Selbstoptimierung

Triumph über das Handicap

Besprochen von Thomas Jaedicke |
Ist ein Behinderter, der über die neuesten Techniken verfügt, um seinen Körper zu optimieren, überhaupt noch behindert? Das Beispiel des Sprinters Oscar Pistorius zeigt für die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser den fatalen Willen zur "absoluten Selbstbemeisterung".
"Heute ist vom unvollkommenen Körper zu sagen, dass jeder selbst schuld ist, wenn er ihn hat." Mit diesem Zitat von Elfriede Jelinek umreißt Karin Harrasser gleich zu Anfang ihres Buches die gesellschaftliche Dimension ihres Themas: Wer sich moderne biotechnische Errungenschaften zur Optimierung des Körpers nicht leisten kann oder will, wird abgehängt. Gnadenlos.
Prominentester Kronzeuge für diese These ist Oscar Pistorius: Der südafrikanische Prothesenläufer steht in Harrassers brillanter Analyse stellvertretend für ein übermenschliches System, das keine Grenzen und Schwächen mehr kennt. Pistorius, bei Olympischen Spielen und Paralympics gleichermaßen am Start, merzt mit seinem Willen zur "absoluten Selbstbemeisterung" all dies aus. Gesellschaftlich und kulturell sende der Blade Runner mit seiner individuellen Leistungsbereitschaft ein fatales Zeichen: Wer Supermenschen zur Norm macht, bestätigt auch die Ideologie der permanenten Selbstoptimierung, die Ausdehnung der Wertschöpfungskette auf die ganze Persönlichkeit“.
Und der Rest? Pistorius' Triumph über sein Handicap schraube die allgemeinen Erwartungen immer höher: "'Behinderte' Personen sind kein Problem, so lange sie Paralympioniken, Filmemacher oder Opernsänger sind, Transgender-Personen ebenfalls nicht, so lange sie ihren Platz in ihrer kreativindustriellen Subkultur einnehmen und nicht dem Gesundheitssystem zur Last fallen." Die Autorin sieht in den Defiziten der "Anderskörperlichen" sogar eine Triebkraft für die steigenden Anforderungen an jeden Einzelnen. Gerade ihre Schwächen qualifizierten sie als besonders geeignet für technische Verbesserungen. Technische Erweiterungen werden so zur Evolution mit anderen Mitteln.
Sensible Beobachtung, scharfe Analyse
Ist also ein Behinderter, der über die neuesten Techniken verfügt, um seinen Körper zu optimieren, überhaupt noch behindert? Kann er nicht sogar viel mehr leisten als andere? Karin Harrasser vertieft diese spannenden Fragen, die der Streit um Oscar Pistorius' Startrecht bei den Olympischen Spielen in London erneut aufgeworfen hat. Wie im Klappentext versprochen, verbindet sie sensible Beobachtung mit scharfer Analyse, nur leider nicht immer in der ebenfalls angekündigten "angenehm lesbaren Form". Sehr oft erschlägt die Autorin ihre Leser mit einem hochintellektuellen, sehr komplizierten wissenschaftlichen Nominalstil.
Trotzdem lohnt sich die Lektüre, weil Karin Harrasser mit der Diskussion um Pistorius' Beinprothese, die superschnellen Geparden-Beinen nachempfundenen wurde, auf „das gefährliche Terrain des Monströsen“ führt, das "auf der einen Seite von nicht-denkenden Tieren und auf der anderen Seite von Übermenschen, Robotern und Cyborgs umstellt ist". Ketzerisch fragt sie weiter: Wer ist überhaupt noch Mensch? Mehr noch: Ist die Zeit, in der der Mensch besonderen rechtlichen und sozialen Schutz genießt, am Ende vorbei? Denn mit den immer größer werdenden Möglichkeiten der technischen Erweiterbarkeit schrumpft auch der Raum des "exklusiven Menschseins".

Karin Harrasser: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen
transcript, Bielefeld 2013
139 Seiten, 17,99 Euro

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