Ich bin Ich - Paula Modersohn-Becker. Die Selbstbildnisse
Museen Böttcherstraße, Bremen
15. September 2019 ‐ 9. Februar 2020
Formal und inhaltlich eine Erneuerin
05:39 Minuten
Paula Modersohn-Becker war eine Pionierin der Moderne und schuf mehr als 60 Selbstporträts. In der ersten reinen Selbstbildnis-Ausstellung zeigen die Bremer Museen Böttcherstraße nun mehr als 50 davon - darunter Werke, die noch nie zu sehen waren.
Alles ist Bewegung, ist Aufbruch: das zerzauste Haar, das lachende Gesicht, die wie zur Abwehr oder einem spaßhaften Erschrecken erhobenen Hände. Im nächsten Augenblick scheint die 21-jährige Paula Becker aus dem Bild zu springen.
Die Pastellzeichnung entstand 1897 und war noch nie zu sehen. Jetzt eröffnet sie die Ausstellung, die 50 der insgesamt 60 überlieferten Selbstbildnisse umfasst, dazu Zeichnungen und einige Fotografien.
"Das war das Modell, was sie hatte. Und deswegen gibt es gerade in der Frühzeit viele Zeichnungen, Pastelle, Aquarelle. Und viele von denen waren in der Tat selten bis nie ausgestellt", sagt Kurator Frank Schmidt, der anlässlich des gerade entstehenden Werkverzeichnisses der Paula Modersohn-Becker-Zeichnungen die Idee zur Ausstellung hatte.
Schmidt: "Sie hat andere auch porträtiert, schreibt dann aber auch: 'Ich hab' da den Herrn Kommerzienrat Sowieso - und der ist dann entrüstet rausgerannt, als ich ihn gezeichnet hatte. Und dann mal' ich mich doch lieber selber, weil - ich bin toleranter mit mir selbst.'"
Verweigerung des Idealisierenden und Schönenden
Chronologisch gehängt führen die Selbstbildnisse der 1876 geborenen und bereits 1907 mit 31 Jahren gestorbenen Malerin eindringlich ihre rasante künstlerische Entwicklung vor Augen: Kurz arbeitete sie sich ab an den Stilrichtungen ihrer Zeit, doch schon bald verweigerte sie alles Idealisierende und Schönende, malte sich mit grotesk breitem Mund, riesiger Nase und gewaltiger Stirn, rang im Selbstbildnis um neue künstlerische Möglichkeiten - und stellte damit immer auch die eine, große Frage, sagt Schmidt:
"'Wer bin ich?' Die sie dann 1906 in einem Brief an Rainer Maria Rilke mit 'Ich bin ich. Und hoffe, es immer mehr zu werden', mit diesem wunderbar paradoxen Satz beantwortet hat. Und ich glaube, das ist doch das Ziel von uns allen: Wir wollen doch wir selbst werden. Ich glaube, das ist das Schwierigste im Leben."
Von Bremen über Worpswede nach Paris
Nach dem Besuch eines Lehrerinnenseminars in Bremen, einer privaten Malschule in Berlin und dem Umzug in das enge aber bezahlbare Worpswede, reiste die 24-Jährige im Januar 1900 erstmals nach Paris, in die lang ersehnte Metropole der künstlerischen Avantgarde. Sie blieb ein halbes Jahr, studierte, besuchte Galerien und Museen - und sie malte eines ihrer seltenen Selbstbildnisse mit konkretem Hintergrund: auf kleinem Format sieht man sie mit selbstbewusst erhobenem Kinn vor einem Fenster, das den Blick frei gibt auf Pariser Häuser.
Schmidt: "Ein erstaunliches, frühes Bild von ihr, das wirklich so den Anstoß gegeben hat, sich auch weiter zu entwickeln. Das hat sie kurze Zeit nach der Ankunft in Paris gemalt. Also: 'Jetzt bin ich hier - Paula Becker - und möchte Malerin werden!'"
Immer wieder zog es sie in die Stadt, ließ sie sich inspirieren, trieb sie ihre Vorstellungen immer weiter - bis sie ihre so charakteristische, grob vereinfachende, archaisch anmutende Form entwickelte, in der sie sich - symbolisch überhöht - mal mit einer Frucht in der Hand malte oder einer Blume.
"Sie sucht immer nach der großen, der einfachen Form. Das hat sie natürlich auch an Gauguin, an Cezanne, an Henry Rousseau geschätzt. Das waren Vorbilder für sie. Sie will weg vom Abbild, vom reinen Abbildhaften der eigenen Person, zum Bild. Also zum Kunstwerk. Also sehr modern! Das ist das Thema für die Künstler am Beginn des 20. Jahrhunderts. Bei Picasso auch", sagt Schmidt.
Befreiung und Experimentierfreude
Die meisten dieser Arbeiten entstanden in ihrem letzten Lebensjahr und bilden den Schwerpunkt der Ausstellung: 1906 hatte sich Paula Modersohn-Becker von ihrem Mann getrennt, war nach Paris gezogen und probierte nun - frei und befreit - radikal Neues. Eine Serie zeigt, wie sie mit einem Abklatschverfahren experimentierte: Von einem noch feuchten Bild nahm sie mit Zeitungspapier Abdrücke, die sie weiter bearbeitete, in abstrakte Masken verwandelte.
Erstmals sind auch alle ihre Selbstakte zusammen mit vorbereitenden Skizzen und Fotografien zu sehen, darunter ihr berühmtes Bild als nackte Schwangere vor hellgrün geflecktem Hintergrund - dem ersten weiblichen Selbstakt der Kunstgeschichte! Aber auch ein Lebensgroßer, in dunklen Erdtönen Gemalter, auf dem sie wirkt wie eine Statue.
Sichtbar wird: Die junge Künstlerin war nicht nur formal eine Pionierin, sondern auch inhaltlich. Doch zu ihren Lebzeiten, als Frauen der Zugang zu Akademien und Aktstudium verboten waren, als eine wie sie von der Gesellschaft abschätzig als "Malweib" tituliert wurde, wusste kaum jemand von diesen Arbeiten, so Museumsleiter Frank Schmidt:
"Die große Überraschung war nach ihrem Tod, als man dann das Atelier geöffnet hat und Leute wie Heinrich Vogeler dabei waren, und dann diesen Schatz gesichtet haben und wirklich überrascht waren, aber auch begeistert waren."
Die Selbstporträts wurden dann schon 1908 ausgestellt. Für ihre Selbstakte aber brauchte es - wie auch für den Zugang von Frauen an die Akademien - erst die Novemberrevolution.