Krisenzeiten

Sehnsucht nach dem wohlwollenden Patriarchen

Eine große Holzfigur hält eine Reihe Dominosteine auf, die sonst auf eine Gruppe kleiner Holzfiguren fallen würden.
Wer hilft in Krisenzeiten? Die Hoffnung auf den gütigen Patriarchen sei zwar alt, habe aber wohl nie gestimmt, meint Gesine Palmer. © Getty Images / Nora Carol Photography
Von Gesine Palmer · 09.06.2023
In Zeiten von Unsicherheit steigt häufig die Sehnsucht nach Führung: Nach jemandem, der freundlich den Weg weist und für die Belange der anderen eintritt. Die Religionsphilosophin Gesine Palmer findet diesen Typus versinnbildlicht in einer paradoxen Männerfigur.
Er ist vielleicht die heißeste Fantasie aller Zeiten: der wohlwollende Patriarch. Menschen aller Völker, Geschlechter und Altersgruppen scheinen sich nach ihm zu sehnen. Seine erfahrene leibintensive Männlichkeit verkündet Stärke, sein schützendes Wohlwollen sichert vor den Gefahren freidrehender Kraftmeierei.
Aber etwas stimmt mit dieser Fantasie schon lange nicht mehr - hat vielleicht auch nie gestimmt. Trotzdem entfaltet sie nicht nur im vermeintlich orientierungsschwachen Westen einige Verführungskraft. Die Vorstellung des liebevollen Patriarchen lebt auch da, wo eine völlig aus dem Ruder gelaufene Männerherrschaft eigentlich jede Hoffnung auf ihn zerstört haben müsste.

Frauen in Afghanistan

Das traf mich überraschend, als ich jüngst einen dieser fürchterlichen Berichte aus Afghanistan hörte. Westliche Journalistinnen hatten mit erheblichen Mühen eine junge Frau gefunden, die bereit war, mit ihnen über ihr Leben nach der erneuten Vertreibung der Frauen aus der Öffentlichkeit zu sprechen.
Diese junge Frau, eine ehemalige Studentin, sagte mit Verbitterung: „Die Taliban denken nicht an die Zukunft der Frauen.“ Sie schien allen Ernstes zu denken, dass es eigentlich doch auch den Taliban ein Anliegen sein müsste, die Frauen in eine gute Zukunft zu führen. Davon kann natürlich aus westlicher Sicht keine Rede sein. Die Taliban denken offenbar sehr wohl an die Zukunft der Frauen, sie haben sie klar vor Augen, und ihr Name ist: Sklaverei am Mann.
Dennoch hat die junge Frau offenbar wohlwollende Patriarchen vor Augen – und es wird sie geben, mehr oder weniger. Mögen die bärtigen Krieger einer sehr engen Religionsauffassung einen Krieg des Männlichen gegen alles Weibliche zum ersten Prinzip ihres Regimes machen - es scheint auch weiter einzelne Männer zu geben, die die Frauen ihrer Familien aufrichtig lieben. Sie versuchen, mit kleinen Erleichterungen und Tricks Vorteile für ihre Mütter, Frauen, Schwestern und Töchter an den brutalen Prinzipien vorbei zu erlangen.

Patriarchen westlichen Typs

Und doch liegt im Typus des wohlwollenden Patriarchen gerade da, wo er sich realisiert, eine unaufhebbare Verzweiflung. Im selben Maße, wie seine Männlichkeit ihn privilegiert, muss sie ihn krank machen. Kein wirklich liebender Mann und Vater kann sich dauerhaft wohlfühlen, wenn der Preis für sein Selbstsein darin besteht, dass Frauen nichts dürfen außer schuften und den Mund halten. Jedes Mal, wenn er eine Schwester, Frau oder Tochter um ihn leiden sieht, müsste etwas in ihm verzweifelt wünschen, er wäre nicht das, was er, um sozial zu überleben, sein muss: ein ausbeuterischer, dominanter Patriarch.
Ganz anders dürfte die Verzweiflung des modernen wohlwollenden Patriarchen westlichen Typs aussehen. Dieser ist natürlich seit Langem daran gewöhnt, das Wohl und die Zukunft der ihm anvertrauten Frauen im Auge zu haben. Aber je mehr der vermeintliche Wunsch, dass es Frau und Töchtern gut gehen möge, sich zu erfüllen scheint, desto weniger kann dieser Patriarch noch ein echter Patriarch sein.

Für ein faires Miteinander

Seine Verzweiflung wäre also die Verzweiflung, verzweifelt er selbst sein zu wollen, um es mit den Worten des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard zu sagen. Wohlwollen jedenfalls passt weder auf die eine noch auf die andere Weise mit echt patriarchalischen, also stark dominierenden Verhaltensweisen zusammen. Ob es möglich ist, diese einfach wegzulassen? Oder werden wir dann alle langweilige Neutren, bis endlich auch bei uns, begünstigt durch die heiße Fantasie vom wohlwollenden Patriarchen, wieder stramme Hierarchien einkehren?
Ich wünsche uns für hier etwas mehr Zeit, es ohne Patriarchat in fairem Miteinander zu probieren – und den jungen Frauen in Afghanistan, dass sie sich illusionslos ihre Freiheit erkämpfen. Wohlwollende Männer werden sie dabei sicher zuweilen finden. Auf wohlwollende Patriarchen sollten sie besser nicht warten.

Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.

Porträtaufnahme der Religionsphilosophin Gesine Palmer
© Gaëlle de Radiguès
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