Selbstverwirklichung für alle
Warum wir alle dauernd kreativ sein sollen und wollen, erklärt der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in seinem Sachbuch zum Thema: "Die Erfindung der Kreativität" führt die aktuellen Forschungsergebnisse konzentriert und bündig zusammen.
Jeden Sonntag lässt sich im Berliner Mauerpark-Flohmarkt die Uniformität des Individuellen beobachten. Hier werden Nerdbrillen und Vollbärte, Bikerjacken und Vintagejeans zur Einheitskluft. Ähnlich auch das Konsumverhalten: Kaum einer verlässt das Gelände ohne neu erworbene Analogkamera, Vinylschallplatte oder ein anderes Retrofetischobjekt, mit dem sich der Käufer vom digitalen Mainstream oder der gängigen Ikea-Einrichtung abgrenzt. Doch Vorsicht mit dem Spott! Sind wir nicht alle längst neben unseren ebenfalls kreativ ausgeübten Brotjobs auch als Fotografen und DJs, Architekten, Gourmetköche und Blog-Autoren tätig?
Den Kultursoziologen Andreas Reckwitz würde der Berliner Szeneauflauf in seiner paradoxen Gestalt kaum überraschen. Er würde ihn auch nicht allein auf ein spezifisch urbanes Milieu zurückführen – sondern auf die für die Gegenwartsgesellschaft typische "Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und soll es sein." Die Leitthese, die Reckwitz in Studie "Die Erfindung der Kreativität" vertritt, geht sogar noch einen Schritt weiter: Kreativität, behauptet der an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder lehrende Professor, ist seit den 80er-Jahren zum normativen Modell geworden.
Der Begriff hat für ihn eine doppelte Bedeutung. Zum einen verweist Kreativität auf das Vermögen, dynamisch Neues hervorzubringen. Gleichzeitig geht es um mehr als technische Innovation, sondern auch um sinnliche und emotionale Stimulation – also um Wirkungen, deren Produktion der Figur des modernen Künstlers zugeschrieben wird. Sich jenseits bürgerlicher Sachzwänge zu bewegen und stattdessen eigenen inneren Welten zuzuwenden, das war seit der Romantik der Bohème vorbehalten. Auch deshalb gingen Subkulturen und soziale Emanzipationsbewegungen oft Hand in Hand.
Andreas Reckwitz lässt keinen Zweifel daran, dass die Verwirklichung der einstigen Utopie – Selbstverwirklichung für alle – auf einer spezifischen historischen Konstellation beruht. Die Erfindung der Kreativität, so Reckwitz, reagiert letztlich auf die Rationalisierung vieler Lebens- und Alltagsbereiche in der Moderne. Sie ist, genau wie die Religion oder das Politische, sinnstiftend – dabei jedoch weniger ideologisch belastet und anscheinend deutlich kompatibler mit der kapitalistischen Ökonomie, die von der massenhaft kreativen Produktion und deren Konsum profitiert. Auch deshalb schlägt das Kreativitätsversprechen seinerseits in einen Imperativ um, der erheblichen sozialen Druck ausübt.
Der Künstler als Leitbild der "creative industries", die Ästhetisierung unserer Lebenswelt, aber auch die wachsende Zahl von Depressionen und Therapien – von vielen Seiten aus ist der Kreativitätskomplex in den letzten Jahren untersucht und beschrieben worden. Reckwitz großes Verdienst ist es, diese Forschungserkenntnisse in einer konzisen Analyse zusammenzuführen. Die Lektüre lohnt sich unbedingt – für alle, die sich fragen, ob und warum sie dauernd kreativ sein sollen – und wollen.
Besprochen von Eva Behrendt
Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
368 Seiten, 16,50 Euro
Den Kultursoziologen Andreas Reckwitz würde der Berliner Szeneauflauf in seiner paradoxen Gestalt kaum überraschen. Er würde ihn auch nicht allein auf ein spezifisch urbanes Milieu zurückführen – sondern auf die für die Gegenwartsgesellschaft typische "Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und soll es sein." Die Leitthese, die Reckwitz in Studie "Die Erfindung der Kreativität" vertritt, geht sogar noch einen Schritt weiter: Kreativität, behauptet der an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder lehrende Professor, ist seit den 80er-Jahren zum normativen Modell geworden.
Der Begriff hat für ihn eine doppelte Bedeutung. Zum einen verweist Kreativität auf das Vermögen, dynamisch Neues hervorzubringen. Gleichzeitig geht es um mehr als technische Innovation, sondern auch um sinnliche und emotionale Stimulation – also um Wirkungen, deren Produktion der Figur des modernen Künstlers zugeschrieben wird. Sich jenseits bürgerlicher Sachzwänge zu bewegen und stattdessen eigenen inneren Welten zuzuwenden, das war seit der Romantik der Bohème vorbehalten. Auch deshalb gingen Subkulturen und soziale Emanzipationsbewegungen oft Hand in Hand.
Andreas Reckwitz lässt keinen Zweifel daran, dass die Verwirklichung der einstigen Utopie – Selbstverwirklichung für alle – auf einer spezifischen historischen Konstellation beruht. Die Erfindung der Kreativität, so Reckwitz, reagiert letztlich auf die Rationalisierung vieler Lebens- und Alltagsbereiche in der Moderne. Sie ist, genau wie die Religion oder das Politische, sinnstiftend – dabei jedoch weniger ideologisch belastet und anscheinend deutlich kompatibler mit der kapitalistischen Ökonomie, die von der massenhaft kreativen Produktion und deren Konsum profitiert. Auch deshalb schlägt das Kreativitätsversprechen seinerseits in einen Imperativ um, der erheblichen sozialen Druck ausübt.
Der Künstler als Leitbild der "creative industries", die Ästhetisierung unserer Lebenswelt, aber auch die wachsende Zahl von Depressionen und Therapien – von vielen Seiten aus ist der Kreativitätskomplex in den letzten Jahren untersucht und beschrieben worden. Reckwitz großes Verdienst ist es, diese Forschungserkenntnisse in einer konzisen Analyse zusammenzuführen. Die Lektüre lohnt sich unbedingt – für alle, die sich fragen, ob und warum sie dauernd kreativ sein sollen – und wollen.
Besprochen von Eva Behrendt
Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
368 Seiten, 16,50 Euro