, dass für wenig Qualifizierte die Chancen, einen Job zu bekommen, vergleichsweise schlecht sind."

Zum Stadtteil Buch geht’s mit der S-Bahn. Bezirk Pankow. Äußerster Nordosten Berlins, brandenburgische Grenze. Ein Vorposten der Stadt. Einer der sich macht. Berlin-Buch ist eine Hoffnung. Und weil es eine Hoffnung ist und weil sich hier so schön viel Schönes zeigen lässt, kommt auch der Regierende Bürgermeister vorbei, begleitet vom brandenburgischen Ministerpräsidenten und einem Pulk Journalisten. Erst der Besuch im privaten Klinikneubau, dann das Biotechnologie-Labor. Beide müssen eine Flüssigkeit in eine Schale träufeln. Da verfärbt sich alles blau.

Gesundheitsbranche, Biotechnologie: Wachstumsfelder für Berlin. In Buch treffen Kliniken auf Forschungseinrichtungen. Das Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin ist hier. Rundherum der Biotechnologiepark. 39 Firmen, 550 Mitarbeiter. In der ganzen Region sind es 12.000 Beschäftigte. Der Senat sagt, Berlin gehöre damit zu den fünf führenden Biotechnologie-Standorten in Europa

"Kostenstrukturen, Infrastruktur. Wir haben im Prinzip ja drei Universitäten in Berlin plus Universität Potsdam plus eine Fachhochschule im Bereich der Biotechnologie. Also wir haben einen großen Rekrutierungsrahmen und da auch im Gegensatz zu vielen anderen akademischen Firmen im In- und Ausland nahezu keine Probleme, sehr gute Leute zu rekrutieren."

Steffen Goletz. Ein Wissenschaftler, der jetzt Unternehmer ist. Mittlerweile hält er sich so oft bei seinen Kunden im Ausland auf, dass er erst mal wieder in die deutsche Sprache zurückfinden muss. Die beiden Politiker und die Photographen stehen in seinem Labor, in seiner Firma. Glycotope heißt die, existiert seit 2001 und verdoppelt jedes Jahr die Mitarbeiterzahl. Goletz hat am Max-Delbrück-Zentrum promoviert, war dann in Cambridge, kam wieder zurück nach Berlin.

Eigentlich wollte er als Wissenschaftler weiter arbeiten. Da entdeckte er eine Marktlücke: die Herstellung humaner Zuckerketten. Grundlage für Medikamente gegen Tumore oder Herz-Kreislauferkrankungen. Nach einer Anschubförderung aus dem Land Berlin trägt sich die Firma bereits selbst. 80 Prozent der Kunden sind im Ausland.

"Es ist ganz vorne auch in Bezug auf akademische Forschung. Wir betreiben das sozusagen als Speespitze in dem Bereich. Wir sind gesettelt. Von unseren 20 Leuten in der F+E, also Forschung und Entwicklung, haben wir bestimmt 11 Wissenschaftler, die sehr hoch von der Ausbildung sind, international renommiert sind mit großen Publikationsvolumina. Da sind wir genau an der Glycobiologie sehr gut angesetzt – im Antikörperbereich."

Goletz findet Berlin gut, zum Leben schön - er wohnt im gut situierten Vorort Frohnau - und zum Führen einer Biotechnologiefirma geeignet. Natürlich sollten die Flugverbindungen besser sein, sagt er. Ansonsten aber wunderbar. Berlin hat Chancen.

"Es ist schon so, dass Berlin tatsächlich den Vorteil hat der Kostenstruktur. Das ist wirklich so. Also die Immobilienpreise, ich denke, in den nächsten zehn Jahren wird das ein Vorteil werden für Berlin, wenn die Förderungen günstig eingesetzt werden. Also das heißt, wenn sie die Förderung jetzt nicht weiterhin gießkannenmäßig verteilen. Es gibt dann da eine Drei-Mann-Firma, da eine Drei-Mann-Firma. Sondern dass sie sagen, sie nehmen sich einfach solche Firmen, die schon über die Hürde drüber sind und bauen die groß. Ich denke, das sind die Nuclei, die entstehen müssen. Und da haben sie eigentlich die Chance, das Potenzial ist eigentlich schon da in Berlin."

Neue Arbeitsplätze. Aber keine für ungelernte Fließbandarbeiter.

"90 Prozent sind Akademiker bei uns, von denen die Hälfte mindestens promoviert hat. Promoviert heißt bei uns immer gleich auch Postdoc-Ausbildung. Und dann eine Professur oder eine Habilitation davon auch noch mal die Hälfte hinterher. Also wir sprechen von hoch qualifizierten, auch gut bezahlten Leuten."

"Wir werden alle so mit Amtsunterstützung eines Tages leben müssen. Denn es wird ja auch immer weniger verdient. Und alle, die heute ja noch für einen Euro arbeiten, die werden ja auch nicht die hohen Renten haben später. Die werden alle in dieses soziale System irgendwie bezuschusst werden müssen."

Renate de Persis aus der Potsdamer Straße. 65 Jahre, Witwe, gehbehindert nach einer Fußoperation. Die Mieten sind viel zu hoch, sagt sie. Bei ihr im Haus sind letztens zwei Parteien ausgezogen, Hartz IV-Empfänger, die sich billigere Wohnungen suchen mussten. Als Rentnerin kann sie sich die Wohnung gerade noch leisten.

"Ach ja, so geht’s mir nicht schlecht. Ich meine, ich bin nicht anspruchsvoll, weil ich mir nichts, also einen Urlaub kann ich mir nicht mehr leisten. Ich gehe ja auch nicht mehr groß weg. Und ich rauche auch nicht und trinke nicht, dann kann man auskommen. Die immer so klagen, die haben bestimmt irgendwo ein Laster oder leisten sich was. Und Möbel brauche ich auch nicht mehr. Und so ab und zu mal ein T-Shirt, das ist drin, das kann man sich ja noch leisten. Aber wie gesagt, wenn man sich hochwertige Sachen … da denke ich ja gar nicht mehr dran. Das brauche ich auch nicht mehr."

Nüchtern, sachlich, abgeklärt. Es ist, wie es ist. Die ganze Stadt macht es jetzt so. Nicht nur die Leute im Nachbarschaftstreff. Berlin hat sich selbst erkannt. Die Stadt weiß mittlerweile, wie es ihr geht. Merkwürdig ruhig ist es geworden.

Keine lauten Rufe mehr nach dem Staat. Geld ist sowieso keins zu erwarten. Laut wird es nur noch, wenn’s um Geschichte geht, beim Streit ums Mauergedenken etwa. Die großen Zukunftsträumereien sind längst vorbei. Von der Sechs-Millionen-Weltmetropole zwischen Ost und West spricht kein Mensch mehr, stellt Karl Brenke vom DIW fest.

"Anfang der 90er Jahre hat man ja viel geredet. Da gab’s viel Euphorie in der Stadt. Anschließend folgte dann der Katzenjammer. Das mit der Ost-West-Drehscheibe war völlig überzogen. Warum sollte man gerade in Berlin die Geschäfte machen? Man kann auch Geschäfte mit Warschau oder in Prag von Hamburg, von Frankfurt oder von München aus machen. Ich glaube, da ist mehr Nüchternheit eingekehrt, und das ist auch gut so."

Die Stadt konzentriert sich mittlerweile auf die Branchen, die in Berlin Zukunft haben. Der Tourismus etwa, der jährlich zweistellig wächst. Die Pharma- und Gesundheitsbranche. Der Verkehrsbereich. Und immer wieder die Kreativen.

Die Fahrt nach Prenzlauer Berg macht Spaß. Die U-Bahn ist nicht unter der Erde, sondern fährt auf Stelzen. Jahrhundertwendehäuser endlos. Unten auf der Straße ist viel Betrieb. Autos, Straßenbahnen, Fahrräder, Fußgänger. Freundlich wirkt das. Im Waggon sind es jetzt mehr junge Gesichter. Irgendwo in der Häusermasse, etwas abseits der großen Verkehrsschneisen, da liegt der Helmholtzplatz: groß, rechteckig, mit schönen Fassaden und hohen Bäumen.

"... das war jetzt schon der perfekte Balkon, weil man im Prinzip da wirklich die Weite hatte und auch gleichzeitig die Apotheke. Also es stimmte auch."

Treffpunkt vor einem Eckhaus. Der Regisseur Andreas Dresen steht am Drehort von "Sommer vorm Balkon". Knapp eine Million Menschen haben den Film in Deutschland mittlerweile gesehen, sagen die Produzenten. Ein Erfolg. Für Dresen und für den Filmstandort Berlin.

"Ich finde, Berlin ist einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Medienstandort geworden. Es gibt jetzt ein unheimliches Potenzial an kreativen Leuten da. Und man muss auch positiv sagen, das Budget, was die Filmboard hat, das ja im Gegensatz zu vielem anderen in den letzten Jahren aufgestockt wurde. Das ist passiert. Und das hat natürlich auch Auswirkungen, dass Leute sich angezogen fühlen nicht nur von der Attraktivität des Drehorts, sondern auch von den finanziellen Möglichkeiten. Und ich hoffe einfach, dass das kreative Leute hier an die Region bindet."

Der Film. Eine halbwegs heile Welt innerhalb der Berliner Wirtschaft. Ein Geschäft, das läuft. Das läuft, weil die Kreativen hier sind. Die hier sind, weil Berlin voller Gegensätze und nicht teuer ist. Das nicht teuer ist, weil es vielen Leuten schlecht geht - über die Dresen dann Filme dreht. Er erzählt die Geschichte von zwei Frauen vom Helmholtzplatz und wie sie sich durchs Leben schlagen, mit Höhen und vielen Tiefen.

"In Berlin leben nicht nur reiche Leute, sondern Leute, die auch durchaus mit sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ich finde, auch davon muss man erzählen, wenn man Filme macht. Und ich finde es für so einen Kiez von besonderer Wichtigkeit, dass so Leute hier auch immer noch einen Platz haben, denen es nicht so gut geht, die sich jetzt nicht die ganz teure Eigentumswohnung leisten können. Deshalb muss man halt immer gucken, finde ich, wie ist die Struktur, dass nicht alle Leute, die früher hier gewohnt haben, verdrängt werden, sondern auch Leute mit einer etwas kleineren Brieftasche sich so etwas hier noch leisten können."

Der Druck wird größer auf die kleinen Brieftaschen. Der Helmholtzplatz war auch mal eine Gegend mit Quartiersmanagement, mit Trinkern auf der Straße, Hundekot, Verwahrlosung. Jetzt ist es eine Gegend, die es geschafft hat.

Musik "Wir sind der Helmholtzplatz..."

Renovierte Altbaufassaden, gute Restaurants, unzählige Kinderwagen. Der Helmholtzplatz ist das Heim einer jungen, trendbewussten Mittelschicht, die gern im Bioladen kauft. Das Haus mit dem Film-Balkon ist mittlerweile schön saniert, der Balkon selbst prächtig begrünt. Hinter der Fassade leben nicht mehr viele Menschen mit sozialen Schwierigkeiten. Die Gegend ist auf dem Weg zur heilen Wohnwelt in der gar nicht so heilen Stadt, auf dem Weg zur Wohlstandsinsel. Wo es Wohlstandsinseln gibt, gibt es auch Armutsinseln.