Selbstwert oder gelernter Hass

Wie uns die frühe Kindheit prägt

Baby wählt Smartphone statt Spielzeug-Rassel
Die ersten Monate nach der Geburt sind die wichtigsten für die Entwicklung, sagte etwa der Psychologe Arno Gruen. © imago / Ikon Images
Von Ulrike Jährling |
Was braucht ein Kind wirklich zum Großwerden, um ein gesundes Selbst und Empathie zu entwickeln? Wie gut und wie intensiv soll und darf die Bindung sein? Ist frühe Selbstständigkeit ein hohes Gut? Ein Feature über frühkindliche Prägung.
Marie: "Also ich setz viel mehr auf Bindung und nicht auf erziehen. Wie manche so denken – ein Kind muss gut erzogen sein. Und die sagen zwar nicht, 'es muss funktionieren'. Aber für mich steckt das ein bisschen dahinter. Dass ein Kind dann funktioniert für die Gesellschaft. Dass es 'bitte' sagt, 'danke' sagt, dass es 'Auf Wiedersehen' und 'Hallo' sagt und ordentlich am Tisch isst."
Lisa: "Klar verwöhn ich mein Kind. Gerne! Ist mein Kind. Das verwöhn ich auch gerne. Ich merke jetzt schon, dass mein Kind eine sehr starke Persönlichkeit ist."
Marie: "Was für mich aber am anstrengendsten in dieser Mutterschaft - so sag ich es selber immer so schön – ist, ist die Verunsicherung durch die Umwelt. Durch Kommentare."
Lisa: "Wenn Nala gerade jammerig ist, ich weiß noch nicht was sie hat, aber ich nehme sie erstmal hoch, wenn sie "Mama Arm!" sagt, dann nehme ich sie hoch!! Und der lustigste Kommentar war: 'Na dann verlernt sie noch das Laufen'."

Mütter überprüfen Erziehungsstile ihrer Eltern

Marie und Lisa überprüfen als Mütter die Erziehungsstile ihrer Eltern. Das ist nichts Neues, im Prinzip. Die Jungen machen es immer anders als die Alten. Und gut möglich, dass sie es wieder übertreiben mit "dem Anderen". Auch das - nichts Neues.
Doch die Frage bleibt wichtig: Was braucht eine Kinderseele, um gesund und stark zu werden?
"Ich schütte jetzt noch ein paar Steine auf. Und dann kommt das alles auch ins Radio."
Ich besuche eine Kindertagesstätte in Berlin Mitte. Die Kinder sind ins freie Spiel vertieft. Sie arbeiten.
"Den hab ich gebaut."
"Und hier bau ich einen ran. Weil es soll ja ein Großer werden, ein ganz Großer."
"Und wir wollen dir gleich noch was sagen."
"Was wollt ihr mir sagen?"
"Was das so ist, wie haben wir das gebaut... ich kann dir schon mal verraten: Mit sehr viel Mühe!"
Kinder spielen in einer Kita.
Kinder in einer Kita: Sie spielen bzw. arbeiten gemeinsam.© dpa / picture alliance / Jan-Philipp Strobel

In der Gemeinschaft wachsen

Die Leitung der Kindertagesstätte des Trägers "Kinder im Kiez" hat Bärbel Senz. Ganz klar sieht sie die Kita als Chance für Kinder in der Gemeinschaft zu wachsen:
"Kinder spielen miteinander, Kinder geraten mal in Konflikte. Sie lernen wie man beispielsweise Konflikte löst oder wie man positive Erlebnisse miteinander teilt einfach. Und das gelingt. Wenn man nur eine Konstellation Erwachsener und Kind hat, gelingt es eigentlich nicht so gut. Sondern die Kinder sind ‑ so wie sie dann in der Gesellschaft auch sind ‑ mit vielen anderen Menschen zusammen, die sehr unterschiedlich sind, und können dann darauf reagieren."
"Er hat meinen Tempel einfach so eingekracht."
"Er hat gelacht, als meiner eingestürzt ist. Und da hab ich ihn gefragt, soll ich deinen mal einstürzen? Und dann hat er ja gesagt. Und dann hab ich's auch gemacht."
Erzieher: "Aber Justus, ist das denn besser, wenn man das auch genauso macht wie der andere? Vielleicht, wenn man dann sagt, irgendwie, das ist nicht in Ordnung, was du grad gemacht hast, hilfst du mir wieder beim Aufbauen? Ist doch vielleicht besser? Oder?"
"Ich kann nichts dafür, wenn deiner immer einkracht! Aber du kannst was dafür, wenn du ihn mit Absicht kaputt machst."
"Aber er hat, aber du hast, aber ich, aber du…"
"Natürlich, Kitas sind extrem wichtig, heute umso wichtiger, wo eben Kinder diese Kindererfahrungen da draußen nicht mehr machen können. Umso wichtiger, dass die funktionierende Kitas haben, gute Kitas, wuselige Bewährungen, wo die wirklich auch sich bewähren können, sich als Menschen als wertvoll empfinden", sagt Herbert Renz-Polster.
Er ist Kinderarzt und Autor des Buches "Born to be wild" - wie die Evolution unsere Kinder prägt. Jenseits aller Erziehungstrends schaut er darauf, wie wir als Menschen eigentlich gestrickt sind. Tief in uns läuft das Überlebensprogramm. Und am sensibelsten ist es am Anfang.

Suche nach Nähe und gefühlter Sicherheit

Marie: "'Warte doch erstmal!' Vom Partner, von meinem Ex-Partner kam das. Aber ich bin halt sofort hin und hab gesagt, doch, ich will sie hochnehmen. Sie weint nach mir."
Lisa: "Mir war eigentlich von Anfang an immer ganz klar, ich geh dahin, wenn mein Kind schreit oder mich braucht, mich ruft ja eher, und dass es für mich selbstverständlich ist! Und dass ich nicht verstehen kann, wie man anders reagieren kann."
Herbert Renz-Polster: "Nähe war eigentlich immer für uns Menschen unverhandelbar. Wir haben nicht immer in den Bedingungen gelebt wie heute, Dreifachglasfenster, Zentralheizung usw., sondern wir waren wirklich 99 Prozent der menschlichen Geschichte als Jäger und Sammler unterwegs und hatten unsere kleinen extrem unreif geborenen Lebewesen, unsere Menschenjungen, bei uns und damit die überlebt haben in den Bedingungen da brauchte es eine Riesenportion an Nähe. Klar wurden die getragen, klar wurden die lange gestillt, klar haben die bei ihren Eltern geschlafen."
Sicherheit sei für ein Kind niemals etwas Kognitives, betont der Kinderarzt Herbert Renz-Polster:
"Sicherheit ergibt sich für das Baby oder das Kleinkind nicht daraus, dass es weiß, da läuft das Babyfon oder da ist das Smartphone, dass das Kind aufzeichnet, sondern es ist einfach ein Gefühl. Hier bin ich sicher. Hier bin ich mit Leuten, die zur Not alles für mich geben. Und das heißt, die nachts auch da sind, wenn der Bär da draußen im Unterholz brummt. Dann ist da jemand bei mir und, kein Wunder, sorgen Kinder, vor allem wenn sie müde werden, natürlich absolut für Sicherheit: Hier will ich jemand bei mir haben, der für mich sorgen kann."
Der Psychologe Arno Gruen
Der Psychologe Arno Gruen (1923-2015) beschäftigte sich mit der Bedeutung der frühesten Kindheit.© picture-alliance/ ZB / Karlheinz Schindler

Fehlende Zuwendung als Ursache der Gewalt?

"Es sind die ersten drei Monate nach der Geburt, die eigentlich die wichtigsten sind, für vollen Kontakt mit den Eltern. Körperlichen Kontakt!"
Das sagt der Tiefen-Psychologe Arno Gruen in einer Archivaufnahme des Deutschlandradios von 2014. Arno Gruen steht für die These, dass in frühester Kindheit sogar die Grundsteine für Gewalt und Rassismus gelegt werden können. Eben wenn es an Nähe, Zuwendung und körperlichem Kontakt mangelt. Denn alles was ein Kind beim Start ins Leben braucht ist die Erfüllung seiner Bedürfnisse. Arno Gruen:
"Das hilft dem Kind dann seine Anlagen, könnte man sagen, zu entwickeln. Wenn wir dagegen glauben, wir müssen von Anfang an das Kind dazu bringen unabhängig zu sein, dann passiert ganz was Anderes. Nämlich: Ein Kind muss dann seine eigene Not, seinen eigenen Schmerz verleugnen. Und das muss dann Dinge tun, um sich sicher zu fühlen. Und das ist dann die Basis dessen, was dazu führt, dass man erobern muss, dass man andere runter machen muss und dass man dauernd fühlt, dass man in einem Wettbewerb sein muss, um stark zu sein."
Verdrängter Schmerz, sagt Gruen, kann aggressiv machen. Oder depressiv. Oder dazu führen, das Erlittene weiter einzufordern.
Marie, die sich als Mutter ihrer Tochter Nala in Bedürfniserfüllung fast aufopfert, ist regelmäßig im Konflikt mit ihrem eigenen Vater, mit Nalas Opa. Zur Erinnerung, die "Kommentare":
"Aber ich nehme sie hoch, wenn sie 'Mama Arm!' sagt, dann nehme ich sie hoch! Und das macht Papa fuchsig, da kommen immer wieder Kommentare. Und der lustigste Kommentar war: 'Na dann verlernt sie noch das Laufen!'. So ein Quatsch. Und das zeigt mir dann, okay! So seid ihr mit uns umgegangen, oder mit mir. Als kleines Kind."
Vorwürfe stehen im Raum. Marie geht mit Selbstwertkomplexen durchs Leben und sucht nach Antworten:
"Also neulich kam mir eine Idee, dass Papa selber - hat er mir erzählt – von seiner Mama nie Liebe bekommen hat. Er wurde nie umarmt, hat von seiner Mama nie Liebe bekommen. Sei es ein Kuss, oder eine Umarmung. So. Das hat er selber gesagt. Und da denke ich manchmal, vielleicht, unbewusst bei ihm, dass er damit überhaupt nicht kann: Wenn ich Nala so viel Liebe gebe."
Marie und Nala singen:"...armes Häschen komm herein, reich mir deine Hand."
Nala hat die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Immer und ständig. Für die dicke fette Packung Selbstwert. So der Plan. "Bindung" ist das große Wort, das immer wieder auftaucht, wenn sich Mütter wie Marie und Lisa austauschen.
Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
Das Wort "Bindung" fällt oft, wenn Mütter sich austauschen.© picture-alliance / dpa / Markus C. Hurek

Aus Bindung wird Neugier

Lisa: "Ich hab das auch schon gehört, gelesen, dass bis zum dritten Lebensjahr, gerade was Bindung betrifft, ja, dass am stärksten sich Vertrauen entwickelt. So die Festigkeit, die man hat, die das Kind dann halt entwickelt. Weil: Nur wer gut gebunden ist kann losgelassen werden auf die Welt."
Bärbel Senz: "Also man versucht – wenn ein Kind in die Kita kommt – das man dem eine sichere Bindung anbietet. Und die Kinder nehmen das dann eigentlich auch an. Und auch wir verfolgen ja die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, Literatur und so weiter, die auch sagt, Bindung ist ein ganz wichtiges Kriterium für Explorationsverhalten. Das heißt, wenn sich die Kinder sicher gebunden fühlen, dann werden sie auch ihre Neugier ausleben können. Wenn das nicht gegeben ist, dann werden sie auch weniger neugierig sein und weniger auf Entdeckungsreise gehen."
Was machst du denn Schönes im Koffer hier drin?
"Da kann man sich anschnallen. Da kann man so spielen als ob das ein Boot ist!"
"Ich bau einen Tempel!"
"Dornröschen war ein schönes Kind..."
Die Eltern der Kinder hier im Kiez in Berlin-Mitte sind überwiegend solche wie Marie und Lisa. Sie setzen auf Bedürfniserfüllung und auf Bindung. Ein Weg, wie ihn die Evolution für den Menschen auch vorgesehen hat. Der Kinderarzt Herbert Renz Polster:
"Ja, das ist eine wirklich interessante Beobachtung. Wenn man mal guckt: Die Bedingungen unter denen Kindern in Jäger-und Sammlergesellschaften, auch noch in vielen agrarischen traditionellen Gesellschaften großwerden, da sieht man, die kriegen sehr viel von dem, wo wir sagen: Oh mein Gott! Verwöhnung! Die volle Packung: Die sind bei ihren Eltern beim Schlafen, die werden nie allein gelassen werden getragen, die werden gestillt. Und dann denkt man: Wie können die jemals selbstständig werden? Gleichzeitig aber beobachtet man in diesen Kulturen, dass die Kinder ab der Kleinkind-Zeit schon sehr selbstständig unterwegs sind. Es gibt da auch Experimente dazu, wo man Kinder aus sehr traditionellen Gesellschaften in einem Park zusammengebracht hat mit Kindern aus Boston."
Herbert Renz-Polster verweist auf eine Studie mit vier-und fünfjährigen Kleinkindern der Ethnie der Kung, die damals noch nomadenhaft in der Kalahari in Botswana und Namibia lebten.
Eine Mutter mit ihren Kindern in einem Dorf der Kung in Botswana, aufgenommen am 9.9.2010
Eine Mutter mit ihren Kindern in einem Dorf der Kung in Botswana© imago / robertharding

Selbstständige Kinder in traditionellen Gesellschaften

Die Kung-Kinder trafen auf die Stadtkinder aus Boston und die Frage, der die Studie nachging war:
"Wie gut können die sich von ihren Eltern trennen, wie gut können die Spiele selbst initiieren und einfach ihre Freude haben. Und da hat sich gezeigt, dass eben die Kinder aus den traditionellen Gesellschaften deutlich selbstständiger waren, ja. Obwohl die so viel Nähe hatten!!"
Marie:"Es gibt mal Momente, da kann man nicht. Wenn man mal auf Klo sitzt und grad nicht kann. Oder mal fünf Minuten unter der Dusche steht ‑ dann geht's mal wirklich nicht. Aber ansonsten bin ich immer bestrebt wirklich immer, immer auf Bedürfnisse einzugehen. Weil ich denke, dass ein Kind nie seine Eltern mit Absicht ärgert oder tyrannisiert. Wenn ein Kind quenglig ist oder laut oder so, dann steckt immer ein Grund dahinter. Ein guter Grund für das Kind. Sich so zu äußern."
Sagt Nala "Mama mit" dann kommt Mama mit, so gut wie immer. Das sorgt zuweilen für Unverständnis im sozialen Umfeld, erzählt Marie:
"Nala hatte bis vor Kurzem, bis sie zwei Jahre alt wurde, so ein Nähe-Bedürfnis nach mir, dass sie tageweise wirklich nur an meiner Hand gelaufen ist. Und da kamen Kommentare wie: 'Das kann man aber umlenken.' Oder: 'Ist eine Angewohnheit, das kann man abgewöhnen.' Ich war verunsichert dadurch. Aber mein Bauch hat gesagt, nein, ich spüre, dass das kein Grenzen austesten und keine Angewohnheit ist, sondern ein – warum auch immer – ganz großes Nähebedürfnis."

Einfach mit größeren Kindern losgezogen

Nala-Kind, jetzt schon gute zwei Jahre alt, hat sich prächtig entwickelt, daran gibt es nichts zu rütteln.
Marie: "Plötzlich – von einem Tag auf den anderen - ist sie losgezogen. Sie hat den Zeitpunkt gewählt, wann sie losgezogen ist. Sie war weg auf dem Spielplatz, eine Stunde, mit kleineren, mit größeren Kindern, ist losgezogen. Und das war für mich so eine Bestätigung! Dass ich mitgegangen bin, ihr Bedürfnis... Es war krass anstrengend, aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Und ich würde es auch wieder machen."
Herbert Renz-Polster: "In diesem Kontext, wenn es eine stark auf Eins-zu–Eins-Verhältnisse ausgerichtete Beziehung hat, ist es vom Kind aus natürlich total verständlich. Aber dieses Kind hätte sich auch wunderbar entwickelt, wenn die Mutter jetzt zum Beispiel ein Programm gehabt hätte 'Kind mit': 'Ich muss dahin und nehme dich mit und bin dabei glücklich. Und ich freu mich darüber mit dir was zu machen, aber eben auch mein Ding!' Die Kinder gucken als Erstes, wie geht's uns und gucken unsere Emotion an und wenn wir unser Ding machen und die Kinder damit nicht belasten, hey, dann machen die mit!"

Teilnahme am Leben der Erwachsenen

Herbert Renz-Polster: "Ich meine, jeder Blick in Stammeskulturen hinein zeigt, die Kleinen sind auch im Leben der Erwachsenen mit dabei, die teilen das, was die Großen machen, und denen geht es gut, solange wir als Stamm gut für uns sorgen können. Wir vergessen ja dabei die Bedürfnisse der Kleinen nicht, die haben da ihren sicheren Raum, sie fühlen sich wohl, sie sind emotional gut abgesichert. Sie haben damit aus Sicht der Bindungstheorie alles, was es braucht, um sich gut zu entwickeln."
Monate nach unserem Interview berichtet Nalas Mutter von der totalen Erschöpfung. Sie könne einfach nicht mehr. Und wäre auch auf einmal so ungeduldig ihrem Kind gegenüber. Und das täte ihr so leid. Dass Eltern in der Rundum-Betreuung an ihre Grenzen stoßen, ist unvermeidlich. Die Natur hat sie so auch gar nicht vorgesehen. Die Gesellschaft ist mitgedacht.
Herbert Renz-Polster: "Der Mensch wird deshalb biologisch auch als kooperativer Brüter bezeichnet. Das ist eben nicht nur Mama und Papa. Großmütter, Onkel und Tanten, der Stamm im weitesten Sinne. Aber auch die Kinder! Und da sind wir dann bei den Kitas. Natürlich brauchen Kinder für ihre Entwicklung Erfahrungen mit anderen Kindern. Die fördern sich gegenseitig, die können nur zusammen wirklich alle Dimensionen des Spiels dann spielen und die soziale Welt entdecken."
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Mädchen mit Tablet: Kinder brauchen für ihre Entwicklung Erfahrungen mit anderen Kindern.© imago stock&people

Kinder brauchen Wertschätzung

Ein sicher gebundenes Kind wird groß, mutig und geht in die Welt hinaus, übt das Sozialsein. Doch wie wird aus dem "Ich bin ich" und "Das ist meins!" ein "Du bist auch noch da" und "Ich sehe, wie es dir geht"? Wie erlernen wir Empathie?
Lisa: "Empathie kommt von alleine. Ja. Empathie-Verhalten entwickelt sich erst, ich glaube ab dem drittem Lebensjahr. Das hat was mit der Gehirnentwicklung zu tun, glaube ich. Das kommt von allein, natürlich."
Herbert Renz-Polster: "Das kommt, ja, das ist angelegt in uns, aber braucht einen Rahmen. So wie unsere Entwicklung eben immer als Menschen nur kanalisiert ist. Die ist nicht jetzt 'vorgespurt', wie 'ne Pflanze, ne Tomate aufgeht, bei uns ist es als Leitplanken angelegt, aber das braucht einen bestimmten Rahmen."
Es braucht unter anderem gute Beziehungen, sagt Herbert Renz-Polster, Beziehungen, in denen ein Kind Wertschätzung erfährt. Der Tiefen-Psychologe Arno Gruen, der 2015 gestorben ist, würde hinzufügen, Beziehungen, in denen das Kind "nicht gehorsam" sein muss. Gruen meint mit dem Wort Gehorsam das kompromisslose Artigsein: "Du bist still, wenn ich es sage, du tust, was ich verlange und zwar ohne Diskussion." Androhung von Strafen inklusive.

Die politische Dimension der frühen Kindheit

Arno Gruen: "Gehorsam meint ja, dass man das eigene Selbst nicht wirklich entwickeln kann. Dass man keine wirkliche Verantwortung für sich selbst entwickelt. Sondern dass man nur darauf bedacht ist, es dem anderen, der Gehorsam verlangt, es rechtzumachen. Das führt natürlich im Ende politisch zu all den Schwierigkeiten, die wir dauernd haben in der ganzen Welt und am Ende zu Autorität, zu Faschismus, zu Gewalt."
Arno Gruen sprach regelmäßig davon, dass die frühe Kindheit eine politische Dimension erreichen könne. Grundlage der Demokratie sei Empathie, also die Fähigkeit zum Mitfühlen, nicht der erlernte Gehorsam:
"Wir dagegen sehen Schmerz und die Fähigkeit auf Schmerz einzugehen, als Schwäche. Das ist natürlich das, was gegen das Menschliche, das mit Demokratie verbunden ist, wirkt.
Wir haben ja viele Studien. Die US-Elite-Einheiten, die in Vietnam für ihre besondere Härte und Grausamkeit bekannt waren, das waren Menschen, die in ihrer Lebensgeschichte ganz anders waren wie Kriegsdienstverweigerer in Amerika dieser Zeit. Während die Kriegsdienstverweigerer mit Eltern oder Bezugspersonen aufgewachsenen waren, die ihr Kind-Sein weitgehend akzeptierten – im Gegensatz dazu mit den 'Green Berets' war das eine ausgesprochene autoritäre Erziehung mit massiver körperlicher Gewalterfahrung. Und das waren Menschen, die Schmerz verneinten und andauernd anderen Schmerz zufügten."

Gehorsam ein Grundübel?

Wer geschlagen wurde, der schlägt später wieder – eine oft zitierte These. Und die Ereignisse der Gegenwart? Ein Jonny K. wird auf dem Berliner Alexanderplatz zusammengeschlagen, ein schlafender Obdachloser angezündet...
Bärbel Senz: "Wenn so was durch die Presse geht – du kommst nächsten Tag so und denkst: Warum ist denn das passiert? Wo ich so sage: Kinder, die bei uns waren, haben ganz andere Dinge vorgelebt bekommen oder andere Methoden gezeigt bekommen, gelehrt bekommen, einfach vorgemacht bekommen. Wo kommt das her? Also das ist für mich tatsächlich eine Frage, die ich mir nicht beantworten kann. Wo ich denke, waren die auch mal in der Kita? Das müssen sie doch in der Kita schon gelernt haben. Dass diese Form von Gewalt oder Aggression nicht die Probleme löst. Warum machen die das? Also diese Dinge frage ich mich auch. Diese Menschen sind ja weniger empathisch, sage ich mal."
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778).
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778): Arno Gruen zitierte den großen französischen Pädagogen und Philosophen.© AFP / ARCHIVES
Noch einmal zurück zu dem schlichten Wort "Gehorsam". Arno Gruen sieht hier ein Grundübel unserer heutigen Zivilisation. Denn dahinter stehe unser kognitiv-abstraktes, eigentlich entmenschlichtes Sein, bedingt durch die Entwicklung der großen Zivilisationen über Jahrtausende. Irgendwann hatte es begonnen: Jemand beherrschte jemand anderen. Und Gehorsam war dafür die Bedingung.

Gemeinsam klarkommen, um zu überleben

In einem Interview zitierte Arno Gruen den großen Pädagogen und Philosophen Jean-Jacques Rousseau:
"Er sagte: 'Geist ist eingedrungen in die Natur. Wie das Messer dringt in eines Baumes Mark. Nunmehr freilich kann die toddrohende Schneide nicht aus dem Stamme herausgezogen werden, denn der Baum würde dabei verbluten. Aber niemand darf behaupten, dass ein Schwert im Herzen der Welt-Esche das Merkmal sei für ihre Gesundheit.' So schilderte er, dass in unserer Zivilisation abstraktes Denken die Empathie verdrängt."
Herbert Renz-Polster: "Sehe ich ganz genauso. Sehe ich ganz genauso! Der Mensch, wir waren ja die allermeiste Zeit kleine Kleingruppen, die auf Gedeih und Verderb miteinander klarkommen mussten. Das war ihre Hoffnung auf Überleben, dass wir als Gruppe funktioniert haben, dass wir uns abgestimmt haben. Dass wir das Ich und das Wir immer wieder ausbalanciert haben. Selbstüberhöhung – hey, das war tödlich für die Gruppe!"
In unseren großen anonymen Massengesellschaften müssen wir das Ausbalancieren wieder üben. In ihrer Kita-Gruppe haben Justus und Tillmann den ersten Ärger nach dem mutwilligen Turm-Einstürzen verdaut, geholfen hat ihnen die Moderation durch Wolfgang, ihren Erzieher. "
Und wie kriegen wir jetzt die Laune wieder besser?
"Wenn wir uns vertragen würden...?
"Tschuldigung!"
"Tschuldigung!"
"Justus, darf ich dir helfen?"
"Ja."
"Wie ging er denn?"
"Also er ging so. Bisschen weiß ich noch. Er ging so. Nee, so..."
Bärbel Senz: "Natürlich einerseits gibt es die Möglichkeit im gemeinsamen Spiel, was eine sehr, sehr große Rolle im Tag einnimmt, aber es gibt eben auch andere Möglichkeiten, durch Kinderliteratur beispielsweise, wenn man den Kindern vorliest: Man entwickelt Empathie für den positiven Helden einer Geschichte oder man identifiziert sich mit einem Helden."

Den Druck der Leistungsgesellschaft im Rücken

Die Kinder singen in der Kita: "Da kam die böse Fee herein, Fee herein, Fee herein und sprach zu ihr..."
Sich in Empathie üben, ist das Eine. Was die Kita-Leiterin Bärbel Senz vermehrt beobachtet: Die ihren Kindern gegenüber eigentlich so achtsamen Eltern haben schon wieder die Leistungsgesellschaft im Rücken.
"Oder glauben, ihr Kind muss eben zum Ballett, zum Turnen, zum Frühenglisch, zum Chinesisch und diese Dinge alle lernen. Und diese Dinge sind gar nicht so wichtig! Gib dem Kind Zeit, Raum und viele unterschiedliche Materialien und es wird selbst entdecken können, es wird sich selbst bilden können. Es ist nicht das Frühenglisch! Und nicht die Kurse, zu denen man die Kinder schleppt!"
Die Eltern wollen nur das Beste! Das Beste?
Herbert Renz-Polster: "Und das Gegenteil passiert, wenn Kinder immer nur eine Rolle spielen. Nicht als Subjekt, sondern als Objekt, als Ziel. Als 'Ich muss dich fördern, ich muss dich schieben, ich muss dich ziehen, so wie du bist, nein, das reicht mir noch nicht, du musst der werden, der du sein sollst'. Das ist auch eine Entwertung!"
Eine Mutter stillt ihr Kind.
Ein Kind an der Mutterbrust: Maries Tochter entscheidet, wann sie gestillt werden will, auch als Zweijährige.© imago / Westend61
Marie ist mit ihrer zweijährigen Tochter von solchen Gedanken weit entfernt. Im Wesentlichen entscheidet Nala, was sie will. Übrigens auch, wann sie "nuppeln" möchte, das ist ihr Wort für "Stillen". Eine über Zweijährige noch stillen? Die ältere Generation wundert sich, erzählt Marie:
"Soll ich's begründen? Weil das Stillen für ein Kind was ganz Natürliches ist, was ganz Wichtiges ist. Nähebedürfnis wird gestillt und Hautkontakt zur Mama. Und das ist für mich so was Normales und Wichtiges, ich könnte das gar nicht anders."

Was ist das natürliche Abstillalter?

Das Abstillen hatte in der Natur immer etwas mit den nächsten Kindern zu tun, die dann den Platz an der Brust einnahmen.
Marie: "Ja, in der Natur kamen die Kinder aber auch erst dann, wenn das eine Kind vier ist, und das ist das natürliche Abstillalter von vier Jahren, dreieinhalb, so ungefähr."
Nala: "Ich will was essen! Ich will was essen!"
Marie: "So, das ist auch so ein Thema gerade... Du kannst auch sagen 'Mama ich möchte bitte was essen'?"
Nala: "Ich will was essen!"
Marie: "Und sie ist eh gerade so in der Wohnung hier wegen der Trennung. So beleuchte ich immer erstmal, was steckt dahinter."
Nala: "Mami ich will raus!"
Marie:"Und dann sag ich schon, du kannst 'bitte' sagen."
Nala:"Ich will raus!"

Verantwortlicher Umgang mit dem Wissensvorsprung

Hat die totale Orientierung am Bedürfnis des Kinders vielleicht auch ihre Grenzen? Irgendwann, im zweiten, dritten Lebensjahr? Machst du immer, was Marley möchte?
Lisa: "Nö! Ich habe ein gutes Bauchgefühl dafür bekommen, wo ich merke, okay, jetzt will ich mal was für mich machen und dann nehme ich mir die Zeit. Jetzt ist er in einem Alter, da kann man das schon gut kommunizieren."
Wolfgang, der in der Kita in Berlin Mitte als Erzieher die Spatzengruppe leitet, erzählt von Eltern, die oft ihr Stimmrecht nicht mehr wahrnehmen:
"Alles bis ins Kleinste wird dann ausdiskutiert, und wenn das Kind dann sagt 'Nein, ich will das nicht', dann wird es eben auch nicht gemacht, obwohl es in dem Augenblick vielleicht sinnvoll wäre, gerad das zu machen."
Eltern müssen verantwortlich mit ihrem Wissensvorsprung umgehen, mahnt der Kinderarzt und Buchautor Herbert Renz-Polster. Nicht unbedingt immer Chef sein, aber stark:
"Stärke heißt eigentlich Beziehungsstärke. Und das heißt, ich bin in unserer Beziehung der- oder diejenige, die dafür sorgen, dass es uns gut geht. Und uns heißt: dir, mir. Hey, ist auch wichtig! Weil: Wenn es der Mama schlecht geht, geht es über kurz oder lang auch dem Kind schlecht - und auch dem Papa und der Oma. eben allen, die zu dem System gehören. Das ist meine undelegierbare Verantwortung als Eltern.
Und dazu gehört nicht, ich muss immer das Gleiche machen, ich muss hier der Chef sein, ich muss Grenzen setzen, die immer gleich sind. Nein! Dazu gehört, dass ich das mache, was gut für uns ist. Und das heißt einmal vielleicht: Eis essen. Und einmal vielleicht: Kein Eis essen."

Plädoyer für respektvolle Beziehungen

Es bleibt tägliches Verhandlungsgeschick. Patentrezepte gibt es nicht und polemisierende Schwarzmalerei wie beispielsweise in Michael Winterhoffs Bestseller "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" helfen keiner Gesellschaft weiter. Der Kinderarzt und Buchautor Herbert Renz-Polster spricht immer wieder von den bedeutsamen, respektvollen Beziehungen, die es braucht.
Auch das weitere Umfeld stelle die Weichen - für ein gesundes Selbst und für das weitere Lernverhalten, sagt Bärbel Senz:
"Unser Ansatz ist zu schauen, dass man die Kinder stärkt! Und die positiven Dinge in den Vordergrund stellt. Also nicht defizitorientiert guckt, sondern tatsächlich auf die Stärken des Kindes, und jedes Kind hat Stärken, man muss sie nur gut beobachten und man muss sie erkennen. Ausreichend gewürdigt? Schwierig zu beantworten."
Ein schlafendes Mädchen in einem rosafarbenen Prinzessinnenkostüm, aufgenommen am 24.1.2008
Woher kommen die vielen Prinzessinnen und Prinzen?© imago / imagebroker
Wenn es nun aber am Anfang so gut läuft – warum landen dann in den Klassenzimmern auch so viele Prinzessinnen, Prinzen und Egomanen? Warum werden Lehrer nicht respektiert und Mitschüler gemobbt? Warum wird das Einordnen in eine Gruppe schier unmöglich? Warum will das eigene Ego ständig leuchten und schillern?
Herbert Renz-Polster: "Wenn Kinder mit anderen Kindern viel auch freier spielen dürfen, dann lernen die viel mehr Dinge auszuhandeln. Was macht so eine gemischtaltrige Kindergruppe? Das kleine Kind hört eher zu. Wenn das Kind in der Entwicklung weiter ist und zu den Älteren gehört, hey, dann ist es vielleicht das Kind, das gehört wird. Und ist ein Anführer und hat gute Spielideen. Beide Erfahrungen sind wichtig. Und vielleicht fehlt den Kindern heute diese gemischte Erfahrung."
Es sind die Eltern, die hier viel zu oft dazwischen grätschen. Für die Belange ihres Kindes, erklärt Renz-Polster:
"Die wollen Anführer, die wollen Sieger. Ich meine, das ist unsere auf Funktion getrimmte Gesellschaft. Die überträgt das auf die Kinder, die müssen bitte schön auch erfolgreich sein und die Toreschießer sein und die Anführer, und alles andere wird nicht gut akzeptiert."
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