Leistungsdruck können wir nicht sehen, nicht riechen. Aber manchmal können wir ihn hören – und zwar nachts, als Zähneknirschen zum Beispiel. Bruxismus heißt das, wenn der Kiefer mit einer kaum vorstellbaren Kraft, mit einem Anpressdruck von bis zu einer halben Tonne pro Quadratzentimeter, die eigenen Zähne abschleift.
Merken die Knirscher selbst oft gar nicht. Ich weiß, wovon ich rede. Häufige Ursache ist ein Übermaß an Stress. Anstatt also einfach zu entspannen, müssen einige von uns ihren hohen Leistungsdruck vom Tag dann im Schlaf durchkauen.
Symptom am Anfang: Zähneknirschen
2019 Routinekontrolle bei meiner Zahnärztin, drei Jahre ist das her. Meine Eckzähne, sagt sie, seien ziemlich abgeraspelt. Ob ich gerade Stress hätte im Job? Was heißt Stress? Ich hatte ein Doku-Filmprojekt angenommen, aber Stress haben doch andere auch. Hatte ich besonders viel? Im Rückblick ist klar: Da war jede Menge Stress und viel Leistungsdruck.
Gegen das Zähneknirschen gibt es übrigens ein Mittel: Meine Beißschiene aus Kunststoff. So wird zumindest der Zahnschmelz geschützt. Symptombekämpfung. Aber wer an die Ursache heran will, an den psychischen Abschliff, an das Zuviel an Leistungsdruck, der merkt schnell, wie schwierig das ist.
"Das Ganze hatte ja einen Vorlauf und es ist nicht so, dass ich hier so gar nicht erkannt hätte, dass es nicht so gesund ist, was ich da betreibe“, erzählt uns Cecilia aus Berlin von ihrer Arbeit in der Geflüchtetenhilfe.
Komplett anderes Leben, aber ähnliches Problem, der Triathlonweltmeister Patrick Lange: "Die Regeneration leidet immens, man schaltet nicht mehr richtig ab, man ist nicht mehr bei sich“, so beschreibt er es.
Stress wird oft nicht als Problem anerkannt
Wenn Menschen Hilfe dabei brauchen, ihren Leistungsdruck wieder zu dosieren, dann helfen Expertinnen wie Helen Heinemann. "Das heißt, ich nutze auch Stress um in Schub zu kommen, es ist erst mal was Gutes", erklärt sie ganz grundsätzlich.
Wichtig dabei sind Pausen, Rückzugsräume. Doch die schwinden in unserer vernetzten Welt, sagt Henner Gimpel, der digitalen Stress erforscht.
Mein Gefühl ist, dass es viele Leute gibt, die negieren, dass sie ein Problem mit Stress haben. Weil ich da ja zugeben würde, dass ich nicht alles unter Kontrolle habe und das will ich weder mir noch anderen gegenüber eingestehen.
Und es gibt, glaube ich, vergleichsweise wenig Leute, die in der Mitte liegen. Die akzeptieren, dass es ein Thema ist, bei dem sie ein Problem haben, und die bereit sind, sowohl darüber nachzudenken als auch offen darüber zu reden, dass sie damit ein Problem haben.
Henner Gimpel
Über ihre Erschöpfung reden, ist für stressgeplagte Menschen ein entscheidender erster Schritt.© Unsplash/Christopher Lemercier
Ein Anfang ist es, wie Henner Gimpel sagt, darüber zu reden, um dann nach Lösungen zu suchen. Darum geht es in diesem Feature und unsere Suche beginnt in einem Seminarraum, im zweiten Stock eines Hotels im Berliner Norden.
Spannung in Kopf und Schultern
"Das, was ja schon ganz spannend war, war das mit den Körperbildern. Was typisch ist: dass der Kopf, die Schultern belastet sind, manchmal die Verdauung“, erklärt Helen Heinemann. Auf einem Flip-Chart füllt sie ein Diagramm mit Kurven. Die für Adrenalin steigt schnell an, und fällt dann wieder ab, Cortisol folgt und bleibt etwas länger hoch.
Im halbrunden Kreis sitzen fünf Frauen. Der Titel des Workshops: „Work-Life-Balancing“. Gerade haben sie hier darüber gesprochen, was Leistungsdruck und Stress bei ihnen auslösen, körperlich.
Zähneknirschen war ein tolles Beispiel. Es zeigt die Spannung, die da im Körper ist. Und worum es jetzt geht, ist zu gucken: Wie kommen eigentlich solche Faktoren, wo ich jetzt denke, was hat das mit meinem Körper zu tun, ich verstehe etwas nicht, ich kann nicht handeln, ich sehe keinen Sinn – warum schlägt sich das auf den Körper?
Helen Heinemann
Helen Heinemann, Pädagogin und Psychotherapeutin, arbeitet seit vielen Jahren in der Burn-out-Prävention, hilft Menschen, mit Leistungsdruck zurechtzukommen. Ihr neues Buch heißt „Warum Stress glücklich macht“. Ja wirklich: "glücklich".
"Weil, wenn wir eine Stressreaktion im Körper haben, sind wir ganz besonders wach und ganz besonders leistungsfähig“, erklärt sie.
Guter Stress, schlechter Stress
Sie erzählt die Geschichte vom Säbelzahntiger und dem Steinzeitmenschen. Gefahr droht, Adrenalin wird ausgeschüttet, die Wachsamkeit steigt. Gehirn, Muskeln, Wahrnehmung, alles arbeitet auf Hochtouren.
Die Flucht gelingt, dank Adrenalin. Nun hilft Cortisol noch dabei, weiter wachsam zu bleiben, nicht einzuschlafen: "Wir sind die Nachfahren derjenigen, die es immer geschafft haben, und deswegen tragen wir auch deren genetisches Programm", erklärt sie.
Leider richtet genau dieses Programm Schaden an: Wenn die Reize überhand nehmen, wenn ein Säbelzahntigermoment auf den nächsten folgt und die Pausen dazwischen verschwinden.
Stressforscher Nicolas Rohleder ist Professor für Gesundheitspsychologie an der Universität Erlangen. "Jede Situation, in die wir kommen, wird über die Sinne ins Gehirn geleitet, vom Gehirn verarbeitet und interpretiert. Und wenn wir im Gehirn zu dem Schluss kommen, dass uns die Situation zum Beispiel bedroht oder im Übermaß herausfordert, dann kann es eben dazu führen, dass wir es als Stress interpretieren“, sagt er.
Er erklärt: „Dann wird das Gehirn letztendlich eine Kaskade aktivieren, die eben dieses Signal in den Körper trägt, zum Beispiel über das Stresshormon Cortisol, was man dann messen kann in Blut und Speichel. Aber auch über zum Beispiel Adrenalin, das ist ein weiteres bekanntes Stresshormon."
Sein Spezialgebiet: herausfinden, was in unserem Körper passiert, wenn wir von Leistungsdruck und Stress sprechen.
"Wenn ich Leistung bringen muss und mich herausgefordert fühle, und ich kann das aber leisten, dann habe ich im Prinzip die gleichen Systeme, die aktiv sind. Beziehungsweise, vor allem das sympathische Nervensystem wird aktiv werden und wird mich letztendlich insgesamt auch in einen Aktivierungszustand setzen, und zwar sowohl im Gehirn als auch im Körper. Dann kann ich bessere Leistung bringen und das ist natürlich auch gut so“, erläutert er.
Zum Stress wird es eigentlich erst dann, wenn ich mich dadurch überfordert fühle, und das kann ganz verschiedene Formen annehmen: Wenn das zu lange dauert oder zu viel gleichzeitig ist, Stichwort Multitasking. Oder wenn zu viele Störungen dazu kommen, dann ist es irgendwann etwas, was zu Stress wird. Und - das ist ganz interessant: Das führt dann eigentlich auch erst dazu, dass dieses System aktiviert wird, welches Cortisol ausschüttet. Also erst dann kommt eigentlich Cortisol dazu.
Nicolas Rohleder
Entzündungsprozesse werden überaktiviert
Das Spannende daran: Zunächst steigt der Cortisolspiegel bei Stress. Aber langfristig, wenn der Stress andauert, wenn aus der akuten Körperreaktion ein Dauerzustand wird, dann sinkt der Cortisolspiegel stark ab, mit Folgen.
"Noch ein bisschen später kommt eine Veränderung des Entzündungssystems, also eine Überaktivierung von Entzündungsprozessen ohne ein Vorliegen einer Infektion. Also sozusagen eine nichtstimulierte Überaktivität des angeborenen Immunsystems“, erklärt er.
Diese letzte Stufe, das ist die, von der wir ziemlich sicher wissen, dass sie krankheitsauslösend ist, und zwar sehr unspezifisch. Also fast alle Krankheiten, die uns in Industrienationen heutzutage so belasten, dass wir auch zum Teil daran sterben, werden von erhöhten Entzündungsprozessen zumindest stimuliert und befördert, wenn nicht sogar ausgelöst.
Nicolas Rohleder
Studien zeigen, dass der Anteil der Gestressten kontinuierlich zunimmt. Helen Heinemann sagt, die Nachfrage für Kurse wie diesen hier übersteigt das Angebot bei Weitem. Durchschnittliche Zeit auf der Warteliste: sechs Monate.
„Ich nutze Stress, um in Schub zu kommen“
Bei all dem macht Helen Heinemann in ihrem Seminar aber immer wieder klar: Stress und Leistungsdruck sind nicht der Feind.
"Stress ist auch erst mal was Tolles. Also das belebt ja und wenn ich gestresst bin, wenn ich den Zug nach Berlin kriegen muss, und ich muss noch packen und ich hasse es, zu packen: Dann mache ich das auf den letzten Drücker. Dann habe ich nämlich einen hohen Stresspegel, dann bin ich hoch konzentriert, sehr gesammelt, dann vergesse ich nicht mehr, als wenn ich das am Abend vorher schon mache. Also ich nutze auch Stress“, sagt sie.
Ein hoher Stresspegel kann hilfreich sein: Wie das funktioniert, erklärt Helen Heinemann am Beispiel des Kofferpackens auf den letzten Drücker. © imago stock&people/ Ralph Peters
Ein anderes Beispiel: „Steuererklärung, bin ich jetzt dran, ich nehme den Stress, den ich habe, bis dann und dann muss es abgegeben sein: Dann warte ich bis auf den letzten Drücker. Das heißt, ich nutze Stress, um in Schub zu kommen. Das hat auch was Gutes. Das Problem ist, wenn ich das Gefühl habe, ich kann es nicht mehr handhaben."
Im Seminar zeigt Helen Heinemann immer wieder auf die Kurven von Adrenalin und Cortisol. So reagiert unser Körper nun mal. Ein mächtiger Mechanismus, um uns fokussiert und wach zu halten. Wenn er aber in Dauerschleife läuft, macht er uns krank. Helen Heinemann will ihren Teilnehmer:innen helfen, diesen Stress, diesen Leistungsdruck, kontrolliert zu nutzen.
In dem Zusammenhang fallen immer wieder drei Begriffe: Handhabbarkeit, Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit.
"Das war das Erste: die Verstehbarkeit. Das hat mit Voraussehbarkeit zu tun. Das Zweite war die Handhabbarkeit. Ich brauche also die Ressourcen, um das, was ich tun will oder soll, auch tun zu können. Also wenn ich zum Beispiel permanent zu wenig Zeit habe, um meine Aufgaben zu erfüllen, dann stresst mich das auch, weil ich meine Aufgaben eigentlich gerne mache oder es gut machen könnte. Das Dritte ist die Sinnhaftigkeit. Also ich muss erkennen, wozu ich das eigentlich mache“, erklärt Cecilia, eine der fünf Teilnehmerinnen.
Die Idee ist halt, möglichst viel von diesen drei Dingen zu haben: Verständnis, Handhabbarkeit, Sinn. Dann geht es einem auch gut.
Cecilia
Druck handhaben, verstehen, mit Sinn füllen
Beruflich arbeitet sie in der Geflüchtetenhilfe, macht dort Rechtsberatung, kümmert sich um andere. Sich die eigenen Probleme mit Leistungsdruck einzugestehen, das gilt vielen als Zeichen von Schwäche. Darüber offen zu reden, trauen sich nur wenige. Cecilia tut es.
Etwa eine Woche nach dem Seminar meldet sie sich bei mir: "Das Ganze hatte ja einen Vorlauf und es ist nicht so, dass ich hier so gar nicht erkannt hätte, dass das nicht so gesund ist, was ich da betreibe. Mir wurde das auch dann von Kolleginnen gespiegelt, sodass ich da vielleicht ein bisschen mehr auf mich aufpassen müsste."
Sie erzählt von Zeiten, in denen sie rund um die Uhr für Ihre Klienten erreichbar ist. Immer wieder eskalieren einzelne Fälle, ihre Familie muss zurückstecken, ihre eigenen Bedürfnisse nimmt sie dabei gar nicht mehr wahr. Bis sie spürt, dass es so nicht mehr weitergeht.
„Dann habe ich geschaut: Was gibt es denn an Burn-out-Prävention? Was wird denn da so angeboten? Und man hört ja viel von diesem Wort und ich hatte mir vorgestellt, es gibt viele Angebote. Aber das stimmt überhaupt nicht. Ich bin dann relativ schnell auf dieses Programm gestoßen“, erzählt sie. „Das war aber immer voll und als ich dann jetzt vor Kurzem diesen Gedanken mit dem Krankenhaus hatte, da habe ich gedacht: So, jetzt versuche ich es einfach noch mal."
„Der Gedanke mit dem Krankenhaus“, davon hatte sie mir im Vorgespräch erzählt. Cecilia hatte einen Fahrradunfall. Prellungen. Schmerzhaft, aber keine bleibenden Schäden. Sie wird ins Krankenhaus eingewiesen. Zwei Tage, zwei Nächte. Und während um sie herum die Menschen schnell wieder raus wollen, denkt sie: „Wie herrlich“, genießt die verordnete Zwangspause vom Leistungsdruck.
"Das war ein Wellnessurlaub für mich. Es war großartig, ich habe so schöne Erinnerung an diese zwei Tage im Krankenhaus“, erzählt sie.
Ausstieg aus der Stressroutine fällt schwer
Nicht jede oder jeder hat das Glück, im richtigen Moment einen leichten Fahrradunfall zu haben, der zeigt, was im Leben nicht stimmt. Der Anstieg von Adrenalin und Cortisol ist eben ein uraltes Überlebensprogramm.
Wenn es aber in Dauerschleife läuft, erklärt Helen Heinemann, wird es ab einem gewissen Punkt sehr schwer, wieder auszusteigen. "Also es macht ja auch Spaß, Leistung zu bringen und sich richtig reinzuschmeißen und dann zu sagen: Hey, wir haben es geschafft. Toll, das ist richtig gut geworden!."
Problematisch wird es dann, wenn Pausen fehlen zur Erholung, wenn es keine Unterstützung und Zugehörigkeit gibt und wenn der Rücklauf stockt. Der Rücklauf an Wertschätzung.
Dann passiert es eben - und das ist das, was Leute hier ins Seminar führt - dass dann ein Reflex erfolgt, nämlich noch mehr Leistung zu bringen. Weil man hofft, mit der erhöhten Leistung einen noch größeren Rücklauf zu kriegen.
Helen Heinemann
Cecilia erzählt mir von der Zeit, in der auch sie in diesem Strudel steckte, und je mehr sie von Schlafproblemen und Erschöpfung spricht, desto mehr sehe ich die Parallelen zu mir. Vor vier Jahren fängt es an: Einschlaf- und Durchschlafprobleme. Dann geht es los mit dem Zähneknirschen.
Damals bin ich Autor eines Films, einer 45-minütigen Dokumentation über den Bankencrash infolge der Lehman-Pleite. Unsere Frage: wie stabil das Finanzsystem zehn Jahre später ist. Mitten in der Drehphase wird der Druck stark und ich frage mich, wie stabil das Team ist, wie stabil ich überhaupt noch bin.
"Man will nicht gestoppt werden"
Ich schreibe damals meine Zeiten auf, um den Überblick zu behalten. 800-Minuten-Tage, also zehn Stunden plus, sind in der Zeit die Regel. Samstag, Sonntag inklusive. Diese Art Stresstagebuch zeige ich Helen Heinemann.
"Da waren Sie in diesem Rausch: Adrenalin, Cortisol. Sie waren quasi hoch aufgedreht und hatten das Gefühl: Nur ich kann es jetzt noch retten. Wie auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger. Nicht stehen bleiben und sagen: So, jetzt reicht es, jetzt mache ich mal eine Pause. Sie rennen weiter“, sagt sie dazu.
„Diese Frage, macht das Rennen in der Geschwindigkeit überhaupt Sinn, so etwas würde man sich nicht fragen", will ich wissen. "Nein, man bleibt auf keinen Fall stehen", sagt Helen Heinemann.
„Man will aber auch gar nicht, dass andere Leute einen auf solche Fragen bringen", bemerke ich und sie stimmt zu: "Nein. Man will auf keinen Fall, dass jemand einen stoppt, und es ist physiologisch: Wir spüren das nicht mehr, dass wir eine Pause brauchen."
Wer auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger das Gefühl hat, ich brauch eine Pause, der ist gefressen worden. Wer durch ein Dornengestrüpp gerast ist und alles blutet, der bleibt nicht stehen und sagt nicht: 'Es blutet, aua', sondern rennt weiter.
Helen Heinemann
Leistungsdruck setzt Energie frei
Patrick Lange, der Sieger von 2017 und 2018, der in beiden Jahren jeweils neue Streckenrekorde aufgestellt hat, fährt mit seinem Rad an den Straßenrand, steigt vom Sattel, krümmt sich.
Patrick Lange verliert den Anschluss. Die Erklärung: körperliches Unwohlsein. Seit einem Jahr kommt aber auch noch etwas anderes dazu. Eine Art Leistungsdruckverweigerung. "Ich merke gerade, ich blockiere gerade komplett. Ich bin einfach mental nicht bereit, morgen mir auf gut Deutsch in die Fresse zu hauen", so beschreibt er es.
Patrick Lange erreiche ich in Salzburg. Gerade kuriert er eine Schulterverletzung aus. Statt sich über die Pause zu ärgern erzählt er mir stolz von seinen Reha-Fortschritten, was trainingsmäßig alles schon wieder geht. Laufen, behutsames Radfahren, Wassergefühl.
Aufmerksam geworden auf ihn bin ich über sein Buch „Becoming Ironman“. Eine Biografie des Ausnahmesportlers Patrick Lange, vor allem aber ein persönliches Buch über den Menschen Patrick Lange, der auf einmal den Leistungsdruck nicht mehr aushält.
Ich denke da vor allen Dingen an das Jahr 2019, in dem ich meine eigenen Erwartungen einfach von vorne bis hinten nicht erfüllen konnte und wo ich mich tatsächlich eher in so einen Negativstrudel trainiert habe. Ich habe zwar trainiert, aber die Einheiten waren einfach immer schlechter als erwartet.
Dadurch wurde dann aber auch die nächste Einheit auch noch mal eine Spur schlechter, also es wurde kein richtiger Trainingsfortschritt, sondern es war so ein Trainingsrückschritt, obwohl ich trainiert habe. Und zu 95 Prozent war das sicherlich eine mentale Komponente.
Patrick Lange
Nur aktiviert oder schon getrieben?
Wenn Patrick Lange erzählt, dass er im Training oft mittelmäßig performt aber sich dann im Wettkampf übertrifft, dann passt das gut zu den Erklärungen von Helen Heinemann, wenn sie das aktivierende und beflügelnde Gefühl beschreibt, das Stress auslösen kann.
Auch Patrick Lange kennt den Schub durch Leistungsdruck, „weil der auch Energien freisetzt. Natürlich. Auf der anderen Seite muss ich in einem positiven ‚state of mind‘ sein. Das heißt, ich muss mich darauf freuen. Ich muss mich darauf freuen, mir an dem Tag Schmerzen zuzufügen. Also ich muss in der Lage sein, mir zu sagen: 'Das ist das jetzt wert'."
Handhabbarkeit, Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit, das scheint bei Lange selbstverständlich da gewesen zu sein. Doch dann beschreibt Lange in seinem Buch ein Gefühl des Getriebenseins und, auch wenn ich kein Hochleistungstriathlet bin, sondern nur Journalist und Autor eines Films, weiß ich genau, wovon Lange spricht.
"Die Regeneration leidet immens, man schaltet nicht mehr richtig ab. Man ist einfach nicht mehr bei sich. Das Getriebensein, es steht ja auch als Bild schon da, wenn man sich das vorstellt, dass hinter einem irgendjemand her ist, sozusagen“, beschreibt er. „Man ist eigentlich mehr auf den, der einen treibt, fokussiert als auf sich selber. Ich glaube, ich habe einfach den Weg zu mir wieder gefunden."
Vielleicht hätte er seinen Weg heraus dieser Situation auch allein gefunden. Dass er diesen speziellen Weg gehen konnte, verdankt er einem Zufall.
"Es muss Erholungsphasen geben"
Im Moment der tiefsten Krise trifft er auf Björn Geesmann. "Niemand kann irgendwie den ganzen Tag mit Leistungsdruck umgehen, sondern es muss auch immer mal wieder Erholungsphasen geben, genau wie beim Training und Anpassungsprozess auch. Das gilt für das Mentale genauso", erklärt er.
Björn Geesmann ist Sportwissenschaftler, Unternehmensgründer, Mentalcoach. Mit ihm schafft es Patrick Stück für Stück, sich selbst besser zu verstehen, neben den sportlichen Messwerten auch die mentalen Werte ins Training mit einzubeziehen.
"Ob man Hawaii gewinnen will oder ob man Hawaii schon mal gewonnen hat. Also klar, es ist das gleiche Rennen, aber die Umgangsformen, die Öffentlichkeit, auch sicherlich der Druck von außen, irgendwo die Konkurrenzsituation, diese Favoritenrolle und so etwas: Das sind ja ganz andere Dinge, die man einnimmt“, sagt er.
Björn Geesmann erarbeitet mit Patrick einen völlig neuen Trainingsansatz. Eng eingebunden: der Physiotherapeut. Klare Rollenverteilungen, klare Strukturen und Zielsetzungen. Stichwort Handhabbarkeit und Verstehbarkeit.
Patrick ist jemand, der sehr auf Sicherheit bedacht ist, Sicherheit im Training beziehungsweise im Sport. Und das ist das Schöne. Das lässt sich herbeiführen, nicht zuletzt über quantitative Erhebung, also ganz simpel: Es gibt halt im Triathlon ganz viele Möglichkeiten, Leistung auch ausfindig zu machen, also auch zu messen und auch quasi tagtäglich zu messen und auch die Tagesform zu berücksichtigen und so weiter.
Wenn man das sauber aufzieht und eine entsprechende Begründung dafür hat, warum es jetzt gerade besonders gut oder vielleicht weniger gut läuft, oder wie auch immer, dann gibt es natürlich eine enorme Sicherheit zu wissen: Wo stehen wir jetzt gerade und was brauchen wir, um wieder dahin zu kommen, wo du dich sehr gut gefühlt hast.
Björn Geesmann
Spaß, Stimmung und Wertschätzung sind wichtig
Geesmann und Lange erzählen mir, wie wichtig für sie Pausen und Erholung sind. Wie entscheidend für sie neben aller Professionalität die Stimmung im Team ist, die gegenseitige Wertschätzung und vor allem der Spaß. 2021 zeigt Lange beim Ironman in Roth, wie gut das funktioniert hat. Auf der Strecke, auf der er schon einmal eingebrochen ist, die er noch nie gewinnen konnte, feiert er an diesem Tag sein Comeback.
Die offensichtliche Challenge für einen Triathleten ist es, ein Rennen zu gewinnen, die eigentliche für Patrick Lange war es, offen mit seiner mentalen Blockade umzugehen.
"Ich habe mir in den letzten zwei Jahren viel Gedanken darüber gemacht: Was ist eigentlich der Druck, den ich verspüre vor Wettkämpfen, wer macht den eigentlich? Ich bin da wirklich der Meinung, dass das von außen hier nur auferlegt wird und man selber das eben entweder annimmt oder man das an sich abprallen lassen kann“, sagt er.
Für mich ist wichtig, dass ich das kontrollieren kann, was ich kontrollieren kann. Also dass ich wirklich das, was ich selbst beeinflussen kann, im Auge behalte und mich darauf fokussiere.
Patrick Lange
Fokussieren und regenerieren, um den Druck zu steuern
Langes Geschichte zeigt, dass Leistungsdruck nur dann funktioniert, wenn wir es schaffen, uns zu fokussieren und zu regenerieren. In seinem Buch erzählt Patrick Lange von seinem Weg zum sportlichen Spitzenathleten.
Spitzentriathlet Patrick Lange: Für sein Buch bekam er auch von direkten Konkurrenten im Gespräch eher Lob.© picture alliance/dpa
„Becoming Ironman“ beschreibt aber in Wahrheit seinen Weg, den eigenen Leistungsanspruch, den persönlichen Druck zu steuern. Er erzählt von der Zeit, in der er die Welt nicht mehr verstand und draußen alle munter über den Zustand seiner Psyche spekulierten. "Becoming ironman" - das hieß für ihn, diese Situation besser zu verstehen und zu händeln, über die Schattenseiten zu sprechen um die günstigen Anteile für sich zu nutzen und sich zu öffnen.
Als wir sprechen, ist Lange immer noch überwältigt von den Tausenden Zuschriften. Für ihn ein Beleg, dass er hier einen Nerv getroffen hat. "Da gab es auch von direkten Konkurrenten im Gespräch eher Lob und Interesse und auch von deren Seite eine gewisse Öffnung", erzählt er.
Gut möglich, dass einige von Langes Erkenntnissen mir damals bei meinem Filmprojekt geholfen hätten. Einfach um zu merken, dass dieses Zuviel an Leistungsdruck nicht so sehr krasse Ausnahme ist, sondern vielmehr Regel. Bei Leistungssportler:innen, bei Menschen in der Geflüchtetenhilfe, bei Journalistinnen und Journalisten.
"Ja, wie du sagst. Ich hoffe, man schafft da eine gewisse Aufmerksamkeit. Ich kann es nicht verstehen, warum es gesellschaftlich nicht anerkannt ist, warum sich jemand komplett diskreditiert, warum wir gesellschaftlich im Jahr 2022 nicht in der Lage sind, da offen drüber zu reden, uns auszutauschen“, sagt Patrick Lange.
Gesellschaftlicher Austausch über Leistungsdruck fehlt
Wenige Stunden bevor ich diese Zeilen schreibe, höre ich zufällig den Podcast, „Feel the news“ von Jule und Sascha Lobo. Folgentitel: Karrierekiller Privatleben. Aufhänger ist der Rücktritt von Familienministerin Anne Spiegel. Von ihrem speziellen Fall, dass sie während ihrer damaligen Zeit als Umweltministerin in Rheinland-Pfalz während der Hochwasserkatastrophe Urlaub gemacht und über den Zeitraum gelogen hatte, kommen die beiden im Laufe der Sendung zu sich.
Sie erzählen von dem Wunsch, im Leben immer alles mitzunehmen, immer perfekt abzuliefern. Bei mir waren es knirschende Zähne, bei Sascha Lobo rote Flecken. Probleme mit dem Schlaf kennt jede undj. Dann erzählt Sascha von seinem Zusammenbruch.
Das Thema öffnen, andere und sich besser verstehen. Patrick Lange aber auch Sascha und Jule Lobo, Cecilia und ich, wir sind im Alltag alle viel weniger Ironmen und Ironwomen, als wir denken. Wenn das jede und jeder einzeln und für sich im stillen Kämmerlein erkennt, ist das ein Anfang.
Wenn wir drüber reden: besser. Vielleicht tut sich da ja gerade etwas – zumindest in dem Punkt, dass wir jetzt darüber sprechen. Vielleicht könnten digitale Technik und Smartphone-Apps – statt immer mehr Stress zu verursachen – sogar helfen, ihn zu reduzieren.
Technologie zur Stressreduktion
"Obwohl ich mich beruflich viel mit dem Thema digitaler Stress beschäftige, habe ich trotzdem selbst auch übermäßige Level von digitalem Stress und ärgere mich immer wieder, wie schlecht ich eigentlich darin bin, die zu managen", erzählt Henner Gimpel.
Der Professor für digitales Management an der Universität Hohenheim forscht interdisziplinär zum Thema digitaler Stress. "Da gibt es doch irgendeinen Spruch mit dem Schuster, der selbst die schlechtesten Schuhe hat oder so was“, merkt er selbstkritisch an.
Das Besondere beim digitalen Stress: Er drängt und verbindet alle Lebensbereiche miteinander. Deswegen gilt genau diesem Sektor besondere Aufmerksamkeit.
"So richtig Fahrt aufgenommen hat es eigentlich dann um die Jahre 2007, 2008, 2009 herum. Da sind ein paar zentrale Arbeiten, auf die wir uns auch heute noch oft beziehen, erschienen“, sagt er.
2004: Facebook geht an den Start. 2007: das erste iPhone.
Wahrscheinlich gibt es jetzt so ungefähr die letzten fünf Jahre noch mal wieder neues Level, weil jetzt wirklich die Digitalisierung einfach in jedem Berufsbild, in jedem Unternehmen, im Leben von nahezu jedem – in Deutschland wahrscheinlich zumindest – und auch weltweit von sehr vielen Leuten irgendwie ist.
Henner Gimpel
Stress messbar machen
Mit der Digitalisierung sind die Möglichkeiten gewachsen, aber auch die Anforderungen. Wenn ich abends in meinem privaten Mailpostfach auf berufliche Mails stoße, wenn mein Arbeitgeber anhand von Log-Dateien sieht, wann und wie schnell ich arbeite, wenn ich immer alles leisten kann, dann ist da immer auch Druck, es zu tun.
Rätselhaft ist aber weiterhin, warum einige von uns gut damit klarkommen, während andere krank werden, wie viel Leistungsdruck für die Einzelne, den Einzelnen langfristig gut ist.
Antwort darauf soll ein Forschungsprojekt liefern. Name: ForDigitHealth. "Dazu haben wir jetzt regelmäßig Treffen, bei denen wir versuchen, diese verschiedenen Arten von Daten, wo jeder sich nur mit einem Teil davon auskennt, gemeinsam richtig zu interpretieren. Damit wir möglichst viele Erkenntnisse aus diesen Daten rausziehen können“, erzählt Henner Gimpel.
Weil Psychologinnen, Fachleute für Digital Management, Biomediziner hier zusammenarbeiten, braucht es viele Meetings. Zu einem von diesen lädt mich Henner Gimpel ein. Die Forschenden interpretieren Daten von jungen, digital kompetenten Berufstätigen, die eine spannende Frage aufwerfen.
In Fragebögen hat diese Gruppe angegeben, beruflichen Stress und Leistungsdruck sehr wohl zu spüren. Dabei sind ihre Biomarker aber unauffällig. Wir haben eine Wahrnehmung dafür, was und wie viel Digitales uns guttut. Wenn wir das als Frühwarnsystem ernst nehmen, können wir steuern, bevor Stressfolgen körperlich und chronisch werden. Es geht um exakte Beobachtung. Genau hier soll die digitale Technik, die uns so oft vor Herausforderungen stellt, konkret helfen.
Überforderung wahrnehmen lernen
"Wenn jemand Texte tippt, dann können wir uns anschauen: Wie ist die Stimmung, die in diesen Texten rüberkommt? Wir erkennen, ob jemand viel Tippfehler macht. Und jetzt ist die Frage: Tippfehler kann einerseits ein Auslöser von Stress sein. Ich will doch jetzt nur kurz diese Nachricht schreiben. Und jetzt habe ich schon wieder etwas falsch geschrieben und muss es löschen“, erklärt Henner Gimpel. „Es kann aber auch eine eine Auswirkung von Stress sein. Wenn ich gestresst bin, dann tippe ich nicht mehr so genau und mache Fehler."
Um Ursache, Wirkung und Kontext beim Entstehen von Stress besser zu verstehen, wollen Gimpel und seine Kolleg:innen auf all das zurückgreifen, was das Smartphone hergibt, zum Beispiel auf die Informationen zur Batterietemperatur.
"Was hat Batterietemperatur mit Stress zu tun? Spannenderweise ist es ziemlich hoch mit Stress korreliert, hängt statistisch damit zusammen. Die Vermutung ist, weil die Smartphone-Akku-Temperatur damit einhergeht, wie intensiv ich das Smartphone gerade nutze, wie viel Daten ich sende und empfange. Aber auch, wie viel verschiedene Apps offen sind, wie viel Rechenleistung ich dem Smartphone gerade abverlange“, erklärt er.
Und weiter: „Die Rechenleistung, die ich dem Smartphone abverlange, hat etwas damit zu tun, wie intensiv ich es nutze und auch, wie viel ich eben mir selbst abverlange, in der Nutzung, und von daher, das hätte ich im Vorhinein nicht erwartet, sehen wir aber auch da einen Zusammenhang."
Weil Stress zu Anspannungen im Kehlkopf führt, klingen wir dann häufig zittrig und leise, wir sprechen monotoner, eine App soll das analysieren. Wichtig ist auch die Kamera…
"Man sieht an der Farbänderung des Gesichtes den Pulsschlag. Das können wir Menschen nicht erkennen, aber bei jedem Pulsschlag wird mehr Blut durch unsere Adern geführt. Damit wird unser Gesicht ein bisschen roter. Da reichen Smartphone-Kameras aus, um das zu erkennen, und damit können Sie über das Bild ablesen, welche Herzfrequenz jemand gerade hat“, erklärt er.
Das Spannende an der Stelle ist die Herzfrequenzvariabilität. Ist die Herzfrequenz superkonstant: Auch das spricht wieder für Stress, weil ich sehr angespannt bin und der Körper keine Variation erlauben kann. Oder ist der Abstand zwischen zwei Pulsschlägen immer ein ganz klein bisschen anders? Hohe Herzratenvariabilität, was für einen starken Entspannungszustand spricht.
Henner Gimpel
Selber ausprobieren wollte ich die App, dasging aber leider nicht. Henner Gimpel hofft, dass sie noch 2022 fertig wird.
Entspannende Routinen finden
Bis dahin müssen wir halt mit dem arbeiten, was wir haben. Wir wissen: Leistungsdruck und Stress sind uralte Programme, die in früheren Säbelzahntiger-Zeiten unser Überleben gesichert haben. Heute ist es an uns zu lernen, wie wir sie so einsetzen, dass sie uns nutzen, aber nicht krank machen.
Dabei können wir aus Geschichten lernen, wie denen von Cecilia aus der Geflüchtetenhilfe und dem Ironman Patrick Lange. Wir können uns Hilfe holen bei Expertinnen und Experten wie Helen Heinemann, die sagt: "Es geht also zielorientiert nicht so sehr darum, wie arbeiten sie weniger, sondern, was gibt es außer der Arbeit noch in ihrem Leben?"
Vor einem Jahr konnte ich vielleicht eine Meise am Gesang erkennen. Seit Herbst gehen schon Zaunkönig, Zilpzalp, Heckenbraunelle, Singdrossel, Mönchsgrasmücke, Grünfink. An einem guten Morgen höre ich drei oder vier von denen und seit Herbst klappt das sogar regelmäßig.
Immer wenn die Kinder aus dem Haus sind, bevor ich an den Schreibtisch gehe, mache ich eine Runde durch unser Viertel, runter zum Rheinufer. Manchmal mit Fernglas und Vogelstimmen-App, manchmal auch nicht. Eine Routine: 20 Minuten, die guttun, helfen mir dabei, danach den Fokus zu finden auf das, was am Tag wichtig ist.
Diese und andere kleine Routinen helfen mir, dass nicht der Stress zur Routine wird. Sie helfen, weniger zu knirschen und besser darin zu werden, den eigenen Leistungsdruckpunkt - immer wieder aufs Neue - zu finden.
Autor und Regisseur: Stephan Beuting
Technik: Uwe Breunig
Redaktion: Michael Böddeker