Türkischer Traum in kurdischen Händen
Gewalt, Zensur, Korruption: Die Türkei des Jahres 2015 ist weiter von Europa entfernt denn je, meint der Schriftsteller Zafer Senocak. Doch einen Hoffnungsträger gebe es im Land noch - den kurdischen Politiker Selahattin Demirtas.
Wer aus der Türkei stammte und in ein europäisches Land ausgewandert war, hatte lange Zeit kaum einen Grund zur Freude. Das Ursprungsland hatte ein schlechtes Image, übte bestenfalls als Urlaubsland einen gewissen Reiz aus. Ansonsten war die Türkei eines dieser Länder, die man verlässt, weil sie die Chancen ihrer Bürger, im Leben zu bestehen, eher beschränken als vergrößern.
Scham über den Militärputsch 1980
Gibt es für einen solchen Missstand nur politische und wirtschaftliche Gründe? Irgendwann ist man so weit, die Schuld nicht nur bei der Politik, bei den Entscheidungsträgern des Landes, sondern auch bei sich selbst zu suchen. Man stammt aus einem korrupten Land, aus einem Land der Versager, aus einem Land, in dem der Mensch als solcher nicht viel gilt.
Ich erinnere mich sehr gut an die Zeit nach dem Militärputsch 1980. In türkischen Gefängnissen wurde gefoltert, die Menschenwürde im ganzen Land mit Füßen getreten. Ich war in Deutschland in Sicherheit und schämte mich dafür.
Nun sah es eine Zeitlang so aus, als würde sich die Türkei wieder als Heimat anbieten. Das Land setzte auf einen ambitionierten Reformkurs und legte einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung hin. Auslandstürken fühlten sich in der ursprünglichen Heimat wieder wohl.
Hoffnung auf ein reformiertes Land
Gut ein Jahrzehnt lang konnte man voller Hoffnung sein, aus der Türkei würde ein Stück neues Europa, nur jünger und ambitionierter als der Rest. Irgendwann würden auch die unverbesserlichen Nein-Sager zu einer türkischen EU-Mitgliedschaft ein Einsehen haben.
In den letzten Wochen und Monaten ist nichts von dieser Hoffnung übriggeblieben. Es fließt wieder Blut in der Türkei des Jahres 2015 und nichts ist mehr sicher vor der Willkür des Staates. Die Presse ist es nicht und auch nicht die Opposition. Die Türkei ist weiter von Europa entfernt denn je, nur einen Schritt weg vom bürgerkriegsgeschüttelten Nahen Osten.
Die Machtausübenden haben für alles eine Erklärung. Schon immer fühlten sich Verantwortliche in der Türkei missverstanden. Wer keine Scham empfindet, fühlt sich gerne missverstanden.
Krieg gegen die Kurden? Aber nein, bekämpft wird ja nur der Terror der PKK. Korruption? Alles nur eine Verschwörung jener Kräfte, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollen. Immerhin gibt es in der Türkei die vierzig Prozent des Wahlvolkes, die so ein Programm der Selbsttäuschung und Verfälschung wählen.
Die Scham bleibt vor allem eine Angelegenheit der Auslandstürken, eine Art Muttersprache, die die Einheimischen nicht mehr sprechen. Die Kommunikation mit ihnen wird zunehmend erschwert. Was kann man ihnen schon vorwerfen, ohne selber hochmütig zu erscheinen?
Denn welchen Einfluss üben jene Millionen von Türken aus, die in Europa leben? Gerade unter ihnen gibt es besonders viele Anhänger der Regierungspartei. Erdoğan ist populär. Seine Rhetorik des "missverstandenen" Außenseiters fällt auf einen stabilen Nährboden. Viele Auslandstürken pflegen die Erfahrung, ausgegrenzt zu sein. In ihnen stecken lauter kleine Erdoğans.
Hoffnung auf einen Kurden
Der Traum von einer besseren Türkei, einem Land, das seine Menschen ernährt, sie gleichbehandelt und die Menschenwürde achtet, dieser Traum muss immer wieder neu formuliert werden, damit die Scham vor dem Versagen nicht ihre lähmende Wirkung entfalten kann. Es ist auch ein Akt der Selbstachtung.
Ein junger rhetorisch gewandter Politiker ist es, der diesen Traum heute am überzeugendsten formuliert. Nur: Selahattin Demirtaş ist Kurde und Co-Vorsitzender der Oppositions-Partei HDP. Ob die Türken das akzeptieren können?
Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen. 1998 erhielt er den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift Sirene wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben.