Sehnsucht eines alten Mannes
Das Thema ist klassisch, die Form ungewöhnlich: In J.M. Coetzee "Tagebuch eines schlimmen Jahres" begehrt ein alter Mann eine junge Frau. Beschrieben wird das Ganze auf dreigeteilten Buchseiten: Oben ein Essay, dann Tagesbuchaufzeichnung und schließlich die Stimme der Frau. Ein Alterswerk mit spärlicher Handlung, aber von reflexiver Kraft.
Die Menschen werden, jedenfalls statistisch, immer älter. Wer heute jung ist, kann - atomare Fehlentwicklungen oder Verschiebungen der Erdachse einmal ausgeschlossen - fast schon damit rechnen, ein dreistelliges Lebensalter zu erreichen. Die Literatur jedoch, geschätzt als Seismograf für allgemeine Stimmungslagen, bricht keineswegs in Jubel aus angesichts der erweiterten Lebensperspektive. Im Gegenteil. Nie wurde so über das Altern geklagt wie in heutigen Romanen. Ein Genre scheint da Konturen anzunehmen: Das geriatrische Lamento.
J.M. Coetzee, der einst über Beckett promovierte, denkt sich seit einigen Jahren mit Vorliebe Helden aus, die die existenzielle Reduktion im Alter becketthaft verkörpern und deren letzter Lebensabschnittspartner der Jammer ist. In seinem letzten Roman "Zeitlupe" war das der Rentner Paul Rayment, gezeichnet von einem schweren Unfall, der sich zugleich als Clash der Generationen lesen ließ.
Jetzt, in "Tagebuch eines schlimmen Jahres", ist es der Schriftsteller J.C., der zwar als weltberühmter Autor vorgestellt wird, aber ähnlich von der Alters-Depression gekennzeichnet erscheint wie sein Vorgänger – als würde er auf einer einsamen Eisscholle dem Tod entgegentreiben.
Nun mag man darüber rätseln, wie hoch die autobiografischen Anteile bei dieser Schriftsteller-Figur sind. Gerade weil schon die Initialen J.C. so offenkundig zu Rückschlüssen auf den Autor Coetzee einladen, ist Vorsicht geboten: Das beste Versteck ist vielleicht das vermeintliche Bekenntnis.
Statt an Romanen schreibt J.C. an einem Buch mit "strong opinions" über den Weltzustand - pikanterweise für den deutschen Buchmarkt, wo die politischen Äußerungen großer Geister seit je mehr gelten als in der pragmatisch orientierten angelsächsischen Welt.
55 dieser Kurzessays machen knapp die Hälfte des Romans aus, der zunächst durch seine eigenwillige Form überrascht. Fast alle Seiten sind in drei Sektionen eingeteilt: Oben stehen die Essays, in der Mitte findet man jeweils einige Zeilen eines Tagebuches von J.C., das vor allem mit seiner hochattraktiven Sekretärin Anya beschäftigt ist. Unten kommen als dritte Stimme die Aufzeichnungen dieser Filipina-Schönheit hinzu.
J.C. hat sie in der Waschküche seiner Wohnanlage in Sydney kennengelernt - "metaphysischen Schmerz" empfindend beim Anblick ihres knappen Kleidchens. Immerhin gelingt es ihm bald, die junge Frau für sein Buchprojekt zu engagieren. Sie tippt seine Beiträge in den Computer.
Wie in einer Fuge werden die drei Stimmen gegen- und nebeneinander geführt, woraus sich allerhand kontrapunktische Effekte ergeben: Motivzusammenklänge und komische Kontrastwirkungen. Während sich oben der souveräne Geist des renommierten Autors J.C. zu diversen Themen gewichtig äußert, spielt unten im Souterrain die bittere Liebeskomödie des alten Mannes, der nicht mehr zum Zuge kommt.
Die Attraktivität Anyas wird von Coetzee mit böser Ironie und so klischeehaft wie möglich beschrieben. Anfangs ist die Figur kaum mehr als eine ungemein wirkungsbewusste Po-Wacklerin. Erst später gewinnt sie als intelligenter Gegenpart Konturen. Anya und ihr schlitzohriger Broker-Freund Alan, der sich vornimmt, das "liberale Fossil" der sechziger Jahre ordentlich auszuplündern, äußern bodenständige Kritik an den freischwebenden Meinungen des Intellektuellen.
Was für einen Stellenwert haben die Kurzessays? Sind es Krümel vom Tisch des großen Autors, die hier noch eine Verwendung finden? Nicht auszuschließen.
Handelt es sich, kaum verdeckt, um Standpunkte Coetzees, die in fiktivem Rahmen geäußert werden? Das ist überwiegend unwahrscheinlich - nicht nur, weil die Ideen nach dem Muster der Entlarvungspsychologie mit dem Menschlich-Allzumenschlichen konfrontiert werden. Sondern auch, weil die bissigen Gegenargumente, die Anya und Alan vorbringen, eine Menge für sich haben und zudem oft pointierter geraten sind als die bisweilen unoriginellen und etwas angestrengt wirkenden politischen Betrachtungen J.C.s - über den modernen Staat, den Krieg gegen den Terror, Guantanamo und den "Totalitarismus" der Demokratie.
Sind die vermeintlichen "strong opinions" gar als Parodien eines trivialen linksliberalen Engagements zu verstehen, wie es Louis Begley in seiner positiven Kritik des Romans nahelegte? Wohl kaum, denn gleich daneben finden sich Reflexionen über Zentralthemen Coetzees wie die Schande (Gibt es "Schande light"?), die Apartheid oder das Schlachten von Tieren, die ähnlich auch an anderen Stellen seiner Werke zu finden sind.
Eindeutige Wertungen und Rollenzuweisungen sind hier also kaum zu haben. Mit J.C. und seinen beiden Widersachern vermisst Coetzee den intellektuellen Spielraum eines Autors, immer in der heiklen Balance zwischen Bekenntnismut und ironischer Selbstdistanzierung.
Die Schärfe der Wahrnehmung und die trockene Genauigkeit des Ausdrucks, für die Coetzees Romane seit je gerühmt werden, sind zwar auch in seinem essayistischen Schreiben wirksam, aber gerade deshalb führen die Denkprozesse kaum zu runden, zitierbaren Ergebnissen, sondern meist zu Verkomplizierungen der Ausgangslage.
Dies ist kein Denken, welches das insgeheim vorgefasste Ergebnis nur einholen möchte; dies ist kein Nobelpreisträger-Essayismus, der "elegant" und leicht verdaulich über die Themen hinwegplaudert.
Wie "Elisabeth Costello" und "Zeitlupe" ist auch (und noch verstärkt) das "Tagebuch eines schlimmen Jahres" ein Alterswerk von charakteristischer Spärlichkeit im Erzählerischen, das allerdings mit schlackenloser Prosa (präzise übersetzt von Reinhild Böhnke) und reflexiver Kraft entschädigt.
Man spürt, dass die ungewöhnliche Form aus einer Not geboren wurde. Als experimentelles Meisterwerk ist der Roman deshalb kaum zu rühmen. Aber Coetzee macht das Beste aus dem altersbedingten Versiegen der Erzählkraft.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
J.M. Coetzee: Tagebuch eines schlimmen Jahres
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Roman, S. Fischer Verlag, 2008
236 Seiten, 19,90 Euro
J.M. Coetzee, der einst über Beckett promovierte, denkt sich seit einigen Jahren mit Vorliebe Helden aus, die die existenzielle Reduktion im Alter becketthaft verkörpern und deren letzter Lebensabschnittspartner der Jammer ist. In seinem letzten Roman "Zeitlupe" war das der Rentner Paul Rayment, gezeichnet von einem schweren Unfall, der sich zugleich als Clash der Generationen lesen ließ.
Jetzt, in "Tagebuch eines schlimmen Jahres", ist es der Schriftsteller J.C., der zwar als weltberühmter Autor vorgestellt wird, aber ähnlich von der Alters-Depression gekennzeichnet erscheint wie sein Vorgänger – als würde er auf einer einsamen Eisscholle dem Tod entgegentreiben.
Nun mag man darüber rätseln, wie hoch die autobiografischen Anteile bei dieser Schriftsteller-Figur sind. Gerade weil schon die Initialen J.C. so offenkundig zu Rückschlüssen auf den Autor Coetzee einladen, ist Vorsicht geboten: Das beste Versteck ist vielleicht das vermeintliche Bekenntnis.
Statt an Romanen schreibt J.C. an einem Buch mit "strong opinions" über den Weltzustand - pikanterweise für den deutschen Buchmarkt, wo die politischen Äußerungen großer Geister seit je mehr gelten als in der pragmatisch orientierten angelsächsischen Welt.
55 dieser Kurzessays machen knapp die Hälfte des Romans aus, der zunächst durch seine eigenwillige Form überrascht. Fast alle Seiten sind in drei Sektionen eingeteilt: Oben stehen die Essays, in der Mitte findet man jeweils einige Zeilen eines Tagebuches von J.C., das vor allem mit seiner hochattraktiven Sekretärin Anya beschäftigt ist. Unten kommen als dritte Stimme die Aufzeichnungen dieser Filipina-Schönheit hinzu.
J.C. hat sie in der Waschküche seiner Wohnanlage in Sydney kennengelernt - "metaphysischen Schmerz" empfindend beim Anblick ihres knappen Kleidchens. Immerhin gelingt es ihm bald, die junge Frau für sein Buchprojekt zu engagieren. Sie tippt seine Beiträge in den Computer.
Wie in einer Fuge werden die drei Stimmen gegen- und nebeneinander geführt, woraus sich allerhand kontrapunktische Effekte ergeben: Motivzusammenklänge und komische Kontrastwirkungen. Während sich oben der souveräne Geist des renommierten Autors J.C. zu diversen Themen gewichtig äußert, spielt unten im Souterrain die bittere Liebeskomödie des alten Mannes, der nicht mehr zum Zuge kommt.
Die Attraktivität Anyas wird von Coetzee mit böser Ironie und so klischeehaft wie möglich beschrieben. Anfangs ist die Figur kaum mehr als eine ungemein wirkungsbewusste Po-Wacklerin. Erst später gewinnt sie als intelligenter Gegenpart Konturen. Anya und ihr schlitzohriger Broker-Freund Alan, der sich vornimmt, das "liberale Fossil" der sechziger Jahre ordentlich auszuplündern, äußern bodenständige Kritik an den freischwebenden Meinungen des Intellektuellen.
Was für einen Stellenwert haben die Kurzessays? Sind es Krümel vom Tisch des großen Autors, die hier noch eine Verwendung finden? Nicht auszuschließen.
Handelt es sich, kaum verdeckt, um Standpunkte Coetzees, die in fiktivem Rahmen geäußert werden? Das ist überwiegend unwahrscheinlich - nicht nur, weil die Ideen nach dem Muster der Entlarvungspsychologie mit dem Menschlich-Allzumenschlichen konfrontiert werden. Sondern auch, weil die bissigen Gegenargumente, die Anya und Alan vorbringen, eine Menge für sich haben und zudem oft pointierter geraten sind als die bisweilen unoriginellen und etwas angestrengt wirkenden politischen Betrachtungen J.C.s - über den modernen Staat, den Krieg gegen den Terror, Guantanamo und den "Totalitarismus" der Demokratie.
Sind die vermeintlichen "strong opinions" gar als Parodien eines trivialen linksliberalen Engagements zu verstehen, wie es Louis Begley in seiner positiven Kritik des Romans nahelegte? Wohl kaum, denn gleich daneben finden sich Reflexionen über Zentralthemen Coetzees wie die Schande (Gibt es "Schande light"?), die Apartheid oder das Schlachten von Tieren, die ähnlich auch an anderen Stellen seiner Werke zu finden sind.
Eindeutige Wertungen und Rollenzuweisungen sind hier also kaum zu haben. Mit J.C. und seinen beiden Widersachern vermisst Coetzee den intellektuellen Spielraum eines Autors, immer in der heiklen Balance zwischen Bekenntnismut und ironischer Selbstdistanzierung.
Die Schärfe der Wahrnehmung und die trockene Genauigkeit des Ausdrucks, für die Coetzees Romane seit je gerühmt werden, sind zwar auch in seinem essayistischen Schreiben wirksam, aber gerade deshalb führen die Denkprozesse kaum zu runden, zitierbaren Ergebnissen, sondern meist zu Verkomplizierungen der Ausgangslage.
Dies ist kein Denken, welches das insgeheim vorgefasste Ergebnis nur einholen möchte; dies ist kein Nobelpreisträger-Essayismus, der "elegant" und leicht verdaulich über die Themen hinwegplaudert.
Wie "Elisabeth Costello" und "Zeitlupe" ist auch (und noch verstärkt) das "Tagebuch eines schlimmen Jahres" ein Alterswerk von charakteristischer Spärlichkeit im Erzählerischen, das allerdings mit schlackenloser Prosa (präzise übersetzt von Reinhild Böhnke) und reflexiver Kraft entschädigt.
Man spürt, dass die ungewöhnliche Form aus einer Not geboren wurde. Als experimentelles Meisterwerk ist der Roman deshalb kaum zu rühmen. Aber Coetzee macht das Beste aus dem altersbedingten Versiegen der Erzählkraft.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
J.M. Coetzee: Tagebuch eines schlimmen Jahres
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Roman, S. Fischer Verlag, 2008
236 Seiten, 19,90 Euro