Selbstsorge jenseits des Optimierungswahns

"Philosophie als Lebensmitte"

Eine Installation von acht Fernsehbildschirmen, die in einem Halbkreis angeordnet sind, zeigen jeweils die gleiche Nahaufnahme eines menschlichen Auges mit einer blauen Iris.
Klimakatastrophe, Pandemien, Kriegsgefahr und noch viel mehr beschäftigen den Menschen, so Florian Goldberg. Wie draus also einen Umgang mit uns selbst formen, bei dem es nicht „um egozentrische Selbstoptimierung“ geht? © Getty Images / LightRocket / SOPA Images / Miguel Candela
Überlegungen von Florian Goldberg · 24.02.2022
Kriege, Fake News, Pandemien – für immer mehr Menschen scheinen dabei, Gewissheiten verloren zu gehen. Der Philosoph Florian Goldberg plädiert deshalb für eine philosophische Lebensweise, in der es nicht um Selbstoptimierung, sondern ums Denken, Fühlen und Handeln geht.
Vor 40 Jahren hielt Michel Foucault in Paris seine berühmten Vorlesungen über die Philosophie der Antike. Darin ging es um nicht weniger als eine Neubewertung der Frage nach dem ursprünglichen Sinn von Philosophie.
Nicht eine komplizierte, rein theoretische Disziplin für einen kleinen, esoterischen Kreis sei sie gewesen, sondern eine verbreitete Praxis der Selbstsorge, um auf dieser Basis in der Welt zu wirken. Philosophie als Lebensmitte. Eine aufregende Behauptung, die unter Philosophen zu komplizierten, rein theoretischen Debatten führte und in der Öffentlichkeit zu gar nichts.
Seitdem war viel los, politisch, gesellschaftlich, technologisch und überhaupt: Der Fall des Eisernen Vorhangs ließ zunächst die Hoffnung auf ein Zeitalter der Freiheit und des Friedens keimen, der Siegeszug der freien Marktwirtschaft sollte die Armut beenden, die Entstehung des Internets das Wissen der Welt für jeden jederzeit verfügbar machen. Im allgemeinen Jubel wurde gar das Ende der Geschichte beschworen. Na ja.

Alles ist ins Rutschen geraten 

Auf kurze Partystimmung folgte chronisches Kopfweh. Stichworte? Endlose Kriege gegen den Terror, die Terror verbreiteten, weltweite Renaissance der Autokraten, Spekulationsblasen, Filterblasen, Fake News, Verlust des demokratischen Konsens’, Klimakatastrophe, Pandemien, Kriegsgefahr, Krieg in Europa und, und, und – ach ja: Der Niedergang der katholischen Kirche als irgendwie ernst zu nehmende moralische Instanz sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. 
Kurz: Alles ist ins Rutschen geraten und nun schlittern wir so vor uns hin, wobei jede jedem vorwirft, entweder nicht rechtzeitig oder mutwillig falsch gestreut zu haben. In unseren Erholungsphasen lassen wir uns derweil von freundlichen Algorithmen sagen, was wir als Nächstes shoppen oder binge-watchen sollen.

Einsicht, Maß und Mitte

Vielleicht ein guter Moment, um in Erinnerung zu rufen, was Foucault damals aus dem philosophischen Hut gezaubert hatte: Das Bild einer Kultur, welche die Einsicht in sich selbst zum Ausgangspunkt einer funktionierenden Gemeinschaft erklärte und die den Wert jedes Wissens daran maß, ob es die ethische Seinsweise verbesserte.
Das altgriechische Wort dafür lautet ethopoiein, „ethos schaffen“. Wenn sicher wäre, dass es nicht sofort für ökonomische oder sektiererische Zwecke missbraucht werden würde, könnten wir uns aus dieser ehrwürdigen Vokabel eine hübsche Bezeichnung für eine Daseinshaltung basteln, die uns heute zupasskäme: Ethopoiesis. 
Damit würden wir ein Philosophieren bezeichnen, das sich gleichermaßen an unser Fühlen, Denken und Handeln wendete. Einen Umgang mit uns, bei dem es weder um egozentrische Selbstoptimierung ginge, noch um den verzweifelten Versuch, in dysfunktionalen Strukturen gerade so durchzuhalten. Eine philosophische Lebensweise also, deren vornehmster Zweck darin bestünde, Einsicht, Maß und Mitte zu gewinnen, um ein je eigenes Ethos hervorzubringen.

Veränderungen sind jederzeit möglich

Keine unerhebliche Aufgabe, klar. Denn das Ethos, nach dem wir strebten, dürfte heute weder ein vorgezeichnetes sein, dem alle nur brav nachzueifern bräuchten, noch ein unverbindlich privates, das für die Öffentlichkeit ohne Belang wäre. Es müsste sich zeigen als ein zwar individuelles, das aber durch ständigen Dialog mit anderen beweglich und formbar bliebe.
Dies zöge völlig neue Formen des Zusammenlebens nach sich. Es entstünde eine Gesellschaft der philosophisch Übenden, die für ihr Leben und Erleben zutiefst verantwortlich wären, Arbeit als gemeinsames Lernen begriffen und miteinander wünschenswerte Wirklichkeiten erzeugten, während sie ihre wechselseitige Andersartigkeit begrüßten.
Klingt weltfremd und anstrengend? Richtig. Auch deshalb das Konjunktivische. Andererseits: Die Rede ist von Einzelnen. Wer also mag, kann sofort damit anfangen. Es kostet nichts. Außer eben der Anstrengung. Und mal ganz ehrlich: Wäre es wirklich weniger anstrengend, alles so zu belassen, wie es ist?

Florian Goldberg, geboren 1962, hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht. Im Künstlerduo „tauchgold“ entstehen zusammen mit Heike Tauch Hör- und Bühnenstücke.

Ein älterer Mann mit Brille und kurzen Haaren.
© Anke Beims
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