Selbstoptimierung

Zu viel Selbstkontrolle kann schädlich sein

Eine junge Frau in Sportkleidung guckt auf iher Smartwatch.
Wer seine Pflichten gegenüber dem Finanzamt, dem Elternbeirat oder der eigenen Fitnessuhr stets einhält, gilt zwar als diszipliniert und verlässlich, aber vermutlich auch wenig nahbar. © Imago images / Westend61
Ein Einwurf von Christian Thiele |
Erfolg wird oft mit Faktoren wie Selbstkontrolle und Selbstdisziplin verknüpft. Doch wir sollten es mit diesen Tugenden nicht übertreiben, warnt der Coach Christian Thiele. Denn psychologisch betrachtet habe Selbstkontrolle auch ihren Preis.
Haben Sie letzte Woche auch brav Ihren Sportplan verfolgt? Ist es bei der letzten Party auch wirklich bei den zwei Bier geblieben, die Sie mit sich selbst vereinbart hatten? Wirklich? Falls ja: Chapeau! Falls nein: Willkommen im Klub!
Beherrsch dich, kontrolliere deine Impulse, lass dich nicht gehen: Das bekommen wir links und rechts vermittelt, weil man uns Online-Kurse verkaufen will, weil man uns oder unsere Kinder zu weniger Handykonsum erziehen will, weil man uns beim Abnehmen helfen mag.

Erfolg durch Selbstkontrolle?

Selbstkontrolle, hat man uns beigebracht, macht uns produktiver, erfolgreicher in Arbeit, Schule, Uni, vertrauenswürdiger bei Freunden und Freundinnen und im Betrieb. Das stimmt auch alles – einerseits.
Aber die psychologische Forschung entdeckt in den vergangenen Jahren immer mehr Belege dafür, dass Selbstkontrolle auch ihren Preis hat.
Wer immer pünktlich aufsteht; wer seine Pflichten gegenüber dem Finanzamt, dem Elternbeirat oder der eigenen Fitnessuhr stets einhält; wer die Waschmaschine stets korrekt ein- und die Spülmaschine immer richtig ausräumt (kann ich alles nicht von mir behaupten), die oder der gilt als diszipliniert, verlässlich, vertrauenswürdig. Aber eben auch schnell als roboterhaft, wenig nahbar, irgendwie unauthentisch.
Sagt Ihnen der Name Katja Seizinger etwas? Wahrscheinlich nicht. Dabei ist sie eine echte deutsche Skilegende. Seizinger hat in vier unterschiedlichen Skidisziplinen Olympia-Medaillen gewonnen, stand bei 36 Weltcup-Rennen auf dem Siegerpodest, war dreimal Sportlerin des Jahres – und galt stets als trainingsversessene Maschine. „Nun lach doch mal, du blöde Kuh“, rief ein Fotograf nach ihrem Sieg bei den Winterspielen 1994 im norwegischen Lillehammer. Eine Sportlerin der Herzen wurde sie nie.

Hohe Selbstkontrolle - wenig attraktiv

Untersuchungen zur Partnerforschung aus der letzten Zeit legen nahe, dass Menschen mit hoher Selbstkontrolle lange nicht so attraktiv scheinen, wie man lange glaubte. Oder wollen Sie wirklich mit einer stets vorhersehbaren, kühlen, roboterhaften Person Tisch und Bett teilen? Permanente Selbstdisziplin bringt „interpersonale Kosten“ mit sich, wie das die PsychologInnen nennen: Wenig impulsive Menschen, die sich stets im Griff haben, laufen Gefahr, von ihrer Umwelt überladen zu werden, sowohl im Job als auch in der Familie – denn auf sie kann man sich ja immer und überall verlassen. Das kann sie noch unzufriedener mit und einsamer in ihren sozialen Beziehungen machen.
Wer seine Impulse laufend unterdrückt, kann offenbar sogar in der Achtung der anderen sinken, da wir eher zu Menschen aufschauen, die sich auch mal über soziale Normen und Erwartungen hinwegsetzen, und ihr oder ihm wird auch nicht so leicht das vergeben, über das wir beim bekannten Schussel oder der notorischen Zuspätkommerin leicht hinwegsehen.
Auch langfristig scheint es unserer Psychohygiene nicht allzu gut zu tun, wenn wir immer nur die Tugend dem Laster vorziehen: Wenn Menschen in die Vergangenheit zurückschauen, bedauern sie meist, dass sie nicht mehr im Hier und Jetzt gelebt, gehandelt, gesprochen haben. Oder wollen Sie vielleicht auf Ihrem Grabstein stehen haben: „Sie hat sich immer an alle Regeln gehalten“ oder „Seine Pflichten hat er stets erledigt“?

Disziplin - nicht um jeden Preis

Zur Hölle also mit dem Sport- und Ernährungsprogramm, lieber in der Sonne prokrastinieren als für die Uni-Prüfung zu lernen? Nein, das will ich damit nicht sagen. Disziplin und Selbstkontrolle sind schon wichtig. Aber eben nicht immer und um jeden Preis. Wir sollten sowohl im Umgang mit uns selbst als auch in der Erziehung von Kindern den Umgang mit Selbstkontrolle kontrollieren und auch mal fünfe ungerade sein lassen – oder so ähnlich.

Christian Thiele ist Coach und Autor, sein Podcast „Positiv Führen“ ist auf allen großen Plattformen zu hören. Er gehört zum Trainerteam der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie, ist (meist) zuversichtlicher Patchwork-Vater und lebt in Garmisch-Partenkirchen.

Porträt des Coachs und Autors Christian Thiele
© privat
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