Jugendliche werden Suizidberater
Bei Jugendlichen ist Selbstmord die zweithäufigste Todesursache. Mit klassischen Beratungs- und Therapieangeboten sind diese jungen Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, meistens nicht mehr zu erreichen. Deshalb gibt die Caritas jetzt online Ratschläge zum Thema. U25 heißt das Projekt.
Mittwochabend, 18 Uhr. Christina Obermüller begrüßt ihre langsam eintrudelnden Kursteilnehmerinnen. Acht junge Frauen, alle um die 20, treffen sich seit ein paar Wochen regelmäßig mit der Sozialarbeiterin in einem Büro der Caritas in Berlin Mitte. Christina Obermüller, die mit ihrer zierlichen Figur, dem Ringel-T-Shirt und ihren 29 Jahren selbst noch jugendlich aussieht, schult die jungen Frauen. Sie sollen demnächst Gleichaltrige online beraten, wenn diese suizidgefährdet sind. Der Bedarf dafür ist riesig. Fast 2000 Erstanfragen gab es allein 2012 bei der Mail-Beratung U25 in Freiburg. Die Caritas schult deshalb jetzt auch in Berlin, Dresden, Gelsenkirchen und Hamburg neue Beraterinnen.
"Wir bieten ja keine Therapie an. Es geht hier wirklich um eine Begleitung, um eine Befreundung und das ist das, was die Jugendlichen brauchen in erster Linie, dass jemand da ist, den sie ansprechen können. Wir haben natürlich eine Brückenfunktion. Wir versuchen schon die jungen Menschen an Beratungsstellen weiter zu vermitteln und da ein bisschen die Hemmschwelle zu nehmen."
Doch bevor die jungen Frauen mit ihrer Beratung anfangen, müssen sie einiges lernen. An diesem Abend geht es um selbstverletzendes Verhalten. Viele suizidgefährdete Jugendliche ritzen sich zum Beispiel die Arme blutig. Christina Obermüller gibt ihren Schülerinnen deshalb ganz konkrete Tipps, was sie den Klienten später raten könnten. Diese sollen lieber Tagebuch schreiben, in ein Kissen schlagen, draußen rumschreien, Eiswürfel statt Messer nehmen - die schmerzen ebenfalls, verletzen aber nicht. Anschließend schreiben alle Probemails, auch Linda. Sie ist mit ihren 24 Jahren die Älteste, arbeitet bereits als Erzieherin und hat schon lange nach einem Ehrenamt gesucht. Im Internet ist sie auf die Ausbildung zur U25-Beraterin gestoßen. Den Kurs findet sie klasse.
"Man kann trotz der Schwere des Themas ganz viel lachen. Das ist total wichtig auch, so zu merken, wir sind jetzt schon füreinander da. Und von den Inhalten der Ausbildung ist es auf jeden Fall auch sehr sinnvoll."
Die kurze Ausbildung, der Austausch mit den anderen macht aus ihr keinen Profi, das ist Linda klar. Aber eine gute Peerberaterin. Peer ist englisch und heißt gleich. Das ist das Prinzip der online-Beratung.
"Ich war in Situationen, in denen ich sehr gut nachempfinden konnte, wie es dazu kommen kann, den Suizidgedanken zu verinnerlichen und eventuell Suizid durchzuführen. Ich habe gemerkt für mich, dass Kommunikation sehr wertvoll ist, wenn es einem nicht gut geht und wenn man es in sich rein frisst, das absolut hinderlich ist und einen noch viel mehr verdunkelt."
Eigene dunkle Gedanken, so wie sie Lisa erlebt hat, kennen nicht alle Teilnehmer des Programms U25. Die Peers müssen lediglich zwischen 16 und 25 sein und genügend Zeit mitbringen. Außerdem brauchen sie persönliche Stabilität, um sich auf das schwierige Thema Selbstmord einzulassen.
"Ich würd' lügen, wenn ich sagen würde, dass ich keinen Schiss davor hätte, klar das ist menschlich. Es ist eine Verantwortung, aber ich denke, dass ich sie gut bestehen werde, weil a) sind wir gut ausgebildet und b) habe ich auch selber Lebenserfahrung und ich glaube ich kann die ganz gut nutzen und wenn's mir zu viel werden sollte, werde ich das auch sagen. Und dann werde ich die Verantwortung auch wieder abgeben. So ehrlich und reflektiert bin ich."
Ein paar Wochen später. Der Kurs ist zu Ende, Linda ist leider krank. Sie verpasst die letzten Tipps, die Christina ihren Schülerinnen zum Thema Datenschutz, Statistik und technischen Umgang mit den Anfragen mitgibt. Dann wird es ernst. Christina ruft die Helpmails auf, die seit dem Vorabend eingegangen sind. Helpmails heißen hier die Online-Hilferufe.
"So, da seht ihr sechs neue Klienten, oh, da ist grad noch eine Neue angekommen, das ist ja schön. Das sind die, die noch keinem Berater zugeordnet worden, also praktisch jetzt unsere neuen Klienten."
Auch die 17-jährige Hanna loggt sich ein, legt ihren eigenen Account an.
"Ein schwieriges Ehrenamt"
"Wir haben es geübt, darum fühle ich mich eigentlich ziemlich sicher, was das alles angeht. Wir haben auch viele Mails geschrieben, dass wir jetzt auch nicht nervös sind oder so."
Hanna wirkt tatsächlich locker und entspannt, Kursleiterin Christina weniger.
"Natürlich bin ich aufgeregt. Ist ja acht Monate Arbeit für heute. Da freu ich mich."
Christina hat alle sechs Anfragen ausgedruckt, lässt die Mädchen erst einmal in Ruhe sämtliche Briefe lesen. Hanna sucht sich einen aus, der lediglich aus einem einzigen Satz besteht. Ein Mädchen schreibt, dass sie verzweifelt ist und Hilfe braucht.
"Ihr müsst bitte, bitte, bitte spätestens morgen Nachmittag eine E-Mail geschrieben haben, weil dann die 48 Stunden rum sind. Wenn das nicht geht, dann gebt mit eine Rückmeldung, dann setze ich die Klienten auf die Warteliste, aber das fände ich nicht so schön gleich beim ersten Mal."
Wer bei Google die Worte Suizid und Hilfe eingibt, findet schnell die Seiten von U25 und kann dort eine Mail abschicken. Für die erste Antwort haben Hanna und die anderen Peers immer 48 Stunden Zeit, für alle weiteren Mails eine Woche, am Anfang liest Christina jede Mail, bevor sie verschickt wird - so sind die Regeln von U25. Die Peer-Beraterinnen sollen mit den Klienten nicht chatten, sondern jede Antwort in Ruhe überlegen können. Dass die Mädchen mit ihrem neuen Ehrenamt nicht alleine sind, ist Christina Obermüller so wichtig, dass sie am Ende des Abends ihre Hilfe noch einmal eindringlich anbietet.
"Wenn ihr euch irgendwie unwohl fühlt, wenn ihr ein schlechtes Bauchgefühl habt, sagt, da stimmt jetzt was nicht. Ruft mich an. Bleibt nicht allein mit euren Sorgen. Ruft euch gegenseitig an. Ich weiß, ihr seid jetzt ganz gut vernetzt jetzt mittlerweile alle. Das ist ein schwieriges Ehrenamt und ihr müsst gucken, dass es euch gut geht. Das ist mir ganz doll wichtig."
Mit ihren Mails in der Tasche gehen die Mädchen nach Hause. Hanna will noch heute Abend die Antwort auf den einen Satz losschicken. Sie weiß schon, was sie schreiben wird, darf es aber nicht verraten. Die Beratung ist schließlich anonym.