Buchangaben:
Alexander Grau: "Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung"
Claudius Verlag, München 2017, 128 Seiten, 12 Euro
Leben wir in Zeiten des Hypermoralismus?
Moralisch soll man handeln, das wird uns von klein auf beigebracht. Aber was ist, wenn daraus eine "Hypermoral" wird? Der Publizist und Philosoph Alexander Grau nennt diese Hypermoral die "Leitideologie unserer Zeit", die die gesellschaftliche Spaltung befördere.
Nach dem Niedergang der traditionellen Religionen und Weltanschauungen werde heute die Moral selbst zur "Leitideologie" und dominiere den gesellschaftlichen Diskurs. Diese These entwickelt der Münchner Publizist und Philosoph Alexander Grau in seinem Essay "Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung".
Selbstreferentielle Moral
Immer mehr Lebensbereiche, die früher nicht ins Gebiet der Moral gefallen seien, würden heute von moralischen Erwägungen bestimmt. Ein augenfälliges Beispiel sei die Moralisierung des Konsums.
Der Wert als Ware: Kauf dir eine Haltung!
Xaver Römer macht Pause und trinkt sich mal eben zum besseren Menschen – eine akustische Reflexion über moralischen Konsum.
Der Wert als Ware: Kauf dir eine Haltung!
Xaver Römer macht Pause und trinkt sich mal eben zum besseren Menschen – eine akustische Reflexion über moralischen Konsum.
Aber auch die Zusammenstöße zwischen Linken und Rechten auf der Frankfurter Buchmesse sind für Grau ein Symptom der "Hypermoral", insofern die Veranstalter selbst dazu aufgerufen hätten, ein "Zeichen gegen rechts" zu setzen und sich so als "empörter Bürger" geriert hätten. Dabei bestehe die Gefahr, dass im Namen von Pluralismus und Meinungsfreiheit ebendiese eingeschränkt würden.
Auf die Frage, ob "Hypermoralismus" eher im linken oder rechten Spektrum zu finden sei, gibt Grau keine eindeutige Antwort: "Hypermoral" sei mehr als bloß eine "starke Moral" zu haben. Es gehe vielmehr darum, dass die Moral selbst eine andere Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs erhalte. Während klassischerweise die Moral aus traditionellen Systemen abgeleitet worden sei – etwa der Religion –, habe sich heute eine sich selbstbegründende Moral durchgesetzt, die sich ideologiefrei gebe und einen "objektivistischen Anspruch" vertrete. Moral könne aber niemals ideologiefrei sein.
Grundsätzlich sei Moral unvermeidbar: Sie lasse sich seit Menschengedenken beobachten, zugleich aber auch ihre regelmäßige Infragestellung. Aus dem Nachdenken über Moral habe sich in der Antike philosophische Ethiken entwickelt, mit dem Anspruch, "vernünftig moralische Werte zu begründen". Später sei das Christentum als "Legitimationssystem" hinzugetreten. Die "Hypermoral" sei nun ein Produkt der Säkularisierung seit dem 19. Jahrhundert und des Niedergangs der großen weltanschaulichen Systeme im 20. Jahrhundert. Dadurch entstehe eine "normative Lücke", die schließlich von der Moral selbst gefüllt werde. Dabei sei die Moral zwangsläufig selbst zur Ideologie geworden.
"Moral" vs. "Werte"
Moral basiere nicht zwangsläufig auf "Werten", sondern orientiere sich traditionell an überlieferten "Normen", deren Nicht-Befolgung kollektiv sanktioniert werde. "Werte" hingegen tauchten in der Philosophie erst im 19. Jahrhundert auf, als erstmals versucht wird, eine sogenannte "Wertephilosophie" zu entwickeln. Diese Verschiebung stehe im Zusammenhang mit der sozialen Transformation und Pluralisierung in der Moderne, vor deren Hintergrund die rigiden "klassischen Moralen" mit ihren strengen Regeln nicht mehr funktioniert hätten. An ihre Stelle mussten "weiter gefasste, liberalere" Werte-Ordnungen treten. Zugespitzt formuliert: "Werte sind moralische Regeln, für Leute, die keine moralischen Normen mehr haben."
Die von Grau beobachtete "Hypermoral" vertrete einen positiven Wert-Begriff – wie ihn etwa der Philosoph Max Scheler im frühen 20. Jahrhundert entwickelt habe –, tendiere aber zugleich permanent zu einer "Tyrannei der Werte", wie sie vom umstrittenen Staatsrechtler und NS-Juristen Carl Schmitt kritisiert wurde – wiederum im Anschluss an den Philosophen Nicolai Hartmann. Dieser hatte, im Rahmen seiner eigenen Werte-Philosophie, angesichts der emotionalen Aufladung von Werten befürchtet, sie könnten "zu einer übersteigerten Spannung in der Gesellschaft führen" – so Grau – und zu Konflikten, "die nicht mehr zu vermitteln sind".
Für eine "gesunde Unmoral"
Die Funktion von Moral liege nicht darin, "gut" zu sein oder zu gefallen, sondern sie diene der Orientierung. Menschheitsgeschichtlich trete sie an die Stelle der sich zurückentwickelnden Instinkte. Gegenüber diesen habe Moral den Vorteil, dass sie ein flexibles Regelungssystem darstelle und damit die Anpassung an ganz verschiedene Umwelten erlaube. Vor diesem Hintergrund sei ein gewisses Maß an "Unmoral" dringend erforderlich, damit die Moral nicht erstarre: "weil der moralische Nonkonformist immer wieder dafür sorgt, dass moralische Werte hinterfragt werden" – und damit sicherstellen, dass eine regelmäßige Neuanpassung erfolgt.
Durch die Hypermoral würden immer mehr Lebensbereiche "moralisiert", die vor einigen Jahrzehnten noch gar kein "Thema der Moral" gewesen seien – das zeige sich etwa in den Bereichen Ernährung, Rauchen, Trinken oder Verkehrsverhalten. Aber auch die "hohe Politik" sei davon betroffen: Dort würden immer weniger "technische Fragen" erörtert, weil jeder Diskurs sofort "normativ unheimlich aufgeladen" sei – als Beispiele nennt Grau hier die Energiewende oder Elektroautos.
Gefahren für Politik und Lebenswelt
Jeder "sachliche Einwand" könne so als "kalt" diskreditiert werden. "Der Hypermoralist ist ja immer in einer rhetorisch ganz starken Position, er kann also sein Gegenüber sofort als inhuman, empathielos oder sonstwas disqualifizieren." In der Politik bestehe dadurch die "große Gefahr", dass Entscheidungen voreilig oder einseitig getroffen würden, während auf der "lebenspraktischen Ebene" zu befürchten sei, "dass wir vielleicht in ein Leben gezwungen werden, das dem Einzelnen überhaupt nicht mehr gefällt oder zusagt.
Natürlich sei auch ihm ein moralisch denkender Mensch lieber, als ein Ausländerhasser – so Grau auf die Frage des Moderators. Allerdings komme der "Hypermoralismus" eben gerade nicht "differenziert, nüchtern, rational, analytisch, aufklärerisch" daherkomme, sondern emotional und "ähnlich ressentimentgeladen vielleicht, wie der Mann, der ‚Ausländer raus‘ schreit". Unabhängig von den normativen Sympathien, die man habe, sei der "rechthaberische Anspruch" dieser Attitüde "unangenehm".
Ethik statt Moral
Im Anschluss an den Soziologen Niklas Luhmann begreift Grau die Ethik als Gegengewicht zur Moral: Jene dürfe sich niemals gemein machen mit dem moralisch Guten, sondern müsse "immer beides im Blick" haben: "dass das Gute eben gute Seiten hat und dass das Gute böse Seiten hat" (was ebenso für das Böse gelte). Es gehe darum, aus der Distanz zu fragen, "welche Funktionen verschiedene Wertvorstellungen haben" und zu erkennen, "dass, zumal in der so häufig beschworenen pluralistischen Gesellschaft, es vollkommen legitim ist, ein breites Spektrum an Meinungen und Lebensentwürfen zu haben". Man müsse aufpassen, nicht im Namen von Pluralismus und Meinungsfreiheit ebendiese zu beschränken.
Medien als Katalysator
Auf die Rolle der Medien angesprochen, denen Grau in seinem Essay eine Mitverantwortung zuschreibt, gibt er sich pessimistisch: Er glaube, die Medien könnten gar nicht anders. Die Funktion von Massenmedien, ob Nachrichten oder Spielfilm, liege nicht nur in der Information, sondern vor allem der Unterhaltung – und gerade alles Skandalöse, Empörende, Zugespitzte verkaufe sich eben besser. Das liege in der "Logik" der Massenmedien, weshalb sie auch so gut in das "Zeitalter der Hypermoral" passten. Zugleich befeuerten die Massenmedien damit den Hang zur Moralisierung und vereinfachenden Gegenüberstellungen "gut" und "böse".
Gerade die neuen ‚sozialen Medien‘ beförderten diesen Trend noch zusätzlich – einen "Weg zurück" sieht Grau aber nicht. Zu wünschen sei zwar, dass die traditionellen Medien "den Dampf ein bisschen rauslassen aus den sozialen Medien", indem sie "mehr Kontroverse zulassen", eine direkte Regulierung sozialer Medien hingegen könne nicht funktionieren – und führe im schlimmsten Fall zu einer neuen "Gesinnungsregulierung", wie sie sich derzeit bereits in manchen Gesetzen andeute.
Außerdem in der Sendung:
Philosophischer Wochenkommentar: Leidenschaftlich schweigen – Über den richtigen Umgang mit Rechts
Nicht erst seit den Tumulten auf der Frankfurter Buchmesse erklingt allerorten die Forderung: Man müsse mit den Rechten reden! Aber muss man wirklich? Und bringt das überhaupt was? Arnd Pollmann meint: Man muss sie reden lassen, aber durchaus nicht antworten. In seinem philosophischen Wochenkommentar plädiert er für die Vorzüge eines beredten Schweigens.
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Nicht erst seit den Tumulten auf der Frankfurter Buchmesse erklingt allerorten die Forderung: Man müsse mit den Rechten reden! Aber muss man wirklich? Und bringt das überhaupt was? Arnd Pollmann meint: Man muss sie reden lassen, aber durchaus nicht antworten. In seinem philosophischen Wochenkommentar plädiert er für die Vorzüge eines beredten Schweigens.
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Was tun? Die philosophische Politikberatung
Wer liefert Ideen, die wir in der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage dringend brauchen können? Fünf Gegenwartsphilosophen empfehlen fünf Denkerinnen und Denker, die wir jetzt wieder oder neu lesen sollten.
Im zweiten Teil unserer Reihe empfiehlt uns die Politologin Ulrike Ackermann den englischen Philosophen und Ökonomen John Stewart Mill*: Ein Denker der individuellen Freiheit ebenso wie des Gemeinwohls, dessen Schriften über die repräsentative Demokratie bis heute maßgeblich seien. Aufgezeichnet von Johanna Tirnthal.
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*) Anmerkung der Redaktion: Wir haben die Herkunft des Philosophen und Ökonomen John Stewart Mill korrigiert.