Selbstschutz

Rohe Gewalt als Antwort auf rohe Gewalt

05:19 Minuten
Ineinander verkeilte Arme und Fäuste zweier Kämpfer auf einer Matte.
Angriff ist die beste Verteidigung: Das ist die Philosophie des Trainers Jens Misera. © Eyeem / Miljan Zivkovic
Von Maria Caroline Wölfle |
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Wie soll man sich verteidigen, wenn man angegriffen wird? Der Trainer Jens Misera rät von gängigen Selbstverteidigungstechniken ab. Stattdessen lehrt er den kompromisslosen Angriff. Kann man das: sich Gewalt antrainieren?
Ich umklammere den Kopf von Erik, fest mit meinem Arm, packe sein Kinn mit der einen Hand und schiebe den Daumen der anderen in Zeitlupe an seiner Nase entlang Richtung Auge. Wuäääh – bei der Vorstellung schüttelt es mich. Jens Misera dagegen erklärt gelassen, dass wir so den Sehnerv durchtrennen und unseren Gegner kurz ausschalten können.
"Was wird passieren? Der Augapfel wird entweder zerplatzen dabei oder ganz bleiben und rauskommen."
Wie ich blicken die dreizehn anderen Kursteilnehmer gebannt auf Misera. Der ist durchtrainiert mit athletischer Figur und Grübchen in den Wangen. Ich stehe auf blauen Matten in einem Trainingsraum in Berlin-Kreuzberg. Zwei Tage lang mache ich das Zielpunkttraining. So nennt Misera seine Kurse. Ich soll lernen, bei einem Angriff nicht nur zu reagieren, sondern selbst anzugreifen.
Also schlage, stampfe, ramme ich gezielt, damit die Blase platzt, die Leber reißt oder das Schlüsselbein bricht? An diese Vorstellung muss ich mich erst noch gewöhnen.
Besonders wichtig: mein Körpergewicht. Wenn ich es richtig einsetze, kann selbst ich mit meinen 45 Kilo und 1,60 Meter so einiges anrichten.
Irgendwann liegt Erik mit dem Bauch auf dem Boden. Ich stampfe mit dem flachen Fuß auf seinen Nacken. Wäre das tödlich? Ja. Das fühlt sich falsch an. Ich will niemanden umbringen.
Wenn es um mein Leben geht, darf ich davor aber nicht zurückschrecken, findet Jens Misera: "Wenn Du Dir Regeln auferlegst, sagst: 'Dies und das darf ich nicht machen', sind das einfach Regeln, die nur für dich gelten und nicht für den anderen. Also einfach eine nachteilige Situation, in die Du Dich selber bringst."

Dem Gegner wehtun

Und ich werde den Kampf dann womöglich verlieren. Darum bin ich jetzt die gnadenlose Angreiferin. Ich soll meinem Gegner wehtun, ihn notfalls töten.
Aber mache ich ihn damit nicht zum Opfer? Von genau dieser Sichtweise will Misera seine Kursteilnehmer abbringen: "Das klingt jetzt recht hart, es geht um die Frage Gewinner oder Verlierer. Wir normalen Leute kennen Gewalt eigentlich nur aus der Verliererperspektive. Hier geht es darum, sich mal die andere Seite anzuschauen, das Ganze sozusagen auf eine mechanische Ebene zu bringen und zu überlegen, wie kann ich, auch wenn ich mir diese Situation nicht ausgesucht habe, wie kann ich Gewalt als Überlebenswerkzeug nutzen."
Wie Gewalt aus Gewinnerperspektive aussieht, hat Misera sich von Leuten abgeschaut, mit denen keiner was zu tun haben will: von Vergewaltigern oder Mördern, in Videos, die Gewaltverbrechen zeigen: "Mörder: Die haben in der Regel kein Kampfsporttraining gemacht, die haben mit Sicherheit nie ein Selbstverteidigungstraining besucht. Aber die sind unglaublich effektiv, wenn es darum geht, Gewalt auszuüben."
Misera ist Ende 30, an die 1,90 Meter groß, raspelkurzes Haar. Er strahlt eine sympathische Ruhe aus, bewegt sich kontrolliert und elegant, sagt kein Wort zu viel. Zehn Jahre lang hat er für verschiedene Sicherheitsfirmen gearbeitet. Dabei wurde ihm eines klar: Selbstverteidigung bringt nichts, wenn dich wirklich jemand verletzen will. Echte Gewalt ist simpel und man kann sie nur abwehren, indem man angreift. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte Misera das Zielpunkttraining.
Kurze Pause, wir stehen in kleinen Gruppen zusammen, knabbern Obst und Kekse. Meine Mitstreiter sind Studenten, Rentner, Hausmänner, Anwältinnen. Viele von ihnen haben schon Gewalterfahrungen gemacht. Florian wollte das Training deshalb machen: "Persönliche Erfahrungen, bei denen ich den Eindruck hatte, dass man dieser asozialen Gewalt ausgesetzt ist, aus der man mit sozialen Mitteln nicht mehr rauskommt."
Aber was macht das mit uns als Gesellschaft? "Das ändert nichts am möglichen Grundproblem der Gesellschaft: Was macht 'nen Menschen zu 'nem Täter, gegen den ich mich dann hier verteidigen muss?"

Zielgenau verletzen und töten

Mit solchen Trainings bekämpfe man nur die Symptome, glaubt Florian – also Gewalt mit Gewalt. Beim Training macht er trotzdem mit. Dass wir alle lernen, wie man zielgenau verletzt und tötet, halte ich für sehr fragwürdig. Gleichzeitig fühlt sich dieses Wissen gut an. Als kleine, zierliche Frau in der Lage sein, einen Vergewaltiger zu stoppen. "Es ist ungewöhnlich, sich in der Form damit zu beschäftigen, aber warum solltest Du Dich in die nachteilige Position begeben? Du hast dieses Recht, dich zu wehren und dich auch wirksam zu wehren in dieser Situation."
Also übe ich weiter. Misera zeigt uns immer mehr Körperteile, auf die wir zielen können. Mechanische Bewegungen, die immer gleich sind. Ich soll sie mir einprägen, um sie draußen im Ernstfall abrufen zu können. Ich merke, wie meine Hemmschwelle sinkt, während ich wieder versuche, Erik mein Knie in den Schritt zu rammen.
Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, frage ich mich noch.
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