Sehnsucht nach der DDR?
Regelmäßig geht es wie eine Schockwelle durch unser Land. In diesem Jahr, des anstehenden November-Jubiläums wegen, geschieht das noch ein bisschen öfter. Die Rede ist von Umfragen, die unter Ostdeutschen angestellt werden, betreffend ihr Urteil über die untergegangene DDR.
Entsetzt wird hernach festgestellt, es herrsche eine verbreitete Unkenntnis oder Schönfärberei oder Verzerrung oder alles miteinander. Muss man am common sense der Leute verzweifeln? Waren Mauerfall und Ende des ostdeutschen Staates ein Irrtum?
Zunächst einmal waren sie eine unumkehrbare Tatsache, herbeigeführt von der Bevölkerung der DDR selbst. Den Zusammenbruch des Staates bewirkten ein völliges wirtschaftliches Versagen und eine mentale Opposition von wenigstens drei Vierteln der Leute. Die ostdeutsche Sehnsucht nach dem Westen, einer der Hauptantriebe für die Wiedervereinigung, beruhte häufig auf Unkenntnis und Irreführung durch das westdeutsche Werbefernsehen. Enttäuschungen durch die erlebte Wirklichkeit waren unvermeidlich. Dass inzwischen, wie eine Umfrage behauptet, mehr als die Hälfte der Ostdeutschen die DDR zurücksehne und ihr der jetzigen Situation gegenüber den Vorzug gebe, halte ich für eine jener skandalösen Ungenauigkeiten, die der gesamten demografischen Umfragepraxis eignen.
Da wird gesagt, vor 1989 habe es zwischen Elbe und Oder keine Bettler, keine Obdachlosen, keine Drogenkriminalität gegeben. Es handelt sich hierbei um beklagenswerte Erinnerungsfehler. Bettelei ist der Ausdruck von materiellem Mangel, und der war in der alten DDR flächendeckend. Obdachlose sind die Folge von fehlendem Wohnraum. Der war in der DDR Alltag. Wahr ist: In der DDR gab es weder Kokain noch Crack noch Heroin, denn das Zeug wurde nicht eingeschmuggelt. Dafür gab es Tablettenmissbrauch, Alkoholismus, das Schnüffeln von Lösungsmitteln und den Verzehr halluzinogener Pilze, alles Drogen, und auch die zerstören die Gesundheit und können Kriminalität erzeugen. Wenn aber behauptet wird, vor 1989 sei es in Ostdeutschland freundlicher oder besser zugegangen, werden die Veränderungen des eigenen Körpers mit jenen des Gemeinwesens verwechselt, und biologisches Altern wird fehlinterpretiert als gesellschaftlicher Niedergang.
Die Meinung, die DDR sei keine Diktatur gewesen, bezeugt jene historische Unbildung, die auch sonst in Deutschland herrscht. Stünden die Dinge wirklich so, wie eine Umfrage mit ihren alarmierenden 56 Prozent DDR-Nostalgie nahelegt, müsste die Linkspartei, vormals SED und PDS, bei Wahlen in ostdeutschen Bundesländern absolute Mehrheiten einfahren. Das tut sie nicht. Sie verharrt bei etwa einem Fünftel, mit abnehmender Tendenz.
Manches lässt sich als bloße Trotzreaktion auf ungeschicktes politisches Vorgehen erklären. Ein Beispiel ist die überflüssige Diskussion, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei oder nicht. Unrechtsstaat ist kein genau definierbarer Begriff, die Staatsrechtslehre benutzt ihn nicht. Die kennt den bürgerlichen Rechtsstaat. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein solcher. Rechtsstaaten zeichnen sich aus durch Gewaltenteilung und unabhängige Justiz. Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus gab es in der DDR keine. Die Justiz operierte, und zwar erklärtermaßen, parteigebunden und parteiisch. Das schloss weder eine ordentliche Straßenverkehrsordnung noch Strafgesetze gegen Diebstahl aus. Beides existierte auch in Hitlers Deutschland. War Hitlers Deutschland deswegen ein Rechtsstaat? Es war eine Diktatur. Auch die DDR war eine Diktatur, aus eigener Definition, nämlich eine solche des Proletariats. Ein bürgerlicher Rechtsstaat war sie nicht. Die Wendung vom Unrechtsstaat ist bloße Polemik, gemacht, Bewohner der untergegangenen DDR zu irritieren, wenn nicht zu kränken.
Wir leben in rauen Zeiten. Banken krachen, Firmen sind insolvent, Leute verlieren ihre Arbeit, der Kapitalismus befindet sich in schweren Turbulenzen. Da mag einem verängstigten Gemüt alles, was anders ist, besser erscheinen, sogar die zu Recht untergegangene DDR.
Rolf Schneider: Der Schriftsteller, Essayist und Publizist stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.
Zunächst einmal waren sie eine unumkehrbare Tatsache, herbeigeführt von der Bevölkerung der DDR selbst. Den Zusammenbruch des Staates bewirkten ein völliges wirtschaftliches Versagen und eine mentale Opposition von wenigstens drei Vierteln der Leute. Die ostdeutsche Sehnsucht nach dem Westen, einer der Hauptantriebe für die Wiedervereinigung, beruhte häufig auf Unkenntnis und Irreführung durch das westdeutsche Werbefernsehen. Enttäuschungen durch die erlebte Wirklichkeit waren unvermeidlich. Dass inzwischen, wie eine Umfrage behauptet, mehr als die Hälfte der Ostdeutschen die DDR zurücksehne und ihr der jetzigen Situation gegenüber den Vorzug gebe, halte ich für eine jener skandalösen Ungenauigkeiten, die der gesamten demografischen Umfragepraxis eignen.
Da wird gesagt, vor 1989 habe es zwischen Elbe und Oder keine Bettler, keine Obdachlosen, keine Drogenkriminalität gegeben. Es handelt sich hierbei um beklagenswerte Erinnerungsfehler. Bettelei ist der Ausdruck von materiellem Mangel, und der war in der alten DDR flächendeckend. Obdachlose sind die Folge von fehlendem Wohnraum. Der war in der DDR Alltag. Wahr ist: In der DDR gab es weder Kokain noch Crack noch Heroin, denn das Zeug wurde nicht eingeschmuggelt. Dafür gab es Tablettenmissbrauch, Alkoholismus, das Schnüffeln von Lösungsmitteln und den Verzehr halluzinogener Pilze, alles Drogen, und auch die zerstören die Gesundheit und können Kriminalität erzeugen. Wenn aber behauptet wird, vor 1989 sei es in Ostdeutschland freundlicher oder besser zugegangen, werden die Veränderungen des eigenen Körpers mit jenen des Gemeinwesens verwechselt, und biologisches Altern wird fehlinterpretiert als gesellschaftlicher Niedergang.
Die Meinung, die DDR sei keine Diktatur gewesen, bezeugt jene historische Unbildung, die auch sonst in Deutschland herrscht. Stünden die Dinge wirklich so, wie eine Umfrage mit ihren alarmierenden 56 Prozent DDR-Nostalgie nahelegt, müsste die Linkspartei, vormals SED und PDS, bei Wahlen in ostdeutschen Bundesländern absolute Mehrheiten einfahren. Das tut sie nicht. Sie verharrt bei etwa einem Fünftel, mit abnehmender Tendenz.
Manches lässt sich als bloße Trotzreaktion auf ungeschicktes politisches Vorgehen erklären. Ein Beispiel ist die überflüssige Diskussion, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei oder nicht. Unrechtsstaat ist kein genau definierbarer Begriff, die Staatsrechtslehre benutzt ihn nicht. Die kennt den bürgerlichen Rechtsstaat. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein solcher. Rechtsstaaten zeichnen sich aus durch Gewaltenteilung und unabhängige Justiz. Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus gab es in der DDR keine. Die Justiz operierte, und zwar erklärtermaßen, parteigebunden und parteiisch. Das schloss weder eine ordentliche Straßenverkehrsordnung noch Strafgesetze gegen Diebstahl aus. Beides existierte auch in Hitlers Deutschland. War Hitlers Deutschland deswegen ein Rechtsstaat? Es war eine Diktatur. Auch die DDR war eine Diktatur, aus eigener Definition, nämlich eine solche des Proletariats. Ein bürgerlicher Rechtsstaat war sie nicht. Die Wendung vom Unrechtsstaat ist bloße Polemik, gemacht, Bewohner der untergegangenen DDR zu irritieren, wenn nicht zu kränken.
Wir leben in rauen Zeiten. Banken krachen, Firmen sind insolvent, Leute verlieren ihre Arbeit, der Kapitalismus befindet sich in schweren Turbulenzen. Da mag einem verängstigten Gemüt alles, was anders ist, besser erscheinen, sogar die zu Recht untergegangene DDR.
Rolf Schneider: Der Schriftsteller, Essayist und Publizist stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.