Der spirituelle Weg des Mussar
Mussar ist das hebräische Wort für "Moral" oder "Anleitung". Da die meisten Mussar-Lehrer von Nazis ermordet wurden, geriet die Lehre in Vergessenheit. Erst in den 90er-Jahren entdeckten Juden in den USA Mussar neu - in Europa gibt es seit zwei Jahren ein Mussar-Zentrum.
Die Musik kommt vom Band. "Olam chesed yibaneh" singt ein Rabbi mit seiner Gemeinde in den USA. Und in Köln beim Workshop hören sie zu. Gut zehn Teilnehmer – Juden und Christen – haben sich in der evangelischen Melanchthon-Akademie eingefunden und sind der Einladung des jüdischen Kölner Kulturvereins "Milch und Honig" gefolgt, um etwas zu erfahren über die Lehre von Mussar.
"Der Grundgedanke von Mussar ist, dass Menschen in der Lage sind, sich zu verändern. Man braucht etwas Hilfe. Und darum haben weise Rabbiner in der Vergangenheit ein System aus Texten und einige praktische Übungen entwickelt. Es geht darum, dass du dich entwickelst – hin zur bestmöglichen Version von dir selbst",
sagt Daniël Beaupain, einer der Initiatoren des europäischen Mussar-Instituts beim Treffen in Köln.
"Zuerst musst du wissen, wer du bist, und danach, was du sein möchtest. Was du dazu brauchst, sind einige meditative oder kontemplative Techniken, damit du ins Gespräch kommst mit dir selbst. Du kannst auch beten, um in Kontakt mit Gott oder dem Universum zu treten und herauszufinden: Wer bin ich? Und wer möchte ich sein?"
Eigene Potenziale ausschöpfen
Um an sich zu arbeiten und das eigene Handeln zu verbessern, sei neben Meditation, Gebet und Kontemplation wichtig, täglich einen Text zu lesen, aus der Torah, dem Talmud oder vom Gründer der Mussar-Bewegung Rabbi Israel Salanter. Geignet seien auch Texte von Maimonides, Kabbalisten oder dem zeitgenössischen Mussar-Lehrer und Rabbi Avi Fertig. Die Lektüre der Texte dürfe aber nie zum Selbstzweck werden, sondern müsse immer gerichtet sein auf den Alltag und die Frage, wie es gelingen kann, die eigenen Potenziale voll auszuschöpfen.
"Nütze ich alle Potentiale, alle Gaben, die mir geschenkt wurden? Mache ich das wirklich? In den meisten Fällen lautet die Antwort: Nein. Wir machen die gleichen Fehler in unserem Leben immer wieder und wieder."
Der Mensch trage nun einmal die Neigung des Bösen in sich. Beaupain erwähnt zwei Wölfe, die in jedem Menschen wohnten: ein böser und ein guter. Beide kämpfen immerzu miteinander, und am Ende behalte derjenige die Oberhand, den der Mensch am meisten nähre.
Bei Mussar gehe es genau darum: das Gute im Menschen zu fördern. Dazu empfiehlt der Referent erst einmal, Tagebuch zu führen, um sich alle Nuancen des eigenen Seelenlebens vor Augen zu führen. Rund 50 idealtypische Eigenschaften des Charakters, sogenannte Middot, gebe es: Achtsamkeit etwa, Aufrichtigkeit und Geduld.
"Wenn wir deine Geduld testen, dann sage ich: Geh zum Supermarkt und such die längste Schlange aus. Nimm wahr: Was sind deine Gefühle, deine Gedanken, die du hast? Und dann sag mir, warum du sie hast. Du tust das Gleiche immer und immer wieder – bis es nicht mehr wichtig ist, dass du in der längsten Schlange stehst. Dann hast du die Übung 'Geduld' gemeistert."
Im Seminar sollen sich die Teilnehmer an der Middah "Bescheidenheit" versuchen. Daniël Beaupain verteilt einen Zettel, auf dem ein Text aus dem Buch "Cheschbon Ha-Nefesh", auf Deutsch: "Rechenschaft der Seele" von Mendel Lewin abgedruckt ist, einem Repräsentanten der jüdischen Aufklärung.
Danach geht es um die Middah "Ehrlichkeit". Und es zeigt sich, dass es gar nicht so einfach ist, diesen Begriff zu definieren. Ein Teilnehmer, der als psychologischer Therapeut arbeitet, weiß um die Ambivalenzen.
"Es gibt eine Ehrlichkeit, die ist ausgesprochen destruktiv, die ist ausgesprochen gefährlich, weil sie zersetzend wirkt. Ich erinnere mich an eine alte Lehrerin, Ruth Cohn, die in therapeutischen Kontexten mal von selektiver Authentizität sprach. Worunter sie verstand: dass alles, was ich sage, wahr sein sollte, ich aber nicht alles sagen soll, was wahr ist. Und zwar mir Rücksicht auf den anderen, mit Rücksicht auf die andere Person. Die Fraglosigkeit – Ehrlichkeit ist um jeden Preis etwas Positives – löst sich auf in eine situationsabhängige, persönlichkeitsabhängige Ambivalenz."
Ambivalenzen wahrnehmen
Daniël Beaupain erwidert, dass es die Aufgabe des Menschen sei, diese Ambivalenzen wahrzunehmen und sich auf den Weg zu machen, möglichst gut zu handeln – auch wenn das gewünschte Ergebnis nicht immer eintrifft.
"Es geht um den Prozess, nicht um das Ziel. Die Belohnung liegt im Bemühen. Ich bin ein Optimist und denke, wenn wir etwas verändern möchten und die richtige Hilfestellung bekommen, werden wir weiter kommen als wir glauben. Ich glaube an den göttlichen Kern in jedem Menschen."
Wichtig ist für Daniël Beaupain, dass Mussar zwar ein integraler Bestandteil des Judentums ist, aber auch Nicht-Juden sogenannte Mussardisten werden können. Mussar ist für ihn eine Methode, eine Anleitung zum guten Leben – für jedermann.
"Wenn du zu einem Mussar-Lehrer der alten Schule gehst, wird er Nicht-Juden nicht als Schüler akzeptieren, was ich verstehe. Aber ich handhabe das anders, und ich bin frei, das zu tun."
In den Niederlanden gebe es bereits fünf Mussar-Gemeinden, alle im Großraum Amsterdam.
"In unseren Gruppen haben wir Nicht-Juden und Juden. Wir haben Mitglieder mit einem orthodoxen Hintergrund und mit einem liberalen Hintergrund. Und wir haben Mitglieder, die gar nicht an Gott glauben."
Durch diese Öffnung auch für Nicht-Juden unterscheidet sich der europäische Zweig in den Niederlanden von Mussar-Gemeinden in den USA. Welchen Weg die Mussardisten in Deutschland wählen, ist noch unklar. Von März bis Juni bietet der Verein "Milch und Honig" in der Kölner Synagogengemeinde erst einmal einen Kurs an, der offen für alle ist, die sich für Mussar interessieren.